John Axelrod mit MASS

Radi­kales Musik­theater über Leben und Tod

von Ruth Renée Reif

7. Dezember 2018

2018 feierte die Musikwelt den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein. John Axelrod dirigiert in der Düsseldorfer Tonhalle MASS.

John Axelrod diri­giert in der Düssel­dorfer Tonhalle Leonard Bern­steins Mass.

2018 feierte die Musik­welt die 100. Wieder­kehr von Leonard Bern­steins Geburtstag. Über 3.500 Auffüh­rungen seiner Werke in diesem Jubi­lä­ums­jahr belegen die unge­bro­chene Wirkungs­kraft und Beliebt­heit seiner Musik. Zum nach­denk­li­chen Ausklang der Feier­lich­keiten steht am Pult der und diri­giert Bern­steins ambi­tio­niertes Frie­densopus Mass.

Axelrod erin­nert sich an Bern­stein als einen Musiker, der nicht Musik machte, sondern Musik war. „Wenn Lenny diri­gierte, hatte man den Eindruck, als würde das Werk unter seinen Händen entstehen. Er war der erste Diri­gent, der sich in Konzerten an das Publikum wandte und direkt zu ihm sprach. Viel­leicht lässt sich damit auch seine Musik am besten beschreiben: Sie spricht die Zuhörer direkt an.“ Axelrod begeg­nete Bern­stein bereits als 16-Jähriger in seiner Geburts­stadt Houston. An der Grand Opera wurde Bern­steins letzte Oper A Quiet Place urauf­ge­führt. Axelrod spielte Bern­stein auf dem Klavier vor und wurde von ihm als Schüler ange­nommen. Die Arbeit mit ihm war „groß­ar­tiger als jedes Studium an einem Konser­va­to­rium“. Bern­stein lehrte ihn „Musi­ka­lität“. Und ermu­tigte ihn, nicht nur Klavier zu spielen, sondern auch zu diri­gieren. „Ein Diri­gent muss die Menschen lieben“, betonte er. „Denn er spielt auf den Menschen, die auf den Instru­menten spielen.“

„Sie ist eine Meta­pher für den wahr­haft Glau­benden, der den falschen Hoff­nungen stand­hält, die ihn in Versu­chung führen“

Aus der ersten Begeg­nung erwuchs eine lebens­lange Verbun­den­heit mit Bern­steins Musik. Die Dritte Sinfonie mit dem Text des Ausch­witz-Über­le­benden Samuel Pisar, dessen selbst­quä­le­ri­sche Frage „Warum habe ich über­lebt – warum nicht die anderen?“ das Kaddisch zum Holo­caust-Orato­rium werden ließ, wurde zum bedeut­samsten Werk seines Lebens. Axelrod diri­gierte die Premieren von Bern­steins Oper Candide am Pariser Théâtre du und an der Mailänder Scala und brachte alle seine Sinfo­nien, Konzerte und Orches­ter­werke zur Auffüh­rung. Auch sein Vorhaben, im Bern­stein-Jubi­lä­ums­jahr in ein „Epizen­trum“ der euro­päi­schen Akti­vi­täten zu verwan­deln, erfüllte er. Als künst­le­ri­scher und musi­ka­li­scher Leiter des Real Orquesta Sinfó­nica de Sevilla program­mierte er mehr Konzerte mit Bern­steins Musik als jedes andere spani­sche Orchester.

In Mass kulmi­niere Bern­steins Schaffen, befindet Axelrod. „Sie ist die Synthese seiner Musik.“ Es finden sich in ihr nicht nur Bezüge zu seinen übrigen Kompo­si­tionen, sondern auch zu zahl­rei­chen anderen Werken. „Lenny saugte alles an Ideen, Themen, Klängen, Stilen und Worten auf und berei­cherte damit seine Klang­land­schaft.“ Unter­schied­liche Elemente aus der Pop- und Rock­musik sowie dem Jazz in seine Kompo­si­tion einzu­be­ziehen, entsprach seiner Vorstel­lung von einer neuen „ameri­ka­ni­schen Musik“. Auch Axelrod bringt beim Dirigat von Mass die Summe seiner Erfah­rungen zum Einsatz. Er wuchs mit litur­gi­schen Gesängen sowie mit Blues und Gospel auf und verwirk­lichte mit „Clas­si­cal­Rock“ sein eigenes Projekt klas­si­scher Rock-Hits in Orchester-Arran­ge­ments. Mass vergleicht er mit Mahlers Achter Sinfonie: „Sie ist die Oper, die Mahler nie schrieb.“

Bern­stein verfasste Mass in einer Zeit poli­ti­scher Ernüch­te­rung. Die Morde an John F. Kennedy und Martin Luther King, der Viet­nam­krieg und das Erstarken des Rassismus unter Nixon hatten sein Vertrauen in einen Aufbruch, wie er sich in den 1960er-Jahren anzu­bahnen schien, erschüt­tert. In Mass rechnet er ab mit falschen Glau­bens­wahr­heiten. „Sie ist eine Meta­pher für den wahr­haft Glau­benden, der den falschen Hoff­nungen stand­hält, die ihn in Versu­chung führen“, erläu­tert Axelrod. Die einfache Botschaft am Ende sei ein Echo auf A Simple Song: „Gehet hin in Frieden!“ Als sein „Requiem für Mensch­lich­keit“ habe Bern­stein Mass bezeichnet, ein radi­kales Musik­theater über Leben und Tod, Liebe und Verlust.“

Fotos: D. Vass