Giora Feidman

Frieden ist ein Grund­be­dürfnis!

von Klaus Härtel

7. Februar 2021

Musik ist für den Klarinettisten Giora Feidman ein Gebet ohne Religion. Im Gespräch erzählt er von seinen musikalischen Erfahrungen und wie sehr Musik über allen Religionen steht.

„Die Klari­nette ist das Mikrofon meiner Seele!“ Mit diesen Worten wird gerne zitiert. Eigent­lich aber sei jedes Instru­ment Mikrofon der Seele, fügt er hinzu. Denn das Instru­ment ist das Medium, sich selbst auszu­drü­cken. „Mit der Klari­nette über­setze ich ja nur die Sprache, die man Musik nennt.“ Bedeu­tender als das „womit“ ist für den Musiker das „für wen“. Denn das Publikum ist dem 85-Jährigen das aller­wich­tigste. Mit seinen Zuhö­rern möchte er seine Leiden­schaft für die Musik teilen. Über alle Grenzen, Natio­na­li­täten und Reli­gionen hinweg. „Musik ist ein Gebet ohne Reli­gion“, ist Feidman über­zeugt.

Giora Feidman spielt im Smolarz Audi­to­rium in Tel Aviv The Jewish Melody. Er beginnt seine Konzerte stets mit einem Auftritt aus dem Publikum, und damit setzt die Musik ein, die wie ein einziger Strom ohne Unter­bre­chung bis zum Ende dahin­fließt und bei der auch das Publikum zur Mitwir­kung einge­laden ist.

Gleich zu Beginn des Gesprächs räumt Giora Feidman mit einem weit­ver­brei­teten Miss­ver­ständnis auf: Klezmer ist gar keine Musik. Klezmer ist der Musiker. Das Wort setzt sich nämlich aus den hebräi­schen Worten „kli“ und „zemer“ zusammen. Wört­lich sei ein Klezmer ein „Gefäß des Liedes“. „Der Körper ist das Instru­ment, das die Sprache spricht, die wir Musik nennen.“ Klez­morim stammen ursprüng­lich aus dem asch­ke­na­si­schen Judentum und entwi­ckelten um das 15. Jahr­hun­dert eine Tradi­tion welt­li­cher, nicht­lit­ur­gi­scher jüdi­scher Musik. Sie orien­tierten sich dabei an reli­giösen Tradi­tionen. Ihre musi­ka­li­sche Ausdrucks­weise entwi­ckelte sich indessen weiter bis in die Gegen­wart. Das Reper­toire bestand vor allem aus Musik zur Beglei­tung von Hoch­zeiten und anderen Festen.

Giora Feidman entstammt einer solchen Familie von Klez­morim, deren Tradi­tion er in der vierten Gene­ra­tion fort­setzt. „Mit dieser Musik bin ich aufge­wachsen!“ Seine Vorfahren traten bei Hoch­zeiten, Bar-Mitzwa-Feiern und anderen Feier­lich­keiten im Schtetl des osteu­ro­päi­schen Raums auf. „Mein Vater ist im heutigen geboren. Die eine Hälfte des Orches­ters, in dem er spielte, waren ‚Gypsies‘. Die andere Hälfte war jüdisch.“ Als die Juden das Schtetl verließen und zu Hundert­tau­senden nach auswan­derten, verbrei­tete sich die Klez­mer­kultur welt­weit und wurde sehr populär. Man hörte die Musik in der Synagoge und in den Cafés.

Feid­mans Eltern waren bessa­ra­bi­sche Juden, die um 1905 wegen einset­zender Juden­po­grome nach Südame­rika auswan­derten. „Meinen ersten öffent­li­chen Auftritt hatte ich gemeinsam mit meinem Vater bei einer Hoch­zeit.“ Und Hoch­zeiten seien nicht dafür geeignet gewesen, „meine Technik vorzu­führen oder meinen Klang. Bei einer Hoch­zeit geht es schlichtweg darum, eine natür­liche Energie zu erzeugen, die man Fröh­lich­keit nennt.“ Obwohl man Spuren der Klez­morim in Deutsch­land bereits im 12. Jahr­hun­dert finden kann, wurde der Begriff „Klez­mer­musik“ erst um 1970 geprägt. Und ohne Feidman würde es diese Musik in Deutsch­land gar nicht geben, jeden­falls nicht in diesem Ausmaß. Defi­nitiv hat er diese Musik „konzert­saal­fähig“ gemacht. Der 85-Jährige gilt als einer der Erneuerer der „Klez­mer­musik“. Und eckte bisweilen damit bei Puristen und Tradi­tio­na­listen an. Und tut das immer noch.

»Wenn ich Musik höre, fühle ich mich nicht christ­lich oder jüdisch.«

Feidman nämlich inter­pre­tiert die Begriff­lich­keit „Klezmer“ neu und schafft eine Philo­so­phie: Dem Klezmer, dem Musiker als „Gefäß des Liedes“ kommt es nämlich grund­sätz­lich einmal nicht zuerst darauf an, welche Art von Musik er weiter­gibt. Feidman ist sich seiner Botschaft sicher: Das, was er spielt, ist Klezmer. Er kann gar nichts anderes spielen. Damit aber schafft er eine ganz neue Dimen­sion von Klezmer. „Ich habe Mozart gespielt und ich habe Piaz­zolla gespielt“, erzählt Feidman. Er war Mitglied des Teatro Colón in Buenos Aires und im und spielte mit zahl­rei­chen Ensem­bles. „Ich habe gelernt, dass Musik eine einzige Sprache ist: Musik eben!“ Wenn er ein Konzert spiele, sei es dem Publikum doch egal, welcher Reli­gion er ange­höre. „Wenn ich Musik höre, fühle ich mich ja nicht christ­lich oder jüdisch“.

Giora Feidman scheut sich nicht, das Ave Maria in seine Konzert­pro­gramme zu inte­grieren oder musli­mi­sche Gebete zu spielen. „Ich spiele das Ave Maria ja nicht, um dich daran zu erin­nern, dass Du katho­lisch bist! Was ist, wenn ich einfach den Namen ändere? Music is beyond that! Musik geht über Reli­gion hinaus!“ Deshalb haben seine Tonträger Namen wie „Tango­K­lezmer“, „Klezmer meets Jazz“ oder auch „Feidman plays Beatles“. Giora Feidman hat mit seiner Inter­pre­ta­tion von Klezmer, mit seiner Aufwer­tung der über­grei­fenden Sicht, eine neue Denk­rich­tung ange­stoßen, eine Denk­rich­tung, durch die Klez­mer­musik die Musik des 21. Jahr­hun­derts ähnlich prägen könnte, wie der Jazz das 20. Jahr­hun­dert geprägt hat. Diese Denk­weise lässt sich letzt­end­lich auf jede Musik über­tragen.

Längst ist Feid­mans Idee des Klezmer zu einem Ideal der Völker­ver­stän­di­gung ange­wachsen. Sein Leben lang ist er ein Streiter für den Frieden. „Du doch auch!“, entgegnet er. Das sei doch nicht außer­ge­wöhn­lich. „Nur weil ich ab und zu den Mund aufmache?“ Im Grunde seines Herzens sei jeder Pazi­fist. „Frieden ist ein Grund­be­dürfnis.“ Und Musik kann helfen. Dabei sei es erst einmal neben­säch­lich, was gespielt würde. Es sei doch irrele­vant, ob auf der Bühne Barock oder Schu­bert gespielt würde. Die Haupt­sache sei, dass es die Seele berühre.

Giora Feidman

»Ich träume, dass sich eines Tages jeder in Israel so fühlt, wie ich mich in Deutsch­land fühle.«

Giora Feidman schil­dert eine Bege­ben­heit, die ihn seither begleitet. Im Jom-Kippur-Krieg 1973 habe er für verwun­dete Soldaten gespielt, von denen sich einer Mozart wünschte. „Im Neben­raum lag ein verwun­deter Araber, den ich fragte, ob ich etwas für ihn spielen solle. Er meinte nur: ‚Spiel das, was du eben gespielt hast!‘ ‚Hat es dir gefallen?‘, fragte ich. ‚Ja, das war ein schönes Lied. Ich musste weinen.‘ Dem Soldaten war es egal, dass das Mozart war. Für ihn war es einfach ein schönes Lied. Das ist die Essenz von Musik! Er war ‚der Feind‘, und nun war er ein Bruder – warum war er das nicht schon vor dem Krieg?“

„Ich fühle mich heimisch in diesem Land“, schwärmt Giora Feidman, der während des Gesprächs in fest­sitzt, weil er Corona-bedingt nicht nach Israel zurück­kehren kann. Ihn begeis­tert das heutige gute Verhältnis von Juden und Deut­schen. Nach allem, was während des Holo­caust in Deutsch­land passiert sei, ist „diese Versöh­nung doch der größten Ausdruck der Mensch­lich­keit – oder zumin­dest einer davon – auf diesem Planeten! Das sollte ein Beispiel für alle Menschen auf dieser Welt sein!“ Und nun klingt er beinahe wie King: „Ich träume, dass sich eines Tages jeder in Israel so fühlt, wie ich mich in Deutsch­land fühle.“

Fotos: Felix Bröde