La Fura dels Baus

Das Welt­kunst­werk und der Moment kollek­tiver Katharsis

von Ruth Renée Reif

14. September 2021

Carlus Padrissa von La Fura dels Baus erläutert seine Vorstellungen einer sphärischen Oper, der Bühne im 21. Jahrhundert und des Opernprojekts Sphaera Mundi.

faszi­niert seit 25 Jahren mit multi­me­dialen, bild­ge­wal­tigen und tech­nisch aufwen­digen Opern­in­sze­nie­rungen. Ins Leben gerufen wurde das Kollektiv 1979 in der kata­la­ni­schen Stadt Moyá. ist Mitbe­gründer und einer der Künst­le­ri­schen Leiter der Gruppe.

CRESCENDO: Herr Padrissa, mit Ihren über­bor­denden Insze­nie­rungen wurden Sie und La Fura dels Baus zu Kult­fi­guren der inter­na­tio­nalen Thea­ter­szene. Wie empfinden Sie diesen Status?

Carlus Padrissa: Als junge Gruppe über­raschten wir 1984 die Thea­ter­szene. Wir holten die Zuschauer auf die Bühne und boten eine immersive Show, bei der sie in alle Rich­tungen schauen und gehen konnten und mit den Darstel­lern im selben Raum inter­agierten. Unsere Perfor­mances aus ener­gie­ge­la­denem Theater, visu­ellen Effekten, plas­ti­schem Szenen­aufbau und Licht, getragen von einer kraft­vollen musi­ka­li­schen Basis, waren wie Opern, in denen sich das Publikum als Chor bewegte und mit denen wir alle seine Sinne weckten. Das war neu und bescherte inten­sive Momente der Inspi­ra­tion. Wenn der Rhythmus des Bühnen­ge­sche­hens sich mit dem atavis­ti­schen Rhythmus des Publi­kums verbindet, kommt es zu einer kollek­tiven Katharsis. So wurden wir Kult.

Blick ins Jahr 2022 und die von Carlus Padrissa geplante Oper Sphaera Mundi

Begonnen haben Sie 1979 als Kollektiv. Noch unter General Franco waren einige solcher Kollek­tive entstanden wie 1962 Els Joglars oder 1971 Els Come­di­ants. Ist eine poli­ti­sche Umbruchs­phase fruchtbar für die Kunst?

Als Franco 1975 starb, waren wir 15 Jahre alt. Joglars und Come­di­ants waren für uns wie ältere Brüder. Sie zeigten uns den Weg. Aber irgend­wann will man sich von seinen älteren Brüdern unter­scheiden und seine eigene Persön­lich­keit entwi­ckeln. So wurde La Fura dels Baus geboren. Wir waren glück­lich, uns voller Inspi­ra­tionen in die Arbeit zu stürzen. Alles um uns herum war erfüllt von dieser Energie, die unsere Krea­ti­vität beflü­gelte und uns anspornte, gemeinsam etwas zu schaffen.

Carlus Padrissa
(Foto: © Wilfried Hösl)

»Wenn die eigene Zeit zum Absprung gekommen ist, muss man mit der Vergan­gen­heit brechen.«

In dem Mani­fest, das Sie 1983 verfassten, heißt es, nichts aus der Vergan­gen­heit habe Ihnen als Vorbild dienen können. Aber da sind Antonin Artaud und sein magisch-reli­giöses Theater. Das sind Witold Gombro­wicz und seine Begeis­te­rung für Zere­mo­nien und Rituale. Und da sind Happe­ning, Fluxus, Jérôme Savary und Le Grand Magic Circus und die Wiener Aktio­nisten mit und seinem Orgien- und Myste­rien-Theater…

Wenn die eigene Zeit zum Absprung gekommen ist, muss man mit der Vergan­gen­heit brechen. Erst im Laufe der Jahre merkt man, dass man Anlauf nehmen muss, um zu springen. Es ist der feste Boden der Tradi­tion, der einem die Kraft und den Impuls zum Sprung verleiht. All die von Ihnen genannten Künstler waren für uns das Weih­wasser, das unseren Durst löschte, waren unsere Wegbe­reiter. Ich möchte Ihrer Aufzäh­lung noch den Cirque Aligre des Pfer­de­trai­ners Bartabás, die Stra­ßen­thea­ter­gruppe Royal de Luxe aus und die Thea­ter­gruppe El Grifo von Dionisio Sánchez anfügen.

La Fura dels Baus, La forza del destino
Carlus Padrissas Insze­nie­rung von Giuseppe Verdis Oper La forza del destino beim 2021
(Foto: © Maggio Musi­cale)

Zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts war die Bühne ein utopisch-fiktives Gegen­bild zur Wirk­lich­keit. Was ist sie heute?

Die Bühne im 21. Jahr­hun­dert ist eine fiktive Dystopie der Wirk­lich­keit.

Carlus Padrissa

»Krea­tive Frei­heit ist für die Bühne eine Waffe, geladen mit der Zukunft.«

Die Kunst im Westen ist heute so frei, wie sie vermut­lich noch nie war. Was bedeutet diese Frei­heit für Ihre Arbeit?

Bühnen­in­sze­nie­rungen muss man immer wieder neu schaffen, weil sie vergäng­lich sind. Und wir müssen sie auf die frei­este Weise schaffen, die die Zeit, in der wir leben, zulässt. Als wir mit unserem Freund beim Maggio Musi­cale Fioren­tino 2021 Verdis La forza del destino insze­nierten, ließen wir in Ausübung maxi­maler Frei­heit die Liebenden Leonore und Alvaro an der Schwelle des Vierten Welt­kriegs wieder zusam­men­kommen. Wir lehnen uns damit an Albert Einsteins Prognose an, er wisse nicht, mit welchen Waffen der Dritte Welt­krieg ausge­tragen werde, aber im Vierten werde mit Stöcken und Steinen gekämpft. Krea­tive Frei­heit ist für die Bühne eine Waffe, geladen mit der Zukunft.

Carlus Padrissa, Babylon
2012 brachte Carlus Padrissa an der Baye­ri­schen Staats­oper Jörg Widmans Oper Babylon nach einem Libretto von Peter Sloter­dijk zur Urauf­füh­rung.
(Foto: © Wilfried Hösl / )

Ihre Hinwen­dung zur Oper erfolgte bereits 1996 mit Manuel de Fallas Atlán­tida und Claude Debussys Le martyre de Saint Sébas­tian. Was faszi­niert Sie an der Oper?

Die Oper ist die Bühnen­kunst mit den meisten Ausdrucks­formen. Sie vereint Musik, Poesie, Theater und bildende Kunst. Damit stehen ihr unend­lich viele Möglich­keiten offen, das Publikum zu begeis­tern und zu verzau­bern, Gefühle zu wecken und eine Katharsis auszu­lösen. Es sollten mehr zeit­ge­nös­si­sche Opern gespielt werden. Das Reper­toire bedarf drin­gend einer Moder­ni­sie­rung. Einer meiner Lieb­lings­kom­po­nisten ist . Die Kompo­nisten müssen in ihrer Arbeit unter­stützt werden. Sie sind unsere Zukunft.

Carlus Padrissa

»Es nur noch eine Frage der Zeit, bis B.O.M. Wirk­lich­keit wird.«

Sie haben sich nicht auf die Bühne beschränkt, sondern den Thea­ter­raum geöffnet. 1997 bespielten Sie bereits das Internet…

Ich liebe es, neue Pfade zu beschreiten. Für das Mill­en­nium 1999/2000 erdachten wir das Projekt B.O.M. Big Opera Mundi. Es sollte um null Uhr des neuen Jahres beginnen und gemäß der 24 Zeit­zonen aus 24 Akten bestehen. Jeder Akt sollte in einer anderen Stadt zur Auffüh­rung kommen und ein anderes Thema behan­deln. Das Compu­ter­ma­gazin Wired bot uns in seiner Internet-Ausgabe von Mai 1997 die Chance, das Projekt vorzu­stellen und Menschen welt­weit zur Mitwir­kung einzu­laden. Auf diese Weise konnten wir erfor­schen, was das Internet digi­talen Theater- und Opern­formen bietet. Heute, 20 Jahre später, haben sich digi­tale Auffüh­rungen weiter­ent­wi­ckelt. In der Pandemie senden und streamen alle Bühnen. So ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis B.O.M. Wirk­lich­keit wird.

Carlus Padrissa, Wagner, Siegfried
Sieg­fried 2008 im Palau de les Arts Reina Sofía in . Mit Zubin Mehta am Pult setzte Carlus Padrissa Richard Wagners Ring des Nibe­lungen in Szene.
(Foto: © Tato Baeza, Palau de les Arts Reina Sofía)

2007 bis 2009 brachten Sie in Valencia mit Zubin Mehta am Pult Richard Wagners Ring-Tetra­logie auf die Bühne. Wagner entwarf nach dem Vorbild der grie­chi­schen Polis die Utopie eines Gesamt­kunst­werks. In welchem Verhältnis steht Ihre Idee eines „Welt­kunst­werks“ dazu?

Ich stimme voll­kommen überein mit Wagners Vorstel­lungen. war sein Lehrer. Mit seiner Gestal­tung der Wolfs­schlucht-Szene und dem Einsatz von Tech­niken, die es ihm erlaubten, mit Licht­ef­fekten zu arbeiten, wies er ihm vor 200 Jahren im Frei­schütz den Weg. Wir haben das am 18. Juni in mit Licht-Szena­rien und dem sicht­baren Einsatz von Technik zu zeigen versucht. Wenn, ausge­hend von der Musik, alle szeni­schen Künste wie das Theater mit seinen Gesten der Grau­sam­keit und Zärt­lich­keit, der Tanz, die Poesie, die Archi­tektur und die bildende Kunst zusam­men­wirken, taucht das Publikum mit allen Sinnen in das thea­trale Geschehen ein. Und es kommt zu jenen erha­benen Momenten gemein­schaft­li­cher Katharsis.

Adolphe Appia verwarf um die Wende vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert die Kulis­sen­bühne und gestal­tete den nahezu leeren Rhyth­mi­schen Raum. Sie zeigten ein Jahr­hun­dert später eine bild­ge­wal­tige Ring-Insze­nie­rung…

Appia war seiner Zeit voraus. Seine Entwürfe legte er Cosima Wagner vor, die sie kate­go­risch ablehnte. Ihr Sohn Wieland Wagner griff für seine Ring-Insze­nie­rungen jedoch auf Appias Ideen zurück. Seine erhel­lenden Regie­ar­beiten bildeten auch für uns eine Quelle der Inspi­ra­tion. Gegen­wärtig sind die mehr darauf aus zu über­ra­schen als ein Gesamt­kunst­werk zu schaffen. Die Über­ra­schung aber ist ein erster Schritt. Der zweite wird folgen…

Carlus Padrissa

»Die sphä­ri­sche Oper, in der das Publikum eine Auffüh­rung erlebt, spricht eine univer­selle Sprache.«

Begeben wir uns zuneh­mend in eine Welt der Bilder und Zeichen, in der Sprache und Schrift an Bedeu­tung verlieren, und wir damit eine Welt­sprache?

Genauso ist es. Die sphä­ri­sche Oper, in der das Publikum eine Auffüh­rung nicht bloß sieht, sondern erlebt, „spricht“ eine univer­selle Sprache. Das Bild, der Klang, verbunden mit der Energie der Sänger und der Kraft ihrer leben­digen Inter­pre­ta­tion, lassen uns erschauern. Sie treiben uns in Höllen und Para­diese und bescheren uns Erfah­rungen, die uns als Menschen berei­chern.

Für das Jahr 2022 planen Sie die Kompo­si­tion einer neuen Oper Sphaera Mundi

Vor 500 Jahren fand die erste Welt­um­se­ge­lung statt. Damit erwachte das Bewusst­sein einer Einheit der Welt. Sphaera Mundi ist eine Seefahrt von Menschen, die ihre Kräfte vereinen und unser Schiff Naumon antreiben. Die 62 Meter lange Naumon steht als Meta­pher für unseren Planeten auf seiner Kreis­bahn im Weltall. 2020 wurde es nach gebracht, und wir verwan­deln es in ein schwim­mendes Opern­haus, das an Seehäfen und schiff­baren Fluss­häfen wie , und anlegen kann. Die Oper erlebt man nur auf dem „Schiff der Welt“.

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Weitere Informationen zu La Fura dels Baus unter: lafura.com 

Fotos: Inszenierung von Manuel des Fallas La Atlántida beim Festival von Granada im Jahr 2009