KlassikWoche_RGB_2020-09

Die neue Zeit hat längst begonnen

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit einer neuen Kritik alter Gedanken, einem Ausflug nach Israel und einer Debatte über die Zukunft der Orchester – und ihren Fachkräftemangel.

OLD SCHOOL – OLD PEOPLE – OLD THOUGHTS

Als der Intendant des Beethovenfestes Bonn, Steven Walter, das Logo des Deutschen Orchestertages sah, zwei Pinguine (davon einer mit roter Krawatte), fragte er, was in „solchen Brainstorms eigentlich falsch läuft“. Ein Gefühl, das ich diese Woche gleich mehrfach hatte. Das erste Mal, als ich das Foto der Opernkonferenz gesehen habe: ein Haufen rund 50-jähriger Menschen, die einander so ähnlich sahen, als würden sie sich jeden Morgen die gleiche Marmelade aufs Brot schmieren.
Einige Tage später veröffentlichte die Wiener Staatsoper ein Instagram-Video, auf dem die Schlange am ersten Abo-Verkaufstag zu sehen war: eine überschaubare Reihe 70-jähriger SandalenträgerInnen, und dann machte noch eine Einladung des Konzerthauses Düsseldorf (in einer vorigen Version haben wir irrtümlich Dortmund geschrieben) die Runde auf Twitter: „Konzerte, die die Glücksscharniere geschmeidig einrasten lassen“, war auf dem Umschlag zu lesen, und im Folder „Beethoven ist ein Schutzengel unserer Bürgerlichkeit“. Liebe Leute im Klassik-Marketing: Könnte es sein, dass all das ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es immer schwerer wird, die Theater zu füllen? 
Selbst Tenor Jonas Kaufmann erklärte in einer australischen Zeitung gerade: „In Europa kämpfen sogar die größten Häuser, die Wiener Staatsoper, München oder Berlin, sie verkaufen keine Tickets mehr, spielen vor leeren Sälen – das kann nicht mehr lange gut gehen.“ Ja, genau! Könnte natürlich auch daran liegen, dass man mit Weihnachtsalben wie aus den 50er-Jahren selbst längst jeden Standard an Qualität aufgehoben hat. Wie auch immer: Es ist erschreckend, mit welcher Vehemenz und Ignoranz ausgerechnet die alte graue Garde von (Ex)-Intendanten und Journalisten-Opis ihr altes, graues System verteidigt, in dem sich – bitteschön - nichts verändern soll (vor allen Dingen nicht ihre Macht!). In Wahrheit verändert sich längst so viel so radikal, und wer jetzt keinen Aufbruch wagt und einfach weitermacht, sieht schon heute schrecklich alt aus.
Spannend auch die aktuelle Forschung von Kultursoziologe Martin Tröndle. „Er zeigt, dass Nähe der entscheidende Faktor für den Besuch einer Kultureinrichtung ist“, schreibt die FAZ, „sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn: sei es die Nähe zur eigenen Lebensrealität, die Nähe zur Bühne mit der Unmittelbarkeit des Live-Erlebens oder die Nähe zu vertrauten Personen. Nur an anderen Orten!“ Ich habe übrigens auf meinem Instagram-Kanal eine kleine Umfrage gemacht, welches Orchester und welches Opernhaus die beste Saison vorgestellt hat: Das Ergebnis sehen Sie oben. Aus gegebenem Anlass: Schicken Sie uns doch mal Bilder, in denen Klassik anders aussieht – um zu beweisen: Die Musik geht längst weiter.

DAS EWIGE TABU: WAGNER IN ISRAEL

Anfang der 2000er-Jahre hat Daniel Barenboim das Tabu zum ersten Mal gebrochen und in Jerusalem Wagner dirigiert – unter großem Tumult. Noch 2018 entschuldigte sich der Israelische Rundfunk für die Übertragung der „Götterdämmerung“. Nun will der Wagner-Verband in Israel ein ganzes Wagner-Konzert geben und sorgt erneut für Protest. Das sei „ein Schlag gegen die soziale Verantwortung", sagt Israels Kulturminister Yehiel Moshe Tropper.
Der Vorsitzende des israelischen Richard-Wagner-Verbandes, Jonathan Livny, weist diese Kritik allerdings entschlossen zurück. „Die Erfüllung des Rechts vieler guter Menschen, einschließlich der Überlebenden des Holocaust, sollte nicht im Namen der Sensibilität gegenüber den Überlebenden des Holocaust verhindert werden." Es werde niemand gezwungen, Wagner zu hören, so Livny. Ich kenne Jonathan Livny von den Drehs zu unserem Wagner-Film „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ (gerade auf DVD erschienen) – und ich finde seine Argumentation (siehe im Film oben) sehr schlüssig, er will sich nicht von Hitlers Geschmack verbieten lassen, welche Musik er hören will.

KLASSIK UND KRIEG

Erst einmal las es sich wie eine reine Privatsache: Der Spiegel hatte herausgefunden, dass der Ex-Direktor des Bayerischen Staatsballetts, Igor Zelensky, der Geliebte von Wladimir Putins Tochter Katerina Tichonowa sein soll – und dass die beiden ein gemeinsames Kind haben. Was diese Affäre so politisch macht, erklärt der Bayerische Rundfunk: „Politisch brisant ist die Angelegenheit nicht nur wegen der offenkundig unmittelbaren familiären Nähe Zelenskys zu Putin, sondern auch, weil der Choreograf und frühere Star-Tänzer seit 2018 im Aufsichtsrat einer Stiftung sitzt, die sich auf Putins persönliche Anweisung mit Öleinnahmen finanziert und in Russland eine Reihe von kulturellen Großprojekten errichten soll.“ Tatsächlich scheint Putins privater Kreis besonders aktiv in der Kulturpolitik zu sein. Welche Rolle die angebliche Geliebte des Russischen Präsidenten, Alina Kabajewa, für Teodor Currentzis und dessen Ensemble musicAeterna spielt, wird kommenden Donnerstag im Cicero stehen.
Wer Zweifel hat, wie wichtig Kultur in Russland als Mittel der Propaganda ist, sollte sich die russische Satiresendung von Wladimir Kuznetsow und Alexei Stolyarow ansehen. Sie gaben sich gegenüber Münchens Intendant Serge Dorny als „ukrainischer Kulturminister“ aus und wollten sich über den aktuellen Stand der „Abschaffung der russischen Kultur“ erkundigen. Dornys Antwort war wenig überraschend und geprägt von innerer Haltung: „Trotz der Tatsache, dass er mein sehr guter Freund ist, habe ich Valery Gergiev rausgeworfen. Und das, obwohl wir uns seit 35 Jahren kennen. Ich trennte mich auch von Anna Netrebko und einem Ballettdirektor, der dem Regime sehr nahe steht. Menschen sollten unterschiedlich eingeschätzt werden. Solche Künstler möchte ich nicht bei uns sehen.“ Das erzürnte das russische Publikum natürlich, wahrscheinlich auch deshalb, weil dort im Fernsehen eben nicht darüber berichtet wird, dass das eigene Land gerade einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und KünstlerInnen als hochbezahlte Propagandisten Wladimir Putins benutzt werden.

ZUKUNFT DER KNABENCHÖRE

Thomanerchor Leipzig
Hier noch ein Lesetipp: Christian Schmidt setzt sich im Tagesspiegel mit der Zukunft und dem Veränderungswillen deutscher Knabenchöre auseinander und kommt zum Ergebnis: „Denn die Kulturfinanzierung wird sich in diesen Tagen noch stärker an der Relevanz der jeweiligen Ensembles ausrichten müssen. In Leipzig ist der städtische Kulturhaushalt, aus dem sich die Thomaner speisen, noch stabil. Deckungsgleich funktioniert die Finanzierung in Dresden, wo anlässlich Lehmanns Amtsantritt die Korrektur einer existenzgefährdenden Sachmittelkürzung verhandelt werden konnte. Als Anstalt des öffentlichen Rechts wird auch der Windsbacher Knabenchor teilweise mit öffentlichen, vornehmlich aber mit landeskirchlichen Mitteln finanziert. Wie lange all diese Systeme jedoch gesellschaftlich legitimiert bleiben, entscheidet letztlich die Strahlkraft der jungen Sänger mit.

PERSONALIEN DER WOCHE

Im Merkur spekuliert nun auch Kollege Markus Thiel über die Nachfolge von Valery Gergiev bei den Münchner Philharmonikern. Die Phalanx seiner Tipps: Klaus Mäkelä, Krzysztof Urbański, Daniele Gatti, Tugan Sokhiev – ich würde nach wie vor (und an erste Stelle) Daniel Harding setzen. +++ Das Klavier-Festival Ruhr bekommt eine neue Inten­dantin: Die Musik- und Kultur­wis­sen­schaft­lerin Katrin Zagrosek über­nimmt den Posten 2024. +++ Der 25-jährige britische Pianist Martin James Bartlett ist erster Preisträger des neugeschaffenen und mit 50.000 Franken dotierten Solothurner Klavierpreises „Prix Serdang". Ausgewählt werden die Ausgezeichneten vom Pianisten Rudolf Buchbinder. +++ Was machen SängerInnen eigentlich nach ihrer Karriere. Manuel Brug hat einen lesenswerten Artikel über Philippe Jarousskys neue Karriere als Dirigent verfasst.

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier: Die deutschen Orchester befinden sich im Wandel. Vor einigen Wochen hatte ich an dieser Stelle bereits berichtet, dass Vladimir Jurowski ein grundlegendes Neudenken gefordert hat. Nun habe ich einen weiteren Podcast zum Thema „Zukunftsmusik“ gemacht (hier zum kostenlosen Podcast für alle Player). Wie sehen die Orchester der Zukunft aus? Mehr Verantwortung für alle? Näher am Publikum? Lokaler und ärmer, dafür aber bedeutsamer und inspirierter? Ich diskutiere mit Anselm Rose von der Rundfunk Orchester und Chöre GmbH Berlin (er beklagt den Fachkräftemangel und bittet auch die Kulturpolitik, gemeinsam mit den Orchestern bessere Rahmenbedingungen zu schaffen), mit Christine Christians vom Saarländischen Staatstheater (sie will die alten Macht-Strukturen innerhalb der Orchester neu denken) und mit Steven Walter, dem Intendanten des Beethovenfestes in Bonn, der gerade versucht, den Geist freier Institutionen mit den klassischen Abläufen großer Festivals zu synchronisieren.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

P.S.: Dies ist eine persönliche Nachricht an Opi von der Zeitschrift NEWS: Keine Angst, nächste Woche kommt dann wieder etwas, über das Du Dich aufregen kannst – dann aber richtig!

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