Ray Chen

Charis­ma­ti­scher Brücken­bauer

von Dorothea Walchshäusl

5. Juni 2018

Ray Chen fesselt nicht nur mit musikalischer Perfektion, sondern erreicht mit einem bunten Mix aus Mode, Musik und Popkultur über die sozialen Medien ein großes und vor allem junges Publikum.

Der 29-jährige Geiger Ray Chen fesselt nicht nur mit musi­ka­li­scher Perfek­tion, sondern erreicht mit einem bunten Mix aus Mode, Musik und Popkultur über die sozialen Medien ein großes und vor allem junges Publikum.

crescendo: Sie haben eine Karriere im Zeit­raffer hinge­legt: Mit acht Jahren das erste Konzert, mit neun Jahren ein Auftritt bei der Eröff­nungs­feier der Olym­pi­schen Winter­spiele in Nagano, mitt­ler­weile haben Sie etliche Wett­be­werbe gewonnen und veröf­fent­li­chen gerade Ihr neues Album. Wie haben Sie Ihre musi­ka­li­sche Stimme gefunden?

: Das war und ist ein Prozess. Im Laufe seines Lebens durch­lebt man verschie­dene Kapitel, und immer wieder ändert sich der Blick auf die Musik. Ich bin
ja in aufge­wachsen. Mitt­ler­weile ist meine euro­päi­sche Heimat, und gerade das Kennen­lernen der deut­schen Sprache war sehr wichtig für mich. Da ist diese beson­dere Dynamik und Beto­nung von einem Wort wie „Ach-tung“. Das zu hören, war tatsäch­lich Teil meines Inter­pre­ta­ti­ons­pro­zesses und hat mir sehr dabei geholfen, die Klang­welt zu verstehen, die die Kompo­nisten bewegt hat. Letzten Endes ist Musik für mich aber eine univer­selle Sprache. Viel­leicht bin ich ein Idea­list, aber ich versuche, in meinem eigenen Spiel das Beste aus jeder Schule heraus­zu­greifen.

Wo fühlen Sie sich auf der musi­ka­li­schen Land­karte am wohlsten?

Das ist schwer zu sagen. Es gibt so viel wunder­bare Musik von so unter­schied­li­chen Menschen. Doch ich glaube, dass sich meine Persön­lich­keit am inten­sivsten im roman­ti­schen Reper­toire wider­spie­gelt. Ich bin jemand, der mit dem Herzen entscheidet und lebt. Mein Vater hat mir immer gesagt: Es geht nicht darum, Recht zu haben. Es geht nicht um Logik. Es geht um das Gefühl. Und was für Bezie­hungen gilt, gilt bei mir auch für die Musik.

„Viel­leicht bin ich ein Idea­list, aber ich versuche, in meinem eigenen Spiel das Beste aus jeder Schule heraus­zu­greifen“

Auf Ihrem neuen Album beschwören Sie die Goldenen 20er-Jahre und spielen neben dem Violin­kon­zert von Bruch Stücke wie Summer­time von Gershwin oder Schön Rosmarin von Kreisler. Wie kam es dazu?

Das Goldene Zeit­alter hat mich schon immer faszi­niert. David Oistrach, Fritz Kreisler, Jascha Heifetz … all die großen Geiger lebten damals. Das war eine Zeit voller Krea­ti­vität und Atmo­sphäre! Ich liebe den nost­al­gi­schen Charme einer Vinyl-Schall­platte und das leichte Kratzen der Nadel, bevor der erste Ton erklingt. Es hat großen Spaß gemacht, mich für das Album ganz in diese Klang­welt hinein­zu­be­geben.

Sie bespielen einen eigenen Youtube-Kanal, haben über 137.000 Follower auf Face­book und 65.000 auf Insta­gram. Kaum ein klas­si­scher Musiker nutzt die sozialen Medien so intensiv wie Sie. Wird Ihnen das nicht manchmal zu viel?

Das Gute an den sozialen Medien ist ja, dass man selbst entscheiden kann, wie oft man etwas postet. Fakt ist: Die Welt verän­dert sich, und die sozialen Medien sind ein Werk­zeug, das wir nicht einfach so igno­rieren können. Wir können natür­lich darüber philo­so­phieren, ob das gut ist oder nicht. Aber wenn man die sozialen Medien außen vor lässt, dann verliert man eine ganze Gene­ra­tion! Für mich sind die sozialen Medien eine groß­ar­tige Möglich­keit, um gerade jüngere Leute zu errei­chen. Dazu muss man erst einmal ihre Aufmerk­sam­keit gewinnen. Ich spreche auf meinem Face­book-Profil über Musik, stelle philo­so­phi­sche Fragen, trete als Lehrer auf oder mache einfach nur Comedy …

„Ich spreche auf meinem Face­book-Profil über Musik, stelle philo­so­phi­sche Fragen, trete als Lehrer auf oder mache einfach nur Comedy“

Dann stecken Sie zum Beispiel eine Geige in die Wasch­ma­schine und holen ein geschrumpftes Exem­plar wieder heraus. Haben Sie da manchmal Sorge, nicht mehr als seriös wahr­ge­nommen zu werden?

Wir klas­si­schen Musiker sind die ganze Zeit über damit beschäf­tigt, möglichst seriös zu wirken. Auf der Bühne will ich das natür­lich auch, und ich würde zum Beispiel nie einen Witz über Bruchs Violin­kon­zert machen. Aber ich glaube, dass mich die Menschen, die mich als Musiker lieben, auch als Person kennen­lernen wollen. Und dazu gehört eben auch mein Humor.

Wie wichtig ist das Publikum für Sie?

Das Publikum begleitet mich Tag für Tag auf meinem Weg und ist sehr wichtig für mich. Viele Künstler wollen keine Schwäche zeigen. Ich sehe das anders. Ich wende mich an mein Publikum und sage: Was ihr da hört, ist die beste Version von mir – heute – und ihr könnt mich begleiten, wenn ich mich weiter­ent­wi­ckele. Im Laufe dieses Prozesses wachsen das Publikum und ich immer enger zusammen. Das Schlimmste wäre es für mich, stehen zu bleiben. Sei du selbst, entwickle dich weiter und kopiere dich nicht – das ist mein Motto. Natür­lich könnte ich auch einfach nur meinen Job machen, auf die Bühne gehen, spielen und wieder gehen. Aber das ist mir zu wenig.

Welches Ziel verfolgen Sie statt­dessen?

Das hat sich geän­dert. Am Anfang meiner Karriere habe ich haupt­säch­lich gespielt und geübt. Mitt­ler­weile denke ich immer mehr über meine Rolle nach. Warum bin ich hier? Welchen Sinn hat das, was ich tue? Das beschäf­tigt mich sehr. Ich will mit der Musik etwas Größeres errei­chen und für die Menschen, die mir zuhören, zum Freund werden, der versteht, wie sie sich fühlen. Ich will nicht als Genie ange­betet, sondern als normaler Mensch wahr­ge­nommen werden, der gerne lacht, dem das Üben auch mal keinen Spaß macht und der intensiv an sich arbeitet. Im besten Fall kann ich dadurch ein Vorbild sein.

Fotos: Tom Doms