Olivier Messiaen

Katho­li­zismus und ­Vogel­stimmen

von Sina Kleinedler

14. März 2018

Olivier Messiaen schuf eine einzigartige, unverwechselbare Klangsprache. Sein Schüler Michael Stegemann erinnert sich, welchen Respekt er einflößte und wie er seinen Studenten nur eine Frage stellte.

Rhyth­mus­be­ses­sener, Vogel­stim­men­ver­ehrer, uner­schüt­ter­lich Glau­bender: (1908–1992) ist einer der schil­lerndsten Kompo­nisten des 20. Jahr­hun­derts. Die Mutter Dich­terin, der Vater Shake­speare-Über­setzer – da wundert es nicht, dass Messiaens Musik in beson­derer Weise mit Sprache verbunden ist. Doch auch eine ganz andere Form von Sprache, nämlich die der Vögel, übte großen Reiz auf den fran­zö­si­schen Kompo­nisten aus. Als leiden­schaft­li­cher Orni­tho­loge konnte er mehrere hundert Vögel anhand ihrer Stimmen erkennen. Die Melo­dien ihrer Gesänge machte er zu seinen eigenen, indem er sie zu Musik tran­skri­bierte und in seinen „cahiers“, seinen Notiz­bü­chern, sammelte.

Als Lehrer war Messiaen höchst aner­kannt. Zu seinen Schü­lern am Pariser Conser­va­toire zählten Boulez, Stock­hausen und Xenakis. Auch der Musik­wis­sen­schaftler, Rund­funk­autor, Schrift­steller und Regis­seur war von 1976 an Messiaens Student. Mit gerade einmal 20 Jahren bestand er die Aufnah­me­prü­fung in Paris und
kam in Messiaens Meis­ter­klasse. Für CRESCENDO erin­nert er sich.

Michael Stegemann

»Olivier Messiaen hat immer nur gefragt: ›Warum machst du das so?‹«

Mit sieben anderen inter­na­tio­nalen Kompo­si­ti­ons­stu­denten, unter anderem und Michèle Reverdy, wurde Stege­mann andert­halb Jahre lang von Messiaen ausge­bildet. „Wir hatten alle unglaub­li­chen Respekt vor diesem Meister. Alles, was er sagte, haben wir erst einmal so hinge­nommen. Wenn er sagte, dass er Beet­ho­vens späte Streich­quar­tette nicht möge, weil er die Musik ‚zu grau‘ findet, dann hätte keiner gewagt zu sagen: ‚Entschul­di­gung, Maître, das sehe ich anders.‘“ Während unter den acht in unter­schied­li­chen Stil­rich­tungen – von freier Atona­lität bis zu streng seri­ellen und elek­tro­ni­schen Werken – kompo­nie­renden Studenten immer wieder „die Fetzen flogen“, stellte Messiaen bei Diskus­sionen nur eine simple Frage: „Warum?“ „Er hat nie direkt einge­griffen und gesagt ‚Das gefällt mir‘ oder ‚Das würde ich anders machen‘. Er hat immer nur gefragt: ‚Warum machst du das an der Stelle so?‘ Mit dieser Frage, quasi einem sokra­ti­schen Prinzip, war man gezwungen, seine eigenen ästhe­ti­schen Entschei­dungen auf die Prüf­waage zu legen.“

Trotz aller Bekannt­heit legte Messiaen großen Wert darauf, sich keine „Stil­jünger“ zu erschaffen. Tatsäch­lich gibt es niemanden, der seinen Stil unmit­telbar fort­ge­führt hat. Was aber machte den persön­li­chen Stil Messiaens aus? Rhythmus, Modi, das Nicht­um­kehr­bare, Vogel­stimmen, Reli­gion. Das sind die Para­meter, die seinem Schüler sofort einfallen: „Sein profunder Katho­li­zismus hat ihn manchmal in die Nähe von fast kitschigen Klängen geführt, im guten Sinne. Was ihn ausmacht, sind aber nicht nur einzelne Elemente, sondern deren Kombi­na­tion. Es sind sein Klang, seine Farben. Messiaen ist einer der meist aufge­führten Kompo­nisten der Moderne. Das wäre nicht der Fall, wenn man bei ihm nicht eine Art sinn­li­chen Zugang finden würde, der sich einem, wenn man sich darauf einlässt, unmit­telbar öffnet.“

Michael Stegemann

»Olivier Messiaen dachte in Klängen und Farben«

Ist Messiaens Musik typisch „fran­zö­sisch“? Stege­mann bejaht das: „Er war ein typi­scher Fran­zose, mit seiner Klang­sinn­lich­keit. Bei Messiaen ist es immer der Klang, der an erster Stelle steht. Er dachte in Klängen und Farben – als Synäs­the­tiker hat er bei Klängen tatsäch­lich Farben gesehen! Sehr fran­zö­sisch ist auch sein Verhältnis zur Sprache. Schon seit dem fran­zö­si­schen Barock ist das proso­dische Denken ein wich­tiges Element: Musik ist eine Sprache. Die Kunst, Musik zu schreiben, hat ähnliche Regeln bezüg­lich Gram­matik, Zeichen­set­zung, Längen, Kürzen und Pausen wie die fran­zö­si­sche Lite­ratur. Das findet man bei Lully, Rameau … ganz deut­lich bei Ravel und vor allem Debussy – der war Messiaens Gott, der Aller­hei­ligste von allen. Immer, wenn ich Messiaen höre, habe ich das Gefühl, als ob man eine verständ­liche Sprache in musi­ka­li­schen Klängen wahr­nimmt. Sprache und Klang­farben waren für ihn die beiden Haupt­pa­ra­meter, um Musik zu inspi­rieren und gene­rieren.“

In seinen Analy­se­kursen brachte Messiaen den Studie­renden neben Werken wie Wagners Walküre, Debussys Pelléas et Méli­sande oder Ravels Gaspard de la nuit auch Musik von Kompo­nisten nahe, die außer­halb von kaum oder gar nicht bekannt waren. Stücke seines Lehrers etwa, oder des in Paris gebo­renen : „Diese Kurse haben uns allen die Ohren geöffnet. Messiaen lehrte mich ein bestimmtes Wahr­nehmen von Musik, weit jenseits eines vorder­grün­digen Betrach­tens. Eine Art Entde­ckungs­reise, die ich durch, mit und dank ihm unter­nehmen durfte.“

Michael Stegemann

»Wenn ich Messiaens Musik höre, tauche ich in eine einzig­ar­tige Klang­welt ein«

Auch ganz reale Reisen durfte der junge Deut­sche in Paris mit seinem Lehrer unter­nehmen. Jedes Jahr gab es einen von den Studenten gefürch­teten Pflicht­termin: „Morgens um vier mussten wir mit Messiaen in den Bois de Boulogne, dann hat er mit der Klasse das Erwa­chen der Vögel verfolgt und kommen­tiert. Wir haben es natür­lich gehasst, morgens um drei aufzu­stehen und bei irgend­einem Mist­wetter in den Wald zu fahren“, gesteht Stege­mann und lacht. „Messiaen hat sich immer gewei­gert, die tech­ni­schen Elemente mithilfe derer er die Vogel­stimmen tran­skri­bierte, zu erklären. Er sagte nur: ‚Das muss jeder, der das machen möchte, für sich selbst heraus­finden.‘“ Sein Inter­esse für Orni­tho­logie stand bei Messiaen in enger Verbin­dung mit seinem streng katho­li­schen Glauben. Die Vögel waren für ihn Vermittler zwischen Himmel und Erde und ihre Melo­dien die ursprüng­lichste Musik.

Auf die Frage, ob er den Lehrer auch an der Orgel gehört habe, entfährt Stege­mann ein begeis­tertes „Aber ja!“. Jeden Sonntag gingen viele seiner Schüler in die Trinité, die Kirche, in der Messiaen Orga­nist war. „Ich habe in den andert­halb Jahren sicher 20 große Impro­vi­sa­tionen von ihm erlebt. Das war unglaub­lich. Ich bin und war kein gläu­biger Mensch, aber da hätte man wirk­lich gläubig werden können.“

Auch nach Ende seines Studiums blieb Stege­mann, vor allem durch seine jour­na­lis­ti­schen Tätig­keiten, mit Messiaen in Kontakt. „Messiaen ist einer der ganz wenigen Kompo­nisten, die Sie nach zehn Sekunden erkennen. Sofort weiß man: Das ist Messiaen und kann auch niemand anderes sein. Der höchste Grad von künst­le­ri­scher Voll­endung ist es, wenn man es schafft, eine so unver­wech­sel­bare Perso­nal­sprache zu entwi­ckeln. Davor habe ich stau­nenden Respekt. Wenn ich Messiaens Musik höre, tauche ich in eine völlig einzig­ar­tige Klang­welt ein.“

Fotos: Studio Harcourt / Bibliothèque nationale de France, WDR