Die Digitale Revolution

Seid neugierig!

von Maria Goeth

10. November 2020

Durch COVID-19 beschleunigten sich die Prozesse der digitalen Revolution rapide. Auch die Kultur eilte den neuen Möglichkeiten mit offenen Armen entgegen. Eine neue Ära beginnt.

Die Digi­tale Revo­lu­tion gehört zu den zentralen Neuori­en­tie­rungs­punkten der Mensch­heits­ge­schichte, wie das Ende des geozen­tris­ti­schen Welt­bilds oder die aufkei­mende Indus­tria­li­sie­rung. Diese Momente zeichnen sich dadurch aus, dass der Mensch im verän­derten Gefüge seinen neuen Platz finden muss, dass sich Werte verschieben und auch unbe­queme Fragen stellen. Als die Menschen bemerkten, dass sie nicht der Mittel­punkt des Univer­sums sind, war das ein Schock.

Heute schmun­zeln wir über dieses Grauen. Für die Menschen damals war es immerhin so essen­ziell, dass sie einen Gelehrten dafür auf dem Schei­ter­haufen verbrannten. Mit der Erfin­dung der Dampf­ma­schine und der Maschi­ni­sie­rung kam die Furcht vor der Ersetz­bar­keit der eigenen Arbeits­leis­tung, dabei verviel­fachten sich die Arbeits­plätze in den ersten Jahr­zehnten der Indus­tri­ellen Revo­lu­tion nach­weis­lich auf mehr als das Doppelte. Immer stellt sich an solchen Wende­punkten insbe­son­dere die Frage nach der mensch­li­chen Einzig­ar­tig­keit und Ersetz­bar­keit. 

Selbst fort­schritts­op­ti­mis­ti­schen Menschen bereitet die Vorstel­lung, ein Algo­rithmus könne kompo­nieren wie Bach, ein Roboter diri­gieren wie Karajan und ein Holo­gramm singen wie die Callas Unbe­hagen.

Auch die Digi­tale Revo­lu­tion wurde nicht allseits mit wehenden Fahnen begrüßt. Deshalb lohnt sich neben der Frage, was die Technik alles kann, beson­ders die, welche Auswir­kungen sie auf den Menschen hat: Wo ist der neue Platz des Menschen im Digital-Zeit­alter? Was lernen wir über uns im Ange­sicht der Maschine? Was wird der Mensch wert sein? Was wird er wert gewesen sein? Und nirgends lassen sich diese Fragen besser ausfechten als in Bezug auf die Kunst.

Während die Diskus­sion um Chancen und Grenzen der neuen digi­talen Welten in vielen Berei­chen längst heiß brannte, schlief die Kunst noch lange auf einer Insel der vermeint­lich Unan­tast­baren. Man aalte sich in der eigenen Einzig­ar­tig­keit und verpasste, sich das Digi­tale früh zum Partner zu machen: Kunst, Krea­ti­vität, schöp­fe­ri­sche Kraft und Inspi­ra­tion würden per se leib­haf­tige Wesen fordern.

Selbst den fort­schritts­op­ti­mis­tischsten Menschen berei­tete und bereitet zum Teil bis heute die Vorstel­lung, ein Algo­rithmus könne kompo­nieren wie Bach, ein Roboter diri­gieren wie Karajan und ein Holo­gramm singen wie die Callas ein gewisses Unbe­hagen. Weil sie fürchten, dass ihnen damit ein Stück des Urmensch­li­chen geraubt wird? Krea­ti­vität als letzte Bastion des Nicht­ma­schi­ni­sier­baren? Oder Skepsis vor einem Algo­rithmus, der zu lernen gelernt hat und dessen Schaf­fens­pro­zess deshalb ähnlich mythisch bleibt wie der des Genies?

Kultur hat sich geöffnet, die Wände des Thea­ters sind einge­rissen, eine neue Gene­ra­tion findet über das Digi­tale ihren Weg zur Kunst.

Während viele Kultur­schaf­fende aufgrund dieses kaum kontu­rierten Unbe­ha­gens abge­sehen von ein paar halb­her­zigen Video­über­tra­gungen noch in digi­taler Igno­ranz verharrten, brachte COVID-19 eine Zwangs­be­schleu­ni­gung der Digi­talen Revo­lu­tion. Viele Insti­tu­tionen nutzten die unge­wollt freie Zeit, um einen Prozess voran­zu­treiben, der sich sonst über mehrere Jahren voll­zogen hätte. Mehr noch: Das Digi­tale gewähr­leis­tete welt­weit die kultu­relle Grund­si­che­rung!

Plötz­lich war es möglich, kleine aber rich­tungs­wei­sende Stadt­thea­ter­pro­duk­tionen ebenso ins Wohn­zimmer zu streamen wie die Produk­tionen der welt­weit größten Opern­häuser. Vergleich­bar­keit wurde geschaffen, Zugäng­lich­keit, kultu­relle Teil­habe auch für Menschen, die sich sonst keine 200-Euro-Parkett­karte leisten, geschweige denn hunderte Kilo­meter dafür durch die Repu­blik fahren können. Kultur hat sich geöffnet, die Wände des Thea­ters sind einge­rissen, eine neue Gene­ra­tion findet über das Digi­tale ihren Weg zur Kunst, und dennoch stellt keiner das Live-Erlebnis, das leben­dige Darstellen etwa in Oper und Theater in Frage. Ähnlich wie bei der Verbrei­tung des Tonträ­gers, des Fern­se­hens oder des Inter­nets müssen die Künste nicht fürchten, verdrängt oder über­rannt zu werden. Sie werden um diese Möglich­keiten erwei­tert und berei­chert.

Algo­rithmen sind Werk­zeuge wie ein Musik­in­stru­ment oder die Farb­mi­schung auf einer Palette. Der Künstler der Zukunft wird sich virtuos daran bedienen.

Das Digi­tale ist die neue Muse der Kunst­schaf­fenden. Mit ihr und durch sie lässt sich Inspi­ra­tion gewinnen, erfinden, produ­zieren und Inno­va­tion schaffen. Sie ist ein Freund und Partner auf Augen­höhe, ein Türöffner zu neuen uner­forschten Welten. Und dennoch: Maschinen können kreativ sein, aber sie können keine Künstler sein. Denn der Künstler schafft in seinem absichts­vollen Ausdrucks­willen erst die Bedeu­tung. Musik ist eben doch mehr als „orga­ni­sierter Klang“ oder die Kulti­vie­rung des Uner­war­teten. Durch den Künstler bekommt sie ihren Gehalt, ihre Rele­vanz, ja ihre „Seele“.

Um schließ­lich die Urangst der mangelnden Beherrsch­bar­keit des Digi­talen zu über­winden, hilft nur eins: ihre Technik zu beherr­schen! Algo­rithmen sind Werk­zeuge wie ein gut gebautes Musik­in­stru­ment oder die perfekt gelun­gene Farb­mi­schung auf einer Palette. Der Künstler der Zukunft wird sich virtuos daran bedienen. Wenn er nicht selbst tech­nik­affin ist, wird er einen Digi­ta­li­täts­experten an seiner Seite haben wie heute einen Bühnen­bildner oder Drama­turgen. Er wird neugierig mit den digi­talen Möglich­keiten spielen, wie man mit den tech­ni­schen Möglich­keiten eine Geige oder dem Pinsel auf der Lein­wand spielen kann.

Dem Menschen gehört seine Neugier, die ihn immer weiter treibt.

Und was ist nun das Urmensch­liche im Ange­sicht der Maschine? Dem Menschen bleibt die der Kunst so nahe­ste­hende Welt der Emotion, die durch Maschinen allen­falls simu­lierbar, nicht jedoch real erweckbar bleibt, sein Wille zur Gestal­tung und zum Ausdruck. Dem Menschen gehört die Welt der Zwischen­töne abseits von null und eins, die Komple­xität durch Irra­tio­na­lität, die mit keinem Algo­rithmus erre­chenbar ist, das im wahrsten Sinne des Wortes „Mensch­liche“, die einzig­ar­tige Schön­heit seiner Fehler­haf­tig­keit. Und dem Menschen gehört seine Neugier, die ihn im Gegen­satz zu allen anderen Lebe­wesen und zu den Maschinen immer weiter treibt – sicher auch bis zur nächsten Revo­lu­tion.

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