Bregenzer Festspiele

Götter des Gemet­zels

von Maria Goeth

22. Juli 2021

Die Bregenzer Festspiele eröffneten mit Arrigo Boitos selten gespielter Oper Nero.

Wahn, reli­giöser Hass, Liebes­ob­ses­sion, Macht­miss­brauch, Schuld, Verblen­dung, Perver­sion, Mani­pu­la­tion, Geil­heit, Selbst­über­he­bung und Blut­rausch – Arrigo Boitos Oper Nero böte spie­lend Stoff für zehn weitere Opern: Da ist der Titel­held, zerfressen vom Schuld­ge­fühl des Mutter­mords und trotzdem oder gerade deshalb völlig sinnlos macht­aus­übend. Dann Simon Mago, der Blender, Ketzer und Chris­ten­ver­nichter oder Asteria, das gehetzte Schlan­gen­weib, das am Ende in Brand stecken wird, nachdem ein Wagen­rennen im Circus Maximus zum Massaker eska­liert. 

ASTERIA: »Das Grauen zieht mich an wie eine Geliebte.«

56 Jahre lang hat sich an dieser Oper veraus­gabt – und sie am Ende doch nicht fertig­ge­stellt. Im Bregenzer Fest­spiel­haus erklang das sehr selten gespielte Werk nun zur Eröff­nung der Jubi­läums-Fest­spiel­saison 2021. Zu Recht! Denn Boito – heute weniger als Kompo­nist denn als Libret­tist Giuseppe Verdis (Otello und Falstaff) bekannt – greift nicht nur tief in die Emotions- sondern auch in die Klang-Schatz­kiste. öffnet diese mit den Wiener Sympho­ni­kern. Die Musik ist plakativ, aber nie platt, voller Effekte aber nicht affek­tiert – eine große Oper des 19. Jahr­hun­derts, die – beson­ders wenn sie musi­ka­lisch das Böse zeichnet – ins 20. Jahr­hun­dert drängt!

Simon Mago: »Betet, ihr Narren! Der Priester lacht hinter dem Altar.«

Das Ensemble ist durchweg solide bis stark. Heraus sticht Lucia Gallo als dämo­ni­scher Simon Mago mit volu­mi­nösem Bariton, als zwischen Wahn­sinn, Schwäche und Eska­la­tion pendelnder Kaiser und der klang­mäch­tige Prager Phil­har­mo­ni­sche Chor in den vielen opulenten Massen­szenen.

Bregenzer Festspiele
Szenen­foto mit Rafael Rojas in der Titel­rolle
(Foto: © Karl Forster / )

Nero: »Keiner vor mir hat es verstanden zu regieren.«

Regis­seur Olivier Tambosi und Bühnen­bildner Frank Philipp Schlöss­mann versetzen die Hand­lung in einen kargen Bühnen­raum mit stechenden Licht­säulen und einer die Gehetzt­heit der Titel­figur unter­strei­chenden Dreh­bühne. Wie im Wahn verviel­fa­chen sich die Figuren immer wieder oder verschmelzen scheinbar in eine, wobei die Grenzen zwischen Mann und Frau verschwimmen – ob sich der vom Mutter­mord blut­ver­schmierte Nero verzwölf­facht, die fast omni­prä­sente Leiche der Agrip­pina in ganzer Chor­stärke Kinder gebiert oder sich der jesus­gleiche Prediger Fanuèl in seinem Wider­sa­cher Simon Mago dupli­ziert. Das wirkt so hoch­gradig psycho­lo­gisch – zuweilen psycho­pa­thisch –, dass man sich fragt, ob es sich über­haupt um unter­schied­liche Figuren handelt – oder letzt­lich um abgrün­dige Aspekte einer einzigen Person, um Splitter des Grauens!