Dmitri Schostakowitsch, Ennio Morricone u.a.

Der Sound­track der Flim­mer­welt!

von Teresa Pieschacón Raphael

8. Februar 2018

Sie dröhnen, romantisieren, zitieren und lassen schweigen. Sie beschwören Vorahnungen und schaffen Gewissheiten. Eine Reise in die Welt der Filmmusik von »Dr. Caligari« bis »Spiel mir das Lied vom Tod«.

Grell und spitz stoßen die hohen Violinen zu, messer­scharf sausen die Geigen-Glis­sandi herab, es kreischt und sägt, „fortis­simo, brutale“, wie es in der Partitur von Bernard Herr­mann (1911–1975) steht. 53 „Cuts“ in 136 Sekunden, die Frau in der Dusche wird regel­recht zerhackt. Man sieht es nicht in Hitch­cocks Psycho – aber die Musik lässt es hören. Ob Messer­zü­cken, Kuss oder Cliff-Hanger: Nichts geht im Film ohne Musik. Sie verstärkt Gefühle und Fanta­sien und lässt Menschen umso lieber ins Kino gehen. Schon zu Stumm­film­zeiten: 1917 wurden täglich 14 Millionen Tickets verkauft, in Paris 1915 allein im Oktober ganze 1,6 Millionen – fast die Hälfte der dama­ligen Einwoh­ner­zahl.

Regel­rechte Stumm­film­ka­the­dralen wurden erbaut, wie das Roxy Theatre in , dessen spek­ta­kulär goldenes Audi­to­rium fast 6.000 Sitz­plätze fasste. Kino­or­geln produ­zierten alle Klang­farben und Geräu­sche, dazu ein Orchester von 110 Mann nebst gemischtem Chor und Vokal­so­listen. Ob Mozart, Massenet, Weber oder Sibe­lius, Wagner oder Bizet: Die Musik wurde an die Stim­mung und das „Cue sheet“ ange­passt, die von den Produ­zenten heraus­ge­ge­bene Liste der Stellen, an denen Musik statt­finden sollte.

Trailer zu Robert Wienes Film Das Cabinet des Dr. Cali­gari

Frei­zügig der Umgang mit dem kompo­si­to­ri­schen Mate­rial: „Das Motiv für Cali­gari holten wir uns bei Straus­sens Till Eulen­spiegel“, schil­dert Film­kom­po­nist Ernö Rapée 1919 die Suche nach passender Musik für Das Cabinet des Dr. Cali­gari. „Um Cäsar, den Träumer, zu etiket­tieren, pumpten wir uns ein biss­chen was von Debussys Nach­mittag eines Fauns.“ In kleinen Kinos führte ein Pianist durch den Film. Schlager, Gassen­hauer, Ragtime oder Opern­med­leys, jedes Genre musste er parat haben – inklu­sive ein „Achtung! Gefahr!“ signa­li­sie­rendes Tremolo. Musik, die an jeder Stelle abge­bro­chen oder verlän­gert werden konnte.

„Wir brauchten das Geld bitter nötig“, beschreibt , wie er Anfang der 20er-Jahre in Lenin­grad im „Aurora“ seine „Muggen“ verdiente. Seinem Lehrer Glasunow versi­cherte er, „dass ich kein Lotter­leben treibe; die Sache steht schlimmer. Mit der Arbeit am Cine­ma­to­graph bin ich völlig aufge­schmissen […] Wenn ich nach Hause komme, [klingt mir] immer noch die Kino­musik in den Ohren, und vor meinen Augen stehen die Helden und sind mir böse […] Ich stehe sehr spät auf, mit schwerem Kopf und unpas­senden Gefühlen. Es krie­chen mir unan­stän­dige Gedanken in den Kopf, etwa: Ich hätte mich für 134 Rubel an das ‚Sevza­pino‘ verkauft und sei nun zum Kino­pia­nist geworden.“ Das Kompo­nieren frus­trierte ihn: „ein Trom­mel­schlag beim Eintritt eines neuen Helden; ein munterer ener­gi­scher Tanz für die posi­tiven Helden, ein Foxtrott für die ‚Zerset­zung‘ und eine muntere Musik für das glück­liche Finale“. Dennoch wird er 40 Film­mu­siken schreiben.

Film­musik von für René Clairs Entr’Acte

„Keine Hure liebt je ihren Freier, und sie will ihn so schnell wie möglich loswerden, sobald sie ihre Dienste bereit­ge­stellt hat. Das ist mein Verhältnis zu Holly­wood. Ich bin die Hure“, brachte es auf den Punkt. Dennoch gelang es Kompo­nisten, auch eigen­stän­dige Musik zu schreiben, wie für Im Kampf mit dem Berge (1921) oder Erik Satie für René Clairs Entr’Acte (1924). Saties Musik ist so absurd wie der Film selbst, ein musi­ka­li­sches Kalei­do­skop, das nie zum Puzzle wird. Passend dazu die Auffor­de­rung an das Publikum: „Bringen Sie schwarze Sonnen­brillen mit. Oder etwas, mit dem Sie die Ohren verstopfen können.“

Eine Revo­lu­tion löste 1927 die Erfin­dung des Tonfilms aus. Die auf das neue Licht­ton­ver­fahren stan­dar­di­sierte Film­rolle war billiger als der Unter­halt eines Kino­or­ches­ters, der seiner­zeit 200.000 Dollar jähr­lich verschlang. Kleine Kinos konnten sich nun die (einma­lige) Anschaf­fung eines Projek­tors für 15.000 Dollar leisten. Musiker aber wurden über Nacht arbeitslos.

Trailer zu M von mit Edvard Griegs Melodie In der des Berg­kö­nigs

Fritz Langs legen­därer Film M von 1931 nutzt die Sprache des Stumm­films und verbindet sie mit den neuen Errun­gen­schaften. Er setzt die bis dahin illus­trie­rende Film­musik drama­tur­gisch ein: Immer, wenn der Kinder­mörder einem Mädchen begegnet, wenn in ihm Mord­ge­danken aufsteigen, pfeift er die Melodie von In der Halle des Berg­kö­nigs aus Griegs Peer-Gynt-Suite. An der Melodie wird der blinde Händler, der dem Mädchen einen Luft­ballon verkauft, die Gefahr erkennen.

Mit der Welt­wirt­schafts­krise 1929 schöpfen viele Dreh­buch­au­toren ihre Stoffe aus Presse- und Gerichts­akten, die die korrupte ameri­ka­ni­sche Justiz und Politik und die soziale Misere anpran­gern. Es ist die Stunde des Film noir, seine Sujets vertragen keine Musik­re­tu­sche. Misere als sarkas­ti­sche Kari­katur setzt Chaplin genial in Moderne Zeiten 1936 in Bild und Musik um. Der Held als hilf­loses Zahn­räd­chen im Produk­ti­ons­ge­triebe spricht nicht, dafür die Musik: Muntere Quick­steps folgen den eintö­nigen, immer schnel­leren Bewe­gungen des Arbei­ters am Fließ­band. „Mickey-Mousing“ nannte sich das Verfahren, jede Bewe­gung musi­ka­lisch zu verdop­peln. „Der Schau­spieler kann seine Augen­braue nicht hoch­ziehen“, witzelte , „ohne dass die Musik ihm dabei hilft.“ Und meinte damit nicht Chaplin, sondern Max Steiner, der diese Methode exzessiv betrieb. Doch Steiner (1888–1971), eins­tiger Schüler von , war auch ein begabter Kompo­nist, wie seine Musik zu Vom Winde verweht (1939) zeigt.

Trailer zu Gone with the Wind mit der Musik von Max Steiner

Drei Stunden Musik inklu­sive Ouver­türe, in zwölf Wochen kompo­niert, dank Aufputsch­mit­teln. 16 Leit­mo­tive und über 300 Einzel­num­mern, die er geschickt aus Motiven des musi­ka­li­schen MGM-Firmen­si­gnets entwi­ckelte, das jeden Film als „musi­ka­li­sches“ Marken­zei­chen einleitet. Während Stei­ners Musik vorwie­gend illus­trativ bleibt, brachte Franz Waxmann (1906–1967) eine psycho­lo­gi­sie­rende Ebene hi­nein. Sein chro­ma­ti­sches Rebecca-Thema aus dem gleich­na­migen Hitch­cock-Film von 1940, taucht nur kurz auf, bleibt dennoch präsent, in vari­ierter Form, wie ein Geist, der durch die Zimmer wandelt – der Prot­ago­nistin Rebecca ähnelnd, die tot ist und dennoch die Hand­lung bestimmt.

Konge­nialer Höhe­punkt der Zusam­men­ar­beit zwischen Regis­seur und Kompo­nist ist Herr­manns Musik zu Orson Welles« Citizen Kane (1941). Eine formal gleich­blei­bende Früh­stücks­szene zeigt den Verfall von Kanes erster Ehe. Erste Einstel­lung: lang­samer senti­men­taler Walzer für das liebende Paar. Zweite Einstel­lung: burlesk-heitere Varia­tion. Das Paar scherzt. Dritte Einstel­lung: aufge­regte Varia­tion. Emily ist nun strenger ange­zogen, die Stim­mung gereizt. Vierte Einstel­lung: Disput zwischen den Eheleuten, die eins­tige Walzer­me­lodie ist in Rede und Gegen­rede aufge­teilt. Fünfte Einstel­lung: offener Streit. Das Dies-Irae-Motiv klingt an. Sechste Einstel­lung: Lichte Walzer­fetzen erin­nern an das eins­tige Glück. Die Melodie hat sich aufge­löst wie die Ehe.

Trailer zu William Fried­kins The Exor­cist mit der Musik von

Deskriptiv und psycho­lo­gi­sie­rend ist auch die Musik von Miklós Rózsa zu Billy Wilders Das verlo­rene Wochen­ende (1945). Eine zirpende Violine ahmt die Laute der Mäuse nach, die der Trinker im Deli­rium zu sehen glaubt. Solche Eindring­lich­keit ist selten. Meist ist Film­musik reines „Illus­tra­ti­ons­ma­te­rial“, auch die bereits kompo­nierte. Im Spiri­tismus-Schinken Der Exor­zist (1972) gibt’s Musik von Webern, Pender­ecki und Henze, frei nach Johann Sebas­tian Bach: Wo immer der Böse die Hand im Film­spiel hat, dort ist „ein teuf­lisch Geplärr und Geleier“, wo immer der Gute, da schwelgt das Orchester.

Ausnahmen bestä­tigen die Regel: Kunst­voll verzahnt Stanley Kubrick in Barry Lyndon die Duell­szenen mit Händels Sara­bande d‑Moll. In Wilders Boule­vard der Dämme­rung erscheint die alternde Diva zu Bachs d‑Moll-Toccata; die Musik unter­streicht eins­tige, unwie­der­bring­liche Pracht. Mit Wagners Walkü­ren­ritt ziehen ameri­ka­ni­sche Soldaten in Apoka­lypse now in den -Krieg.

Ennio Morricones Mussk zu Spiel mir das Lied vom Tod von Sergio Leone

Meist bedient sich Film­musik der Stan­dard­vo­ka­beln. Beet­ho­vens Für Elise steht für klein­bür­ger­liche Enge, ein Wiegen­lied für Mutter­ge­fühle, Spiel­do­sen­musik für ameri­ka­ni­sche Weih­nacht, Trom­peten für die Helden, Oboen-Lieb­lich­keit für länd­liche Atmo­sphäre, Blues auf verstimmtem Klavier für lieder­liche Knei­pen­stim­mung, behä­bige Strei­cher­pracht plus Cembalo für aris­to­kra­ti­sches Milieu. Horror, wenn die Kontra­bass­kla­ri­nette klingt. Und die Stille? Meis­ter­haft setzt sie in Spiel mir das Lied vom Tod ein, zwischen schwel­ge­ri­schen Orches­ter­pas­sagen und dem berühmten Mund­har­mo­nika-Motiv.

Heute aber domi­niert die volle Dröh­nung, wie Hans Zimmers „Wall-to-Wall Score“-Methode: Ein Groß­teil des Films wird mit Musik unter­legt. Zimmer weiß sich zu vermarkten – jeden­falls besser als , dessen Werke ohne sein Wissen in Kubricks 2001: Odyssee im Welt­raum „verar­beitet“ wurden. Ligeti hatte nichts dagegen, wäre aber gerne dafür hono­riert worden. „Sie werden ihren Prozess in , und London gewinnen“, schrieb ihm seiner­zeit MGM zynisch. „In Los Angeles aber können wir ihn 20 Jahre dauern lassen. Wollen Sie lieber jetzt 1.000 Dollar?“ Schließ­lich bekam er 3.000 Dollar.

Einen Blick in die harten Arbeits­be­din­gungen gab bereits Roland-Manuel 1947: Film­musik-Kompo­nisten werden wie „Maler“ bestellt, „um Ausbes­se­rungs­ar­beiten in einer (fertigen) Wohnung durch­zu­führen“. Dann „sieht sich der unglück­liche Musiker, versehen mit einer Stoppuhr, begleitet von einer mitleid­vollen Cutterin, einem heil­losen Durch­ein­ander gegen­über, dem Rohschnitt des Films“. Der Regis­seur gibt zu verstehen, „der Sonnen­auf­gang am Anfang der dritten Film­spule“ funk­tio­niere nicht, „eine ausdrucks­volle Sinfonie von 20 Sekunden Länge“ müsse her. Dann noch ein schönes Cello-Solo, um eine miss­ra­tene Szene zu retten. Tele­fo­nisch werde man ihm die endgül­tige Länge der Sequenzen mitteilen. „Acht Tage und acht Nächte sitzt unser Mann an 40 Minuten Musik … unter­bro­chen von Tele­fon­an­rufen der Cutterin, die ihm mitteilt, dass der Vorspann nun doch länger werde … dass die eine Sequenz von Rolle 7, für welche die Musik schon fertig ist, … unter den Tisch falle.“ Dann hört der Kompo­nist lange nichts, bekommt eines Tages eine Einla­dung zur Film­pre­miere. „Dort ist die Über­ra­schung hart … Das Geräusch des Krans über­deckt die Musik, die ursprüng­lich den Lärm der Stadt nach­zeichnen sollte … Die ursprüng­lich für das Shakespeare’sche Theater geschrie­bene elisa­be­tha­ni­sche Musik wurde dem Streit im Postamt unter­legt: char­manter Einfall des Regie­as­sis­tenten … Noch vor dem Ende der Vorfüh­rung ergreift der Kompo­nist die Flucht.“ Kein einfa­cher Beruf also. Und dann noch der Spott. „Wo soll denn um Himmels Willen mitten auf dem Ozean Musik herkommen?“, lästerte Hitch­cock, als er eine Szene auf See insze­nierte.

Fotos: Der größte und prächtigste Filmpalast der Welt, das Roxy Theatre 153 West 50th Street von New York, am Eröffnungstag, dem 11. März 1927, historische Aufnahme.