Dina Ugorskaja

Inne­halten, Sinnieren, Rück­erin­nern

von Jens Laurson

24. Dezember 2019

Die letzte Einspielung der am 17. September 2013 viel zu früh verstorbenen Pianistin Dina Ugorskaja ist Franz Schubert gewidmet.

Die letzte Einspie­lung der am 17. September 2013 viel zu früh verstor­benen Pianistin Dina Ugor­skaja ist gewidmet.

Als Dina Ugor­skaja im Dezember 2017 einen Klavier­abend im Münchner Herku­les­saal bestritt, befand sich auch Schu­berts große Sonate in B‑Dur auf dem Programm. Nach düsterem späten Schu­mann und welt­ent­frem­detem Skrjabin konnte man kaum ahnen, dass Schu­berts Klavier­so­nate D 960 noch dunkler, noch packender sein sollte. Kleinste Kanten und Span­nungen zwischen zwei Noten wurden unter die Lupe genommen und abge­zupft wie der Schorf von einer alten Wunde. Es wurde zu einer Art musi­ka­li­schem Rorschach­test: Dina Ugor­skaja spielte Schubert’sche Noten, und die Hörer sahen Nacht­wa­chen-Schatten, schwarze Schmet­ter­linge oder huschende Nazgûl.

Intensiv und gewis­sen­haft erfor­schend

Das Bild dieser nur acht Monate später entstan­denen Aufnahme ist gering­fügig minder dunkel, etwas lyri­scher und weniger mit Salz in der Wunde bohrend – jedoch ähnlich intensiv und gewis­sen­haft erfor­schend. Das bringt rekord­ver­däch­tige Tempi mit sich, ohne auf Rekorde aus zu sein: Fast 50 Minuten für die Sonate – und davon fast die Hälfte allein für den sich zart auftür­menden ersten Satz – stellen eine Tour de Force dar. Im Andante sostenuto, nur von noch ausla­dender ausein­an­der­pflückt, nimmt Ugor­skaja verhalten Fahrt auf.

Erleich­te­rung, nicht Triumph

Man muss sich Zeit nehmen, um ihr Inne­halten im Spiel, das Sinnieren, das Rück­erin­nern mitzu­er­leben. Die rechte Hand singt, die linke strei­chelt den Hörer, nur um ihn im dritten Satz in die Rippen zu stupsen. Das Finale, Allegro ma non troppo, ist anfäng­lich nach­denk­li­cher als das freund­liche Perlen bei Michael Endres oder die granit-kühle Energie eines Wilhelm Kempff und derweil weniger auf Kontrast aus, als der im Pedal schwim­mende, zwischen Gaze und Gewit­ter­sturm schwan­kende selbige Satz von Bunia­tish­vili. Der zurück­hal­tender als üblich gespielte Schluss ist Erleich­te­rung, nicht Triumph.

Dunkle Rot- und warme Braun­töne

Umwehte ein Trau­er­flor die Drei Klavier­stücke D 946, es käme nicht über­ra­schend: Schu­bert erahnte seinen baldigen Tod. Dina Ugor­skaja wusste um den Ihren. Die Einspie­lung vom Januar 2019 war ihre letzte, bevor sie am 17. September dieses Jahres den Kampf gegen den Krebs verlor. Zwar wirkt das Es-Dur-Alle­gretto profunder, als gemeinhin gängig, aber keines­wegs Trübsal blasend. Ugor­skaja erforscht eher die Farben – dunkle Rot- und warme Braun­töne –, als dass sie senti­mental wird. 

Ein Bild von Ernst und Stärke durch Verletz­lich­keit

Als Dina Ugor­skaja ein Bild für die CRESCENDO-Foto­strecke „Was zieh« ich nur an?” (Ausgabe 04/2019) einschi­cken sollte, wählte sie nicht ein Bild mit noch vollem, lockigen Haar, sondern eines mit kurzem, wieder – aber nun glatt – nach­ge­wach­senen Haaren. Die großen Augen sind weit offen und auf sanfte Weise heraus­for­dernd. Es ist gänz­lich ein Bild von Ernst und Stärke durch Verletz­lich­keit, von Demut und Entschlos­sen­heit. Es ist das Bild, das auch diese letzte Aufnahme schmückt. In Anleh­nung an Franz Grill­parzer scheint sie uns, die wir Dina Ugor­skajas viel zu frühen Tod betrauern, von reichem Besitz, aber noch viel schö­neren Hoff­nungen zu erzählen. 

Franz Schu­bert: „Piano Sonata D 960, Drei Klavier­stücke D 946,
Moments musi­caux D 780“, Dina Ugor­skaja (CAvi)

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