3e Scène
Anmutiger Tanz der Pixel
von Ruth Renée Reif
5. November 2020
3e Scène, die digitale Plattform der Pariser Oper, zeigt seit fünf Jahren aufsehenerregende experimentelle Filmkunstwerke zum Thema Oper.
Kein einziger Mensch lebt mehr auf der Erde. Nur die Wartungsroboter der Oper verrichten Tag für Tag ihre Arbeit. Sie wechseln kaputte Glühbirnen aus, fahren mit Staubsauger und Putzwagen durch die Gänge und entfernen den Staub von den Steinbüsten der Foyers. Bei Einbruch der Nacht löscht Roboter Mikki die Lichter im Haus, nimmt im Zuschauerraum Platz und projiziert die geheimnisvollen Bilder eines Tanzes auf die Bühne. Ugo Bienvenu und Félix de Givry haben mit L’Entretien (Die Wartung) eine wunderbare poetische Vorstellung geschaffen: Was von der Menschheit bleibt, sind Erinnerungen an einen Tanz.
Entstanden ist der Kurzfilm für 3e Scène. Vor fünf Jahren hat Stéphane Lissner, der Leiter der Pariser Oper, die Plattform ins Leben gerufen. Die Idee sei es gewesen, erläutert Philippe Martin, der gegenwärtige künstlerische Leiter des Portals, die Oper zu öffnen – für Künstler, die nicht in ihrem Bereich tätig sind und für ein Publikum, das mit ihr nicht vertraut ist. Beschieden war dieser Idee ein durchschlagender Erfolg. Bereits im Gründungsjahr 2015 verzeichnete die Plattform, deren Zugang jedermann offen steht, 1,8 Millionen Zuschauer. Außergewöhnliche Beliebtheit erlangte Nephtali des Comiczeichners Glen Keane aus den Disney-Studios. Der Titel seines Films bezieht sich auf die biblische Gestalt Naftali, die von ihrem Vater Jacob mit einer Gazelle verglichen wird. Keane folgt mit seinem Stift den grazilen Tanzbewegungen der Balletteuse Marion Barbeau.
Mehrere Dutzend Filmkunstwerke liegen mittlerweile auf der Plattform, in denen Künstler aus verschiedenen Bereichen jeweils eine eigene Sicht auf die Oper wiedergeben. Ascension (Aufstieg) betitelt der Fotograf Jacob Sutton seinen Film, der in der Dunkelheit der Unterbühne des Palais Garnier beginnt. Zur sphärischen Musik Jon Hopkins tanzt ein Paar durch das Palais, erhebt sich zum üppig mit Gold beladenen Grand Foyer und steigt schließlich auf das Dach, von wo es in den Himmel zu entschwinden scheint. Es sei das romantischste Projekt, an dem er jemals gearbeitet habe, betont Sutton. Die Räume der Bastille Oper, des zweiten Standorts der Pariser Oper, erkundet der Beitrag États transitoires (Durchgangszustände) des Ill-Studios. Zu Celestial Arc von Jonathan Fitoussi bewegt sich ein Tänzer mit mechanischen Bewegungen durch die Räume, wird verdoppelt und vervielfacht, was wie in einem Kaleidoskop faszinierende Schwarz-weiß-Muster entstehen lässt, bis er auf der Hauptbühne zum Stillstand kommt.
Was die einzelnen Filmkunstwerke auszeichnet, ist ihre Einzigartigkeit und die dem Internet angepasste Ästhetik. Die meisten haben den Charakter von Clips. Komprimiert auf wenige Minuten Länge, erzählen sie eine lyrische, optisch packende und emotional ergreifende Geschichte. Dabei finden raffinierte neue Techniken Anwendung. Der Digitalkünstler Hugo Arcier etwa verwendet für seinen Film dreidimensionale Computergrafiken. Inspiriert von dem Epos Von der Natur der Dinge des römischen Dichters Lukrez, das die Welt der Atome und deren Bewegungen schildert, lenkt er den Blick in den Weltraum. Im Rhythmus von Trommelschlägen bewegen sich die Atome. Clinamen bezeichnet jene Abweichung, mit der Lukrez das Element des Zufalls einbezieht. Nach und nach lassen sich drei Tänzer ahnen. Zur Musik von Xavier Thiry tanzen sie durchs Opernhaus, das Arcier in immer neuen Verwandlungen zeigt.
Auf die Corona-Pandemie nimmt der Fotograf und Filmregisseur Antoine d’Agata in seinem Beitrag La vie nue (Das nackte Leben) Bezug. Fotos, die er während des Lockdowns an verschiedenen Orten der Stadt aufgenommen hat, verfremdet und arrangiert er zu einem halluzinatorischen Horrortrip. Unerbittlich und immer schneller wechseln die Bilder, bis man vermeint, einen verstörenden Film ablaufen zu sehen.
Die Plattform 3e Scène der Pariser Oper: www.operadeparis.fr/3e-scene
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