Walter Werzowa

»Beet­ho­vens reine Emotio­na­lität im Algo­rithmus«

von Dorothea Walchshäusl

8. Oktober 2021

Ludwig van Beethoven konnte nur neun Sinfonien fertigstellen. Die von ihm geplante Zehnte Sinfonie erscheint, komponiert mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI), auf CD.

Ein inter­dis­zi­plinär besetztes Team unter der Leitung von Matthias Röder befasste sich mit einer neuen Kompo­si­tion von Beet­ho­vens Zehnter Sinfonie. Der Musik­pro­du­zent und Kompo­nist Walter Werzowa gibt Einblicke in das Projekt.

CRESCENDO: Herr Werzowa, Sie haben als Kompo­nist entschei­dend an der Erstel­lung einer Zehnten Sinfonie im Geiste Beet­ho­vens mitge­wirkt. Hat man da nicht große Skrupel?

Walter Werzowa: Absolut. Ich hatte am Anfang irrsin­nige Angst. Gleich­zeitig war es ein über­wäl­ti­gendes Geschenk, mich so intensiv mit Beet­hoven befassen zu dürfen. Fakt ist: Er wollte die Zehnte Sinfonie unbe­dingt haben, und es gab bereits die Themen. Das Tolle ist, dass wir mit der KI einen Weg gefunden haben, um eine plau­sible Vari­ante zu zeigen, wie sie hätte klingen können.

Was kann die KI besser als ein Mensch?

Die KI ist der beste und neutralste Student, den es über­haupt gibt. Beet­hoven hat in Briefen und Notizen viel über seine Gedanken zur Zehnten Sinfonie geschrieben, aber es war nur sehr wenig Noten­ma­te­rial da, teil­weise Themen aus nur 12 Noten. Wenn sich jetzt ein Mensch hinge­setzt hätte, der daraus etwas kompo­niert, dann wäre das ein Werk dieses Kompo­nisten geworden und nicht Beet­ho­vens Musik. Die KI hat den Vorteil, dass sie Beet­ho­vens Musik analy­sieren und weiter­ver­ar­beiten kann, ohne selbst irgend­etwas hinzu­zu­geben.

Trailer zur Auffüh­rung einer neuen Fertig­stel­lung von Beet­ho­vens Zehnter Sinfonie

Dennoch waren Menschen wesent­lich bei der Erar­bei­tung der Zehnte Sinfonie betei­ligt. Was war Ihre Rolle dabei?

Es war schnell klar, dass es nicht nur darum geht, Lego­steine zusammen zu fügen, die ich von der KI bekomme. Das hätte auch nicht funk­tio­niert. Denn wenn man ein Thema in die KI gibt, hat man zwar ein paar Stunden später 200 Varia­tionen dazu. Aber diese Musik geht immer weiter nach vorne. Dabei ist es bei Beet­hoven ja gerade so fantas­tisch, wie ökono­misch er gear­beitet hat, wie toll er wieder­holt hat ohne dass die Musik jemals lang­weilig ist. Wir haben inten­sive Studi­en­ar­beit geleistet und sehr stra­te­gisch Themen einge­setzt und wieder­holt und mit rhyth­mi­schen oder melo­di­schen Verschie­bungen und Zitaten gear­beitet.

Welche Zitate sind das?

Beet­hoven wollte unbe­dingt das Gratu­la­tions-Menuett drin haben und auch Teile der Pathé­tique. So hat er ganz am Lebens­ende zurück geschaut in seine Jugend.

Dirk Kaftan am Pult des Beethoven Orchesters Bonn
Bringen die neue Fertig­stel­lung von Beet­ho­vens Zehnter Sinfonie zur Auffüh­rung: und das Beet­hoven Orchester
(Foto: © Felix von )

Was hat Sie bei Ihrer Arbeit mit der KI am meisten faszi­niert?

Mir hat das Projekt gezeigt, wie Krea­ti­vität funk­tio­niert. Kunst und Krea­ti­vität kommen ja eigent­lich aus einem Wort und das ist „choice“ – die Wahl. Beet­hoven selbst war wahn­sinnig kreativ. Ich bin mir sicher, dass er, wenn er herum­ge­gangen ist, hunderte von Möglich­keiten im Kopf hatte. Eine davon hat er gewählt und entschieden, das ist das, was ich will.

Ist das Ergebnis denn über die tech­ni­sche Faszi­na­tion hinaus ein eigen­stän­diges musi­ka­li­sches Werk, das emotional berührt?

Absolut. Das Unglaub­liche ist, dass ein Algo­rithmus, der nie betrunken war, der nie Liebes­kummer hatte, der nie verzwei­felt war, der nie Geld­pro­bleme hatte und zornig war, so emotio­nale Musik erzeugen kann. Die Erklä­rung dafür ist: Wenn Beet­hoven Liebes­kummer hatte und kompo­niert hat, ist dieses Gefühl ja in seinem Werk. Und wenn nun die KI das analy­siert, ohne ein anderes Gefühl von einem Menschen dazu­zutun, haben wir quasi Beet­ho­vens reine Emotio­na­lität im Algo­rithmus. Ich habe immer wieder Erzeug­nisse der KI bekommen, da hatte ich Tränen in den Augen.

Mit welchen Reak­tionen rechnen Sie, wenn die Zehnte Sinfonie urauf­ge­führt wird?

Es wird natür­lich viele Kritiker geben, die sagen werden, das darf nicht sein. Aber es werden sicher auch viele begeis­tert sein. Auf jeden Fall wird es einen inten­siven Dialog geben, und jede Frage, die dadurch entsteht, kann uns dabei helfen, Beet­hoven besser zu verstehen.

Was würde Beet­hoven selbst dazu sagen?

Hätte Beet­hoven heute gelebt, hätte er sicher Spaß gehabt an der KI – er war ja immer ein Revo­luzzer. Hätte er das Werk genauso geschrieben? Sicher nicht. Ist es eine mögliche Dimen­sion in Beet­ho­vens Universum? Ich denke, ja.

Fotos: Gregor Hohenberg