KlassikWoche_RGB_2020-09

Wer dirigiert die Staatsoper? Und: Geheimnis Musikinstrument

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit einem Blick auf das Dirigenten-Karussell, einem Ausblick in die Zukunft der Klassik – und der Einladung, mich bei meinem Besuch in einer modernen Geigenbauwerkstatt per Podcast zu begleiten.

Neues vom Dirigenten-Karussell

Agenturen verpflichten, wie Norman Lebrecht beobachtet, derzeit besonders gern junge Frauen: HarrisonParrott die schwedische Dirigentin Sofi Jeannin, KD Schmid die litauische Dirigentin und Paavo-Järvi-Assistentin Izabelė Jankauskaitė. Aber wenn am Ende Personal-Entscheidungen getroffen werden, gewinnen noch immer die Männer. Gerade wurde Gustavo Dudamel zum designierten Chef des New York Philharmonic ernannt – nicht etwa eine Susanna Mälkki, die ebenfalls im Gespräch war.
Während es oft heißt, die junge Frauen-Generation sei noch nicht so weit, hat ein Orchester wie das Concertgebouworkest in Amsterdam kein Problem damit, einen Jungspund (vollkommen ohne Opern-Erfahrung) wie Klaus Mäkelä zu benennen, und der hat sich per Twitter gerade auch noch mit einem Lob für das Cleveland-Orchestra als Nachfolger von Franz Welser-Möst ins Spiel gebracht.
Tja, und wie geht es weiter an der Staatsoper in Berlin? Nach wie vor scheint gerade in der Opern-Szene und bei großen Teilen des Publikums Christian Thielemann auf der Favoriten-Liste als Nachfolger von Daniel Barenboim zu stehen. In einer unrepräsentativen Umfrage auf meiner Instagram-Seite stimmten 64 Prozent für ihn. 18 Prozent glauben, dass Antonio Pappano nach Berlin wechseln könnte (allerdings schrieb mir ein Leser zu Recht, dass Pappano eher ein Stagione-Haus leiten würde und keine Repertoire-Bühne). Zwölf Prozent stimmten für die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv, nur fünf Prozent für einen Namen, den Frederik Hanssen vom Tagesspiegel ins Spiel brachte – und den auch ich sehr spannend fände: Tugan Sokhiev, der das Bolschoi-Theater gleich nach Kriegsausbruch verlassen hatte und unter anderen bei den Berliner Philharmonikern vortreffliche Konzerte gegeben hat. Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders! Aus Kreisen der Staatsoper selber hört man ganz andere Namen: Sir Simon Rattle soll angeblich ein heißer Kandidat sein, ebenso wie der Italiener Daniele Rustioni und Robin Ticciati, der sich in Berlin bereits bestens eingelebt hat. Mit anderen Worten: alles offen!

Wie es war, wie es wird mit der Klassik

Eine Studie aus Österreich zeigt, dass nur 50 Prozent der Bevölkerung überhaupt öffentliche Kulturangebote nutzen. Besonders zögerlich sind Jugendliche – und die Klassik scheint nach der Corona-Krise am schlechtesten auf die Beine zu kommen. Der Kulturwissenschaftler Thomas Renz vom Berliner Institut für Kulturelle Teilhabeforschung sagt, dass wir es derzeit verpassen, eine Debatte über ein potenzielles Überangebot in der Kultur zu führen. „Es galt und gilt die Devise: Kulturförderung ist per se gut.“ Die Frage, ob ein bestimmtes Angebot vielleicht überdimensioniert oder gesellschaftlich nicht mehr relevant genug ist, werde nicht gestellt. Dabei solle man ohne Scheuklappen diskutieren, welche kulturellen Orte sich die Gesellschaft weiter leisten will und welche nicht.
Tatsächlich scheinen etablierte Klassik-Institutionen wie die Konzertdirektion Hans Adler den Wandel auch weiterhin lieber kleinzureden: Agentur-Chefin Jutta Adler versucht zwar irgendwelche neuen Formate, verkauft Hype-Künstler wie Teodor Currentzis (intransparent und ohne auf kritische Medienanfragen zum aktuellen Zeitgeschehen zu antworten) und erklärt nun in einem Porträt für die Berliner Morgenpost, dass es schon immer Krisen gegeben habe und das Publikum mittleren Altes seit jeher schwach in der Klassik vertreten gewesen sei – und überhaupt: Es gäbe kaum neue Probleme! Ich persönlich bin sicher, dass eine derartige Augen-Zu-und-Durch-Haltung Teil der Unattraktivität der Klassik in der Öffentlichkeit (und besonders bei jungen Menschen) ist. In einer Befragung der Deutschen Musik- und Orchestervereinigung unisono heißt es, dass zwischen Dezember 2022 und Januar 2023 bei knapp 60 Prozent der Orchester die Aufführungen im Durchschnitt schlechter besucht seien als zuvor, 40 Prozent beobachteten eine in etwa gleich gute Auslastung, fünf Orchester berichteten sogar von einer besseren Auslastung. Jeder positive Trend ist gut für die Klassik – sicher aber ist auch: Wir befinden uns in der spannenden Zeit des Wandels. Und Experimente und Mut sind gerade heute besonders wichtig.

In Hannover ist die (Hunde)Kacke am Dampfen

Hannovers Ballettdirektor Marco Goecke hat in der Premieren-Pause von Glaube – Liebe – Hoffnung offensichtlich FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster mit Hundekot beworfen. Hüsters hatte Goecke zuvor für seine Inszenierung In the Dutch Mountain beim Nederlands Dans Theater in Den Haag kritisiert: „Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach mehr verlangen." Nach Angaben der FAZ habe Goecke Hüster zunächst beschimpft, sie für die Abo-Kündigungen in Hannover verantwortlich gemacht, mit Hausverbot gedroht und ihr schließlich aus einer Tüte Tierkot ins Gesicht geschmiert. Strafanzeige sei umgehend erstattet worden.
Die FAZ wertet den Vorfall als Einschüchterungsversuch und Angriff auf die freie Kritik. Hannovers Intendantin Laura Berman reagierte mit einem Statement: „Wir haben unmittelbar nach dem Vorfall den Kontakt zu der Journalistin gesucht und uns persönlich bei ihr und auch öffentlich entschuldigt. Wir werden die arbeitsrechtlichen Schritte gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen.“ Man kann derartige „Scheiß-Aktionen“ als etwas anderes Lob der Kritik verstehen, aber auch als Anachronismus. 1923 wäre ein derartiger Vorfall ein echter Skandal: Heute ist er nur peinlich für einen Künstler, der seine Arbeit in der Öffentlichkeit zur Debatte stellt und öffentliche Kritik offensichtlich nicht abkann.

Opernsänger hilft Bayern-Spieler

Rechtzeitig zum Achtelfinal-Hinspiel der Champions League bei Frankreichs Meister Paris Saint-Germain hat sich Bayern-Abwehrchef Dayot Upamecano nach Adduktorenproblemen wieder fit gemeldet. Auch seine Probleme, auf dem Platz wieder laut sprechen zu können, seien behoben worden.
„Nach Spielen hatte ich oft Halsweh, war heiser“, sagte er der dpa, „mit einem Opernsänger habe ich jetzt meine Stimmbänder verbessert. Wir haben gesungen, er hat mir Übungen beigebracht. Nun kann ich auf dem Platz wieder laut rufen.“ 

Machtkampf in Salzburg spitzt sich zu

Nun hat auch die Zeitung Der Standard in Österreich den Machkampf in Salzburg aufgegriffen. Am 28. Februar ist eine Kuratoriumssitzung angesetzt, auf der es hoch hergehen dürfte. Wird da wirklich nur die Frage auf dem Programm stehen, Festspiel-Präsidentin Kristina Hammer zu entmachten und Intendant Markus Hinterhäuser mehr Macht zu geben? Oder wird auch grundlegend debattiert, wie es nach Hinterhäuser in Salzburg weitergehen soll? Eigentlich müsste diesen Sommer über seine Nachfolge entschieden werden. Hinterhäusers künstlerische Bilanz ist auf jeden Fall bescheiden, seine Innovationkraft scheint erschöpft: die ewig gleichen Namen ohne Aufregungs-Potenzial, das beharrliche Festhalten an Künstlerinnen und Künstlern aus dem Gestern. Dazu ein internationaler Imagaeschaden der Festspiele durch seine unambitionierte Aufarbeitung der Russland-Beziehungen und seinen weitgehend ignoranten Umgang mit musicAeterna und Teodor Currentzis.
Landeshauptmann Wilfried Haslauer dürfte es darum gehen, bis zur Landtagswahl Ruhe zu haben. Danach wird es wohl zum Salzburger Showdown kommen. Eine öffentliche Demontage, wie Hammer sie in den letzten Wochen hinnehmen musste (und wie sie symptomatisch für Hinterhäusers Nicht-Loyalität ist), wird niemand auf sich sitzen lassen. Freuen wir uns auf den dritten Akt dieses unwürdigen Festspiel-Spektakels.

Was von letzter Woche übrig blieb

Es ist großartig, dass dieser Newsletter inzwischen eine eigene Community geschaffen hat – und immer wieder Debatten nach sich zieht. Letzte Woche habe ich an dieser Stelle über die Diskussionen um den Auftritt von Anna Netrebko in Wiesbaden geschrieben und über die Finanzierung von Teodor Currentzis Utopia-Orchester. Martin Kienzl hat die Netrebko-Debatte nun nochmal ausführlich für Opern News aufgedröselt: Lese-Empfehlung. Außerdem gab es viele Reaktionen auf unseren Bildungs-Podcast, in dem es um die Probleme beim Nachwuchs von MusiklehrerInnen ging. Ich habe das Thema noch einmal für den SWR zusammengefasst.

Personalien der Woche

In Mailand stehen drei GesangslehrerInnen unter Korruptions-Verdacht. Es geht um unerlaubte Geld-Annahme von chinesischen StudentInnen, um deren Karrieren zu beflügeln. Bei Hausdurchsuchungen wurden 110.000 Euro in Bargeld gefunden. +++ Der italienische Dirigent Riccardo Muti setzt sich für die Rettung der Villa des Komponisten Giuseppe Verdi in Piacenza ein. So werden die Einnahmen eines Konzerts seines Jugendorchesters Cherubini dem Erwerb der Villa Verdi im norditalienischen SantAgata durch den italienischen Staat dienen. +++ Scala-Intendant Dominique Meyer hat einen TV- und On-Demand-Kanal gestartet, auf dem Opernliebhaber Live-Aufführungen aus dem Mailänder Operntempel sehen können. +++ Im aktuellen Podcast des BRSO von Anne Schoenholtz hat die Geigerin Anne-Sophie Mutter scharf die bayerische Staatsregierung in Sachen Konzerthaus-Neubau in München kritisiert. So warf sie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder Wortbruch vor. Mutter im O-Ton: „Bayern ist ja kein armes Bundesland. Und es ist wirklich bitter zu sehen, dass man im Ausland von der Elbphilharmonie schwärmt. Denn so viel neue, auch architektonisch aufregende Säle, hat Deutschland nicht zu bieten.“

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? (Aufmerksame LeserInnen haben mir zu Recht geschrieben, dass ich diese Erich-Kästner-Erwiederung beim letzten Mal vergessen habe.) Heute möchte ich Ihnen meinen Besuch in der Geigenbauwerkstatt von Julia Maria Pasch ans Herz legen: Sie ist Geigenbauerin in Wien und denkt ihr Handwerk neu. Außerdem debattiere ich mit Gregor Willmes von C. Bechstein über die neue Vielfalt im Flügelbau. Wie verändert Innovation im Instrumentenbau unser Klangideal? Ist eine Stradivari immer das bessere Instrument, oder streichelt sie oft auch nur das Ego ihres Besitzers? Und wann beginnen Orchester ihren Klang durch den bewussten Ankauf von Instrumenten zu verändern? Wie erklärt sich, dass immer mehr PianistInnen auf Vielfalt ihrer Instrumente setzen? Spannende Fragen, die ich gemeinsam mit Pasch und Willmes bespreche – dazu die ultimativen Lobhudeleien an ihre Instrumente von Klarinettist Daniel Ottensamer, Flötistin Elisabeth Champollion und Pianist Alexander Krichel. Zum Podcast geht es hier entlang. Hier zur Version für Spotify oder für apple.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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