KlassikWoche 21/2021
Pfingstgeist in der Klassik? – Fast!
von Axel Brüggemann
24. Mai 2021
Die Erwartungen an den Sommer in Bayreuth, die unrentable Sanierung der Oper Düsseldorf, der Showdown in der Causa Thielemann
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute, am Pfingstmontag, sind wir etwas friedlicher als sonst: Wir fragen, was den blauhaarigen Rezo so sehr gegen die Musiktheorie aufgebracht hat, freuen uns auf den Sommer in Bayreuth und hoffen, dass sich die Lage in Dresden bald entspannt. Viel parsifalscher Taubengeist also in diesem Newsletter.
REZO UND DIE MUSIK
Erinnern Sie sich noch an den blauhaarigen Typen, der bei YouTube einst die CDU „zerstören“ wollte? Jetzt hat er ein neues „Opfer“ gefunden. Keine Partei, kein Mensch, sondern: die Musiktheorie. Rezos These: Im Sport- oder Kunstunterricht wird sofort gekickt und gemalt – in Musik geht es in erster Linie um: Theorie! Klar, Musik kann man auch an der Gitarre autodidaktisch erlernen. Aber Musiktheorie ist durchaus hilfreich: Rhythmus und Tonarten sind die Grammatik der Musik – Musik ist in diesem Sinne eine Sprache, die man lernen muss: so wie Englisch oder Französisch. Subjekt. Prädikat. Objekt. Mag sein, dass Quintenzirkel, enharmonische Verwechslungen und Akkord-Bestimmungen Rezo überfordert haben, für Musik-Genießer ist es auch gar nicht so wichtig, all das zu verstehen. Wir kapieren, wenn wir das Licht anschalten ja auch nicht, wie ein Atomkraftwerk funktioniert. Aber: Musiktheorie kann ein (wie würde Rezo sagen?) neues Level von Musikhören sein. Also für mich macht die Theorie die Praxis auf jeden Fall besonders spannend! Rezo, mach Dich locker! Aber so locker scheinst Du gar nicht zu sein. Sein Video hat er nur einige Tage nach Veröffentlichung auf „privat“ gestellt. Immerhin, der Musiker Johannes David Wolff hat seine geniale Gegenrede noch online – also, wenn Ihr Kind mal keine Lust auf Harmonielehre hat – hier gibt’s Argumente!
WIE ER WOHL WIRD, DER SOMMER IN BAYREUTH
Letzte Woche hatte die SPD in Bayreuth eine Spontan-Idee, ob man das so genannte „Public Viewing“ der Festspiele nicht aufleben lassen könne – organisiert werden soll es (wenn es denn stattfindet) offensichtlich von Stadt und Festspielen zusammen. Wer Langeweile hat, kann sich ja mal die Stadtratssitzung zu diesem Thema anschauen, interessant, wie Politik da über Kultur redet (Top 6, ab 1:32:43). Hier wurde auch der Zusatz-Haushalt für Corona-Unsicherheiten abgesegnet: Im schlechtesten Fall kommen Zahlungen in Höhe von 2,9 Millionen Euro auf die Stadt zu, erläutert Kulturreferent Benedikt Stegmayer. Das würde eintreten, wenn nur 200 bis 235 Tickets pro Veranstaltung verkauft werden könnten. Wenn mehr Publikum zugelassen wird, sinkt diese finanzielle Belastung. Bei 459 verkauften Karten pro Vorstellung wären es noch 2,75 Millionen Euro, 1,62 Millionen Euro bei voller Auslastung. Auch der Bund hat inzwischen nachgezogen und seine Mittel im Falle von Corona-Engpässen auf eine Million Euro erhöht. Bis heute ist unklar, in welchem Umfang die Festspiele am Ende tatsächlich stattfinden werden.
MEHR TRANSPARENZ IN DÜSSELDORF
Die Sanierung der Oper in Düsseldorf wäre unrentabel, da sind sich alle einig. Nun soll es ein Neubau werden. Das Opernhaus würde mindestens 636 Millionen Euro kosten. In Düsseldorf regt sich inzwischen Widerstand gegen die Pläne der Kulturpolitik – besonders wird mehr Transparenz gefordert. Rheinische-Post-Redakteur Arne Lieb bemängelt, dass die Oper in der Vergangenheit viel zu lange im Stich gelassen wurde: „Das Dach des Foyers muss mit Stützen gehalten werden, die Bühnentechnik ist so überaltert, dass jede Aufführung ein Abenteuer ist. Offenbar wurde über viele Jahre beherzt am Bauunterhalt gespart. Eine wenig ansprechende Visitenkarte für die Landeshauptstadt. Jetzt muss etwas passieren. So viel ist auch ohne Gutachten klar: So wie bisher kann es mit der Oper nicht weitergehen.“
SHOWDOWN IN DER CAUSA THIELEMANN?
Nachdem bekannt wurde, dass der Vertrag von Christian Thielemann in Dresden nicht verlängert wird, ist die allgemeine Aufregung allmählich der Einsicht gewichen, dass es nun darum gehen muss, Visionen für die Zukunft zu finden statt der Vergangenheit nachzuweinen. Die Musiker der Staatskapelle haben in einer öffentlichen Erklärung die politische Entscheidung akzeptiert. Man danke Thielemann hieß es im Schreiben des Orchesters, verstehe aber die Notwendigkeit eines neuen Kurses. Man nehme das Angebot von Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) gern an, ließ die Kapelle wissen und will „konstruktiv und aktiv an dieser Entwicklung mitwirken“. Thielemann ist mit seinen Machtspielen immer wieder auf gleiche Art gescheitert: Auch in Dresden setzte er wieder auf alte Netzwerke, die längst ihre Macht verloren haben. Bereits in Salzburg wollte Thielemann nicht wahrhaben, dass er viel zu lange dem „Lame Duck“ Peter Ruzicka vertraute, der sowohl die Kapelle als auch den Dirigenten mit seinen Ratschlägen an die Wand gefahren hat. Und auch jetzt baute er wieder auf ausrangierte Journalisten oder machtlose und greise Freundeskreis-Jasager. Am Donnerstag will Thielemann vor dem Orchester sprechen (wird er versöhnen oder spalten?). Es ist der Kapelle zu wünschen, dass er seinen Kurs der verbrannten Erde aufgibt. Davon hat er an anderen Orten bereits zu viel hinterlassen. Warum nicht einfach dem Operetten-Motto folgen: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“? Auch wenn eine Ära zu Ende geht, muss das ja nicht das Ende der Zusammenarbeit auf allen Ebenen bedeuten. Wie heißt es am Ende von vielen Beziehungen? „Lass uns einfach Freunde bleiben.“ Übrigens, der MDR hat inzwischen zahlreiche Experten gebeten, Visionen für die Staatskapelle zu entwickeln – auch ich durfte da meinen Senf dazugeben und finde: Als Chef hat Thielemann ausgedient, als Musiker wird er auch in Zukunft gefragt sein.
PERSONALIEN DER WOCHE
Gegenwind für den Präsidenten der Akademie der Schönen Künste in München, Winfried Nerdinger: Nachdem er im Namen seiner Institution die staatlichen Corona-Maßnahmen angegriffen und Aktionen wie #allesdichtmachen verteidigt hatte, regt sich Protest aus den Reihen der Akademie. Friedrich Ani, Moritz Eggert, Lena Gorelik, Sibylle Lewitscharoff, Jonas Lüscher, Albert Ostermeier, Hans Pleschinski und andere Mitglieder verwahren sich in einem Beitrag in der „FAZ“ dagegen, dass „Herr Nerdinger sein Amt und den Namen der Akademie dazu nutzt, persönliche Meinungen zu vertreten, die ausschließlich die seinen sind.“ +++ Die Amerikanerin Mei-Ann Chen ist die neue Chefdirigentin im Hause styriarte: Sie wird ab kommender Saison für fünf Jahre dem Klangkörper recreation – Großes Orchester Graz vorstehen. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Förderung junger Komponistinnen. +++ Am heutigen Pfingstmontag springt Anna Netrebko in der konzertanten „Tosca“ bei den Salzburger Pfingstfestspielen für Anja Harteros ein, die kurzfristig absagen musste. +++ Die „Nachtigall aus dem Kohlenpott“, Maria Kouba, ist im 100. Lebensjahr gestorben. Lothar und Sylvia Schweitzer rufen der Sängerin nach, die 1962 die Titelrolle in der französischen Erstaufführung von „Jenůfa“ in Strasbourg gesungen hat.
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt. Obwohl: Diese Woche war es gar nicht so schwer, es zu finden. Viel Gutes habe ich in meinem Posteingang gefunden! Vor allen Dingen unendlich viele Mails, die dankbar für den Link mit dem Lars Vogt-Interview waren und ihre Betroffenheit und Bewunderung für den Pianisten ausgedrückt haben. Und dann noch all die Mails von Pressesprecherinnen und Pressesprechern, die uns Journalisten derzeit entgegenjubeln: ES. GEHT. WIEDER. LOS. Der Posteingang war schon lange nicht mehr so voll – ein Beweis für die Lebendigkeit der Kultur und der klassischen Musik! Aber es gab auch warnende Stimmen, in der NMZ schrieb Albert Otti zum Beispiel: „(…) hinter dem Feuerwerk an Premieren und Konzerten verbergen sich Probleme. Das Hochfahren des Betriebs sei eine ‚wahnsinnige Herausforderung‘, sagte Burgtheater-Chef Martin Kusej. Obwohl sich das Ensemble sehr auf die Aufführungen freue, hätten alle einen lähmenden Stillstand hinter sich. ‚Diese oft existenzielle Krise zu überwinden kostet Energie – kann aber natürlich auch positive Effekte und Erneuerung zur Folge haben‘, sagte Kušej. Außerdem werden Kulturbetriebe wohl noch länger mit einem Mangel an Touristen zu kämpfen haben. Die Staatsoper zählte vor der Pandemie rund 30 Prozent ausländische Gäste, das Kunsthistorische Museum in Wien gar 80 Prozent. Nun hoffe man zumindest auf Besucher aus dem nahen Ausland, sagte eine Museumssprecherin.“
In diesem Sinne – gehen Sie hin, wo immer musiziert wird, und halten Sie die Ohren steif!
Ihr
AXEL BRÜGGEMANN
brueggemann@crescendo.de