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Kommen Sie doch näher!
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Willkommen in der neuen KlassikWoche,
lassen Sie uns am Ende dieses Newsletters ein bisschen näherkommen – denn Nähe brauchen wir doch alle! Vorher aber tauschen wir noch mal nötige Argumente aus für ein Koordinatensystem der Musik. Und wenn Sie nur wenig Zeit haben (oder keine Lust mehr auf das Thema Klassik und Krieg haben), dann ist es okay, wenn Sie sich beim Deutschlandfunk die Rede von Lukas Bärfuss über Geld, Kunst und Freiheit anhören – ein Handbuch für Zeiten des Wandels, der in der Kultur beginnen muss: Nein, bei uns! Das einfache Motto: Sei frei, until you die!
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Zoff um Alexander Pereira
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Restaurantbesuche auf Ibiza, 3.800 Euro für ein Berliner Auktionshaus, Rechnungen bei Fischhändlern, Metzgern und in Bäckereien, Ex-Salzburg-Chef und derzeitiger Intendant des Maggio Musicale in Florenz, Alexander Pereira, steht unter Beschuss. Im Jahr 2021 habe der Intendant mit der Kreditkarte seines Theaters 60.000 Euro ausgegeben, allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres seien es 14.000 Euro gewesen – das berichtet die Tageszeitung La Repubblica.
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Die Vorwürfe kommen ursprünglich von der italienischen Rechtspartei Fratelli d’Italia, doch nun wollen auch die Gewerkschaften des Theaters Transparenz. Der Bürgermeister von Florenz, Dario Nardella, erklärte, er werde Pereiras Rechnungen überprüfen. „Ich werde den Intendanten bitten, mir die Belege vorzuweisen, wie wir es immer getan haben“, sagte Nardella. Ja, auch dieses Großgrundbesitzer-Gebaren gehört wohl zur alten Klassik-Welt, die gerade staunend ihren eigenen Untergang beobachtet.
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Fragen an unser Koordinatensystem I
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Die Lage ist angespannt, der Ton unversöhnlich, und – es ist verständlich – der Krieg in der Ukraine macht mürbe. „Gebt Russland einfach die Krim“, fordern schon einige und reden von „Annäherung und Wahrung des Status quo“, wollen „Zugeständnisse an Putin“. Der Krieg scheint wieder ferner zu rücken, viele in Westeuropa wollen einfach ihr altes Leben zurück, und, ja, „kann nicht die Klassik, bitte auch sein, wie sie immer war?“ Es ist schwer, das Thema „Krieg und Klassik“ weiter zu beleuchten, das stört, das nervt – das tut vielleicht auch weh. Aber auch auf Grund eines großen Textes im aktuellen Cicero (Bezahlartikel, der hier als Twitter-Thread zusammengefasst ist), in dem ich sämtliche Fakten zur Russland-Abhängigkeit von Teodor Currentzis und musicAeterna recherchiert habe, noch einmal der Versuch, die Dinge ohne Schaum vor dem Mund zu ordnen.
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Was mich persönlich wundert, ist, dass Fakten offensichtlich keine Rolle mehr spielen oder grundlegend unterschiedlich bewertet werden. Im Falle Currentzis jene, dass der Vorstand von musicAeterna mit Wladimir Putins besten Freunden besetzt ist, dass Geld von der VTB Bank kommt, dass das Haus, in dem musicAeterna seit 2020 in St. Petersburg beheimatet ist (das alte Radiohaus), einer Holding gehört, in der Putins Geliebte, Alina Kabajewa, Vorsitzende ist, dass Currentzis 2020 mit dem Umzug in Putins Kosmos nach St. Petersburg seine alte, regimekritische Rolle vollkommen aufgegeben hat, dass Intendanten wie Markus Hinterhäuser vor einigen Wochen noch sagten, sie warten auf eine Erklärung von Currentzis - und dass der beharrlich schweigt. Mehr noch: Er geht mit seinem Orchester auf Russland-Tournee – gesponsort von Gazprom. Inklusive Fototermin vor der Ewigen Flamme von Wolgograd, die Gazprom kostenlos für die Gefallenen der Russischen Armee mit Gas beliefert. Das Argument, Currentzis wolle „seine“ MusikerInnen schützen, dürfte kaum noch ziehen, denn der Großteil von musicAeterna ist ein Telefonbuchorchester. All diese Abhängigkeiten scheinen weder den Intendanten der Elbphilharmonie, des Konzerthauses in Dortmund oder des SWR-Orchesters zu interessieren (und: Ja, auch einem Großteil des Publikums scheinen sie egal zu sein). DAS ist, was mich verwundert: Die Frage, ob es okay ist, weiter mit Currentzis Geld zu verdienen, scheint gar nicht gestellt zu werden. In anderen Genres wäre das kaum vorstellbar. Der Spiegel etwa hat gerade berichtet, dass die bekannteste russische Vertreterin der internationalen Technoszene, Nina Kraviz, in vielen westlichen Clubs nicht mehr auflegen darf, da sie sich nur wolkig zum Krieg in der Ukraine äußert. Und auch in der Bildenden Kunst wird derzeit sehr genau hingeschaut, wer in welche Werke und Ausstellungen investiert (und die Geldgeber der Salzburger Festspiele sind hier längst nicht mehr willkommen). Doch in der Klassik schaut man lieber weg, und zum Teil werden jene, die hinschauen, als Nestbeschmutzer diskreditiert. Ist DAS wirklich die Klassik-Welt, die wir alle wollen?
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Fragen an unser Koordinatensystem II
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Und, ja, auch Anna Netrebko ist wieder aufgetreten: Paris, Mailand – bald Verona. In der Zeitung Le Monde hatte sie erklärt, sie habe Putin nicht gewählt, hätte eine russische Seele, das Geld an den Donbas - sie wollte nur der Oper helfen, habe den Betrag an den Falschen überwiesen, sei keine Nutznießerin des Systems Putin, und überhaupt, dass MET-Intendant Peter Gelb so streng mit ihr sei, das verstehe sie nicht… und und und …. Auch hier geht es einfach nur darum, wie wir unser Koordinatensystem einrichten. Im Falle Netrebko würde ich eine andere Frage als bei Currentzis (der sich nie erklärt hat) stellen, nämlich: Wenn jemand jahrzehntelang vom System Putin profitiert hat und es durch seine öffentlichen Auftritte auch gestützt hat – ab wann nimmt man ihm die Distanzierung ab?
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Netrebko hat für meinen Geschmack einfach zu lange herumgeeiert, sich selber und ihre Karriere über die Not der Menschen in der Ukraine gestellt, und ich nehme ihr auch die aktuelle Argumentation nicht ab, lese zwischen den Zeilen zu viel „Ich bin doch so unpolitisch und will endlich wieder singen“, vermisse die Selbstkritik ihrer alten Statements. Aber, hey – sie singt, und das ist legitim… Dass ausgerechnet Scala-Intendant Dominique Meyer, einer der wohl uninspiriertesten Strippenzieher der Opernwelt, nun erklärt, er hoffe, dass Netrebkos Auftritt bei ihm Signalwirkung für andere Häuser habe, ist für mich nur ein weiteres Zeichen, dass ich derzeit keine Lust auf diese Art von Oper habe und auch nicht auf ein Konzert mit Anna Netrebko. Aber ich muss da ja auch nicht hin…
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Fragen an unser Koordinatensystem III
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Und dann sind da noch die Fragen: Sollen junge, russische MusikerInnen zu europäischen Wettbewerben eingeladen werden? (Natürlich!) Soll man in dieser Zeit Tschaikowsky spielen? (Logo!) Und soll man es thematisieren, dass es kulturelle Kreise in der Ukraine gibt, die genau das alles nicht wollen? (Na klar!) Wie schwer es ist, zwischen den Koordinaten zu tanzen, ist gerade an der Dirigentin Oksana Lyniv zu sehen, die auf der einen Seite für ihr Land, die Ukraine, kämpft, gleichzeitig aber auch – zu Recht – für Peter Tschaikowsky. „Wir müssen doch professionell bleiben!“, sagt Lyniv der nmz. „Ich denke an die ukrainischen Künstler, die in Paris oder in Zürich studieren. Natürlich müssen sie weiter Strawinsky dirigieren, es gibt keinen Dirigierwettbewerb der Welt ohne dessen Werke. Ich glaube auch nicht, dass es der ukrainischen Kultur gut tun wird, wenn unsere jungen Künstler jetzt an der eigenen Entwicklung gehindert werden. Und außerdem: Das einzige Strawinsky-Museum der Welt ist in der Ukraine, in Ustyluh, sein Vater war Ukrainer. Er hat dort ‚Le sacre du printemps‘ komponiert – und jetzt ist seine Musik für uns praktisch verboten, obwohl sie auch schon im Zweiten Weltkrieg als ‚Entartete Musik‘ und zu Stalins Zeit wegen des Formalismus verboten war.“
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Meine kleine Zusammenfassung: Es ist höchste Zeit, gemeinsam ein klares Koordinatensystem zu erarbeiten. Es geht nicht darum, zu richten, sondern einzuordnen, sich zu verständigen, was für eine Klassik-Welt wir wollen. Mein Vorschlag wäre es, dass gerade die Kunst natürlich ein Ort der Gemeinsamkeit sein muss, der zu (auch unmöglichen) Begegnungen einlädt. Dafür aber ist es wichtig, jene MusikerInnen genau zu befragen, die sich gemein mit dem System Putin gemacht haben, von ihm profitieren und indifferent bleiben. Sie gefährden die Kultur als Territorium des Austausches und der Begegnung. Und ich wundere mich, warum so viele KünstlerInnen zwar die Fahnen der Ukraine in ihren Social-Media-Profilen haben, Benefiz-Veranstaltungen organisieren, es aber nicht schaffen, den Betrieb, seine Verantwortlichen und Veranstalter in die Pflicht zu nehmen – wenn das aus Angst geschieht, eigene Engagements zu verlieren, dann haben wir tatsächlich ein Problem mit unserem Klassik-Koordinatensystem.
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Personalien der Woche
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Newsletter-LeserInnen wissen mehr. Es war am 20. September 2021, als wir an dieser Stelle gemeldet haben, dass wohl der Finne Klaus Mäkelä neuer Chefdirigent des Concertgebouworkests werden wird. Es folgte keine Bestätigung, aber auch kein Dementi. Nun hat das Orchester angekündigt, die Vertragstinte sei trocken, am 10. Juni wolle man den Neuen vorstellen – und aus den Reihen des Orchesters hört man es – ebenso wie in niederländischen Zeitungen – überall „Mäkelä“ flüstern. +++ Tenor Roberto Alagna hat keine Lust auf eine katholikenkritische Tosca-Inszenierung am Gran Teatre del Liceu in Barcelona und hat via Twitter erklärt, dass er und seine Lebensgefährtin Aleksandra Kurzak ihre Mitwirkung in Rafael R. Villalobos’ Interpretation zurückgezogen haben. +++ Augsburgs Intendant André Bücker platzte auf Facebook der Kragen. Auch fünf Jahre nach Amtsantritt ist das Ende der Theatersanierung nicht absehbar. Bei Facebook zitierte er das Motto seiner neuen Spielzeit 2022/23 „Aufbruch!“ – und schrieb: „Diesen Aufbruch vollziehen wir schon seit einigen Jahren (…) wir entdecken neue künstlerische Ausdrucksformen in allen Sparten, erforschen digitale Welten und öffnen uns in den Stadtraum hinein mit partizipativen Formaten.“ Und dann fragte er: „Doch wie sieht es mit dem Aufbruch am sanierungsbedürftigen, seit langem geschlossenen Großen Haus aus? (…) Wann öffnet endlich das lang ersehnte Kleine Haus, das der gesamten Stadtgesellschaft offen stehen soll, seine Pforten? Wie man auf den Fotos von letzter Woche sehen kann, sieht es so aus, als täte sich nicht allzu viel.“ +++ Einer der bestgehassten US-Konzertmeister-Jobs wurde neu besetzt: David Radzynski vom Israel Philharmonic Orchestra wird Nachfolger der 2018 gefeuerten ersten Geige des Cleveland Orchestras, William Preucil.
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Warme Worte reichen nicht
Wider das Vergessen: Die Querflötistin und Ikone des weißrussischen Widerstandes, die Musikerin Maria Kalesnikava, die von einem Minsker Gericht zu elf Jahren Gefängnis wegen angeblicher „Verschwörung mit dem Ziel der illegalen Machtergreifung“ und „Gründung und Führung einer extremistischen Vereinigung“ verurteilt wurde, bekam letzte Woche den Karlspreis in Abwesenheit verliehen. Gut so, denn gerade in Zeiten des Ukraine-Krieges tendieren wir, ihre Geschichte zu vergessen. Dabei zeigt sie, wie wichtig es ist, frühzeitig hinzusehen, und wie viel Mut es braucht, gegen den Wind Missstände aufzuzeigen. „Warme Worte reichen nicht“, hieß es mit Blick auf Deutschlands Haltung im Ukraine-Krieg von den anderen beiden Geehrten, Swetlana Tichanowskaja und Veronika Tsepkalo. Im VAN-Magazin hat ihre ehemalige Kollegin vom ECLAT-Festival, Christine Fischer, Kalesnikavas Mut beschrieben: „Sie wollte nicht die Edelwiderständlerin sein, die hinterher in ihren sicheren Job nach Stuttgart zurückkehrt.“
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Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
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Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Vielleicht hier: Ist das Kulturpublikum mehr als nur Zählmasse? Nach Corona zeigt sich: Einrichtungen, die ihr Publikum kennen, haben weniger Probleme als Kulturveranstalter, für die ZuschauerInnen eine quantitative Größe sind. Aber wie schafft man Nähe zum Publikum? Was verbindet eine Pizzeria mit einem Theater? Und von welchen Beispielen können wir lernen. Ich debattiere das in meinem Podcast „Alles klar, Klassik?“ (hier die Sendung für alle Player) mit meinen Gästen: PR-Agentin Simone Dollmann (PS Music) sagt, „wir müssen die Nähe neu entdecken“, Professor Dr. Martin Zierold von der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg fragt, warum MusikerInnen ihrem Publikum nicht mal eine handschriftliche Karte schreiben und Stefan Englert, der das Bürgerorchester des Gürzenich Orchesters in Köln betreut, weiß, wie wichtig Nähe zum Publikum ist – er macht Musik mit ihm. Ach ja: Der Wandel ist längst in der Klassik angekommen. Das zeigt – auch das etwas Positives – das Gespräch, das der RBB gerade über die Klimakonzerte des „Orchesters des Wandels“ geführt hat – mit dem Gründer, dem Hornisten Markus Bruggaier.
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In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
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Wir versenden keine Spam-Mails und verkaufen keine Email-Adressen. Versprochen!
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