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Die inszenierte Wirklichkeit
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Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit politischem Komplett-Versagen in Erfurt, Drangsalierungen in Russland und dramatischen Sparvorschlägen von Markus Söder.
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Freigestellt: der Fall Montavon
Ein Lob dem hartnäckigen Journalismus! Es war nicht das Feuilleton der Thüringer Allgemeinen, sondern der Lokal-Chef Casjen Carl, der so lange und so energisch am Ball geblieben ist. Er war der erste, der über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe am Theater Erfurt berichtet hat und sich nicht abwimmeln ließ. Von „jahrelangen sexuellen Belästigungen“ unter Intendant Guy Montavon war in seinen Artikeln zu lesen, aber es passierte: wenig. Im Gegenteil, die Gleichstellungsbeauftragte Mary-Ellen Witzmann wurde gefeuert, nachdem sie zum ersten Mal über Vorfälle am Theater berichtet hatte. Erst auf weiteren öffentlichen Druck wurde eine Kanzlei mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragt. Und am Freitag wurde der Intendant überraschend hektisch freigestellt. Die Vorwürfe müssen erheblich sein, die konkreten Anschuldigungen sind zum Opferschutz konkret noch immer nicht bekannt. Die Behauptung von Oberbürgermeister Andreas Bausewein, der sich für eine Verlängerung des Intendanten eingesetzt hatte und nun behauptet, von nichts gewusst zu haben, ist eher unglaubwürdig.
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Tatsächlich wurde nach vielen Beschwerden ein Transformationsprozess in Erfurt eingeleitet. Der aber traf auf ein eingeschüchtertes Ensemble, auf einen unwilligen Intendanten und auf eine interessenlose Politik. Der Fall Montavon zeigt Versagen auf vielen Ebenen: Eine Schlüsselrolle spielt wohl der alte Personalrat, aber auch die Erfurter Politik hat vor dem Dominanz-Charakter des Intendanten gekuscht und die Opfer von Übergriffen vernachlässigt. So hat sie nachhaltig das Vertrauen der Kulturschaffenden in die Politik zerstört. Auch die Medien geben kein gutes Bild ab. Casjen Carl war lange allein auf weiter Flur. Wo war eigentlich der MDR? Der Sender postet auf seinem Insta-Profil ständig Frauen-Themen aus der Musikgeschichte, aber kein Wort an dieser Stelle über die Missstände vor der eigenen Haustür! So wird Feminismus unglaubwürdig. Das Theater in Erfurt, so heißt es, atmet derweil langsam auf. Brisant ist ein Post des Vorsitzenden des Kulturausschusses in Erfurt. Wolfgang Beese (SPD) schreibt in den Sozialen Medien: „Mit der Beurlaubung der Theaterleitung hat sich jemand einen politischen Traum erfüllt. Grotesk und würdelos. Eine besondere Form von Machtmissbrauch?“ Bei solchen Posts versteht man, warum die Politik der Stadt versagt hat. Es wird spannend, wenn weitere Details bekannt werden.
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Söder will Radioorchester streichen
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder plädiert für Einsparungen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern – und zwar bei der Zahl der Rundfunk-Klangkörper. Man könne sie von 24 auf zwölf reduzieren, findet Söder: „Die Qualität der Kultur wird da genauso stark sein.“ Außerdem schlug er vor, Arte und 3sat zu einem gemeinsamen internationalen Projekt zu entwickeln. Der Saarländische Rundfunk und Radio Bremen sollten in Mehrländeranstalten aufgehen. Dass Söder diese Vorschläge macht, zeigt, dass der selbst zum Thema erhobene Zweifel der Rundfunkanstalten an seinen Ensembles nun auch politischen Nährboden findet. Angefangen hatte alles, als WDR-Mann Tom Buhrow vorschlug, Radioorchester abzuschaffen (wir hatten das damals hier kommentiert). Dabei müsste die Argumentation genau anders lauten: Gerade der Kulturauftrag legitimiert Rundfunkgebühren, das kritische Begleiten der einmaligen deutschen Kulturlandschaft ist einer der Hauptaufträge unserer Sendeanstalten. Wenn sie diese nicht mehr ernst nehmen, machen sie sich überflüssig. Der politische Druck auf die Anstalten und die Angriffe von Parteien wie der AfD erlauben den Öffentlich-Rechtlichen nur eine Antwort: Vollkommene Transparenz, das Ausbauen der Sichtbarkeit von Kultur und kluge redaktionelle Konzepte, die nicht in der Maschinerie der eigenen Angst glattgeschliffen werden. Unser Kulturrundfunk muss mutiger und sichtbarer werden, sich auch Mal selber befragen und wieder ins Zentrum der Gesellschaft rücken. Sonst schaffen ihn die kulturlosen Populisten langsam ab.
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Personalien der Woche I
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Es ist eine endlose Geschichte: Die Mitglieder der English National Opera streiken, denn das Haus, das auf der Kippe steht, muss weiter sparen. Der erste derartige Streik von Musikern in den letzten 44 Jahren. Das zeigt den Ernst der Lage. +++ Eher Moll auch eine weitere Meldung: Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau fährt einen harten Sparkurs. Von ersten Kürzungen betroffen ist der Mainzer Bachchor. +++ Ich gestehe: Ich bin großer Fan von Anja Harteros! Und so bedauerlicher, dass sie all ihre Auftritte an der Münchner Staatsoper für 2024 abgesagt hat. Aber es ist eben auch ein Statement, wenn Familie und Menschlichkeit Vorfahrt haben. +++ An dieser Stelle haben wir Jonas Kaufmann nicht immer gefeiert – aber man muss sagen: Sein Auftritt bei der Trauerfeier von Franz Beckenbauer war würdig und stilvoll. +++ Carsten Hinrichs wird neuer Leiter der Thüringer Bachwochen. Der Musikwissenschaftler und Journalist übernimmt die Position von Christoph Drescher nach der 20. Ausgabe des Festivals im Frühjahr 2024.
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Das Theater der Welt
Die Inszenierung der Politik als Theater war eine Grundfrage in meinem aktuellen Buch: Was bedeutet das Spektakel der Welt für die Theater selber? Intendant und Regisseur Kay Voges, sein Volkstheater Wien und das Berliner Ensemble haben nun, gemeinsam mit dem Recherchenetzwerk Correktiv, eine sehr schlüssige Antwort gefunden. Nach der Recherche über das Geheimtreffen zur „Remigration“ in Potsdam hat die journalistische Plattform nun das Medium gewechselt und einen weiteren Teil der Recherche als Schauspiel veröffentlicht. „Geheimplan gegen Deutschland“ hieß das Stück, das Realpolitik auf die Bühne holte und durch Kunst Wirklichkeit entlarvte. Mit dabei die Bühnenfigur von AfD-Mann Mario Müller, ein langjähriger, führender Kopf der Identitären Bewegung, der wegen Körperverletzung vorbestraft ist. Der 35-Jährige arbeitet für den AfD-Bundestagsabgeordneten Jan Wenzel Schmidt als wissenschaftlicher Mitarbeiter und hatte Zugang zu Quellen im Bundestag. Laut „Correctiv“ und Bühneninszenierung habe er bei dem Geheimtreffen dargelegt, wie sein Kampf gegen Linke aussieht: 2021 habe er den Aufenthaltsort eines deutschen Antifa-Aktivisten in Polen verbreitet und einen Schlägertrupp auf ihn angesetzt. Müller bestreitet die Darstellung. Dennoch ist das Theater zum virtuosen Ort geworden, um die Wirklichkeit mit der Kunst zu einer über das Detail hinausweisenden Wahrhaftigkeit zu verbinden (mehr dazu auch im Video der Klassik-Woche, und eine Einordnung zur Kulturpolitik der AfD hier).
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Fluch und Segen der Filmmusik
In der aktuellen Ausgabe meines Podcasts „Alles klar, Klassik?“ dreht sich alles um den Erfolg von Filmmusik. Anne-Sophie Mutter erzählt über ihre Begegnung mit John Williams, der Komponist von Star Trek Picard und dem Soundtrack Call of Duty, Stephen Barton (hier das ungekürzte Original-Interview) erzählt über die Parallelen zur Klassik, und Enjott Schneider (Herbstmilch, Schlafes Bruder) ordnet den aktuellen Filmmusik-Hype kritisch ein. Hörenswert, wie ich finde (hier für Apple oder alle anderen Player).
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Russland ordnet Kulturlandschaft neu
Das Bolschoi-Theater und der russische Theaterverband werden bereits länger von Vertrauten Putins geleitet – zahllose russische Kulturschaffende sind emigriert. Ein lesenswerter Text von Maria Golowina (hinter Bezahlschranke) im Freitag: „Es gibt schwarze Listen für Regisseure und Autoren. Eine der jüngsten Ergänzungen war im Dezember der in London lebende Bestsellerautor Boris Akunin, der auf die Liste der ‚ausländischen Agenten‘ gesetzt wurde.“ Golowina berichtet, Kulturbehörden in Moskau und St. Petersburg führten schon länger „Säuberungsaktionen“ durch, die nun auch ausgeweitet werden: Der Regisseur Roman Feodori trat als künstlerischer Leiter des Jugendtheaters im sibirischen Krasnojarsk zurück, und im zentralrussischen Woronesch wurde der Gründer und künstlerische Leiter des Woronescher Kammertheaters, Michail Bytschkow, auf Beschluss des regionalen Kulturministeriums entlassen. Wenn da noch jemand von Eingriffen in die Kunstfreiheit in Deutschland spricht, ist ihm nicht zu helfen!
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Personalien der Woche II
Die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar ist tot. Die Österreicherin starb im Alter von 79 Jahren in Berlin. Sie wurde vor allem durch ihre Arbeit mit Rainer Werner Fassbinder bekannt - etwa in "Berlin Alexanderplatz" oder "Die Ehe der Maria Braun". +++ Die Sächsische Staatsoper Dresden trauert um ihren früheren Intendanten Gerd Uecker, der im Alter von 77 Jahren gestorben ist. Christian Thielemann erinnert: „Mit ihm verband mich ein großes Einvernehmen, ich schätzte ihn als Menschen und Künstler sehr." Die Semperoper will nun eine Aufführung der Wagner-Oper Tristan und Isolde am 3. Februar ihrem ehemaligen Intendanten widmen.
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Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
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Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Beim Stöbern im Netz bin ich auf ein unendlich schönes und lustiges Video einer älteren Damengruppe gestoßen, die versucht, Mozarts Königin der Nacht zu singen – und in einem Lachkrampf endet. Ich stelle dieses Video an den Anfang meines Video-Wochenrückblickes.
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In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.
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