Georges Rouault
»Ein Schrei in der Nacht!«
von Ruth Renée Reif
26. Mai 2021
Georges Rouault schaute mit unerbittlichem Blick auf die Welt und brachte in seinen Bildern sein Entsetzen über das Leid zum Ausdruck. Am 27. Mai 2021 jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal.
Georges Rouault erregte erste Aufmerksamkeit, als er 1903 beim Pariser Herbstsalon ausstellte. Präsident des Salons war damals der Maler Georges Desvallières, der die christliche Kunst erneuern wollte. Seine Ideen übten eine große Anziehungskraft auf Rouault aus.
Eine weitere wichtige Begegnung für Rouault war 1904 die mit dem Schriftsteller Léon Bloy, einem asketischen und fanatischen Anhänger des katholischen Glaubens, der sich einen „Pilger des Absoluten“ nannte und als Prophet verstand. Mit ihm pilgerte Rouault nach Ligugé, wo sich die Abtei Saint-Martin befand, die Martin von Tours 361 als erstes abendländisches Kloster gegründet hatte, und wo der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans ein Gemeinschaftshaus für katholische Künstler gründen wollte.
Für eine Sensation sorgte Rouault beim Pariser Herbstsalon 1905 mit dunkelleuchtenden Bildern von Clowns und Dirnen. Wie viele Expressionisten wurde auch er von der Zirkuswelt, den Jahrmärkten und der Prostitution angezogen. Doch brachte er in seinen Bildern die schmerzvolle dunkle Seite, das düstere Elend und den Schmerz und sein Entsetzen darüber zum Ausdruck. „Ein Schrei in der Nacht! Ein ersticktes Schluchzen! Ein Lachen, das sich selbst erwürgt“, beschrieb er seine Werke. Ihre glutvollen Farben, die aus schwarzen mit leidenschaftlichem dicken Pinselstrich aufgetragenen Konturen hervorleuchteten, weckten die Assoziation an gotische Kirchenfenster.
Tatsächlich kam Rouault, als Sohn eines Handwerkers in Paris geboren, mit 14 Jahren zu einem Glasmaler in die Lehre und wirkte an der Restauration der Kirchenfenster von Saint-Séverin, der ältesten Kirche von Paris im Quartier Latin, mit. 1891 begann er ein Studium an der École des Beaux-Arts, wo er ein Lieblingsschüler des symbolistischen Künstler Gustave Moreau wurde und Henri Matisse und Albert Marquet zu seinen Mitschülern gehörten. Aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Moreau begeisterte ihn für mittelalterliche Kunst und ermutigte ihn zu seiner Arbeit.
Zum Schwarz und Grün der Zirkusbilder, dem Violett der Prostitution und dem Blau fantastischer Landschaften trat das Rot der Gerichtshöfe. Um 1907 begann Rouault eine Reihe von Richterbildern. Die in dunklen Rottönen gemalten satirischen Darstellungen sind eine böse Anklage. Rouault geißelt in ihnen die Komödie der Gerechtigkeit.
»Ich bin der Efeu des ewigen Elends, der sich an die aussätzige Mauer klammert, hinter der die aufrührerische Menschheit ihre Laster und ihre Tugenden verbirgt.«
Georges Rouault über seine Arbeit als Künstler
Von 1918 bis 1928 schuf er für den Kunsthändler Ambroise Vollard Radierungen als Illustration für zahlreiche Bände, darunter La réincarnation du Père Ubu von Vollard, Les Fleurs du mal von Charles Baudelaire, und Miserere et guerre. Zu diesem Buch, das erst 1948 erschien, verfasste Georges Rouault selbst den Text in Form eines Gedichts, in dem er sein Schicksal als Künstler beschrieb. Er verbringe jeden Tag im Leiden, als liege er auf einem Nesselbett, bis er zum nächsten Leben gerufen werde. Morgen werde schöner sein, ist er mit Blick auf seinen Tod und das Jenseits überzeugt.
Erst 1929 wandte er sich wieder der Malerei zu. Hundertfach übermalt, entstanden in einem letzten Lebensabschnitt Bilder von dunkler Pracht. Bei seinem Tod 1958 in Paris konnte Georges Rouault auf sieben Jahrzehnte künstlerischen Schaffens zurückblicken. Seine Werke sind in die Museen der Welt verstreut.