KlassikWoche 31/2022
Neun Fragen für den Klassik-Sommer
von Axel Brüggemann
1. August 2022
Die verheerende Bilanz des Deutschen Bühnenvereins, die künstlerisch ausgebrannten Salzburger Festspiele, die neuen Namen bei den Bayreuther Festspielen.
Willkommen in der neuen KlassikWoche
dieses ist der letzte Newsletter vor unserer kleinen, dreiwöchigen Sommerpause. Die Festspiele laufen, die großen Debatten werden leiser. Doch wenn die neue Spielzeit beginnt, werden wir wieder vor vielen alten Fragen stehen. Neun dieser Fragen stehen heute (aus gegebenen Anlässen) im Zentrum des Newsletters. Danke für Ihre Treue! Eine turbulente Spielzeit, in der wir große Debatten geführt haben, neigt sich dem Ende zu. Kultur in einer verrückten Welt. Genau so vielfältig und verrückt wie unsere Themen: alte Männer und neue Konzepte, Missbräuche und Visionen, Kulturpolitik, Ästhetik und die Rolle der Klassik im Krieg, Sparzwänge, Neubauten und Neubesetzungen – und immer wieder die Frage: Was sollten wir ändern, und was muss bleiben… Ich freue mich, wenn wir Ende August gemeinsam weiterdenken.
I. Werden alle wiederkommen?
Die aktuelle Bilanz des Deutschen Bühnenvereins ist verheerend, die Saisonzahlen bedenklich: 86 Prozent weniger ZuschauerInnen, 70 Prozent weniger Aufführungen. Auch wenn es Ausnahmen gibt: Die Corona-Pandemie hat zu einem Kahlschlag bei deutschsprachigen Theatern geführt. Vielleicht auch, weil uns nur wenig Neues einfällt? Das am häufigsten gespielte Werk war (mal wieder!) Mozarts Zauberflöte, den höchsten Publikumszuspruch hatte Verdis Rigoletto (dank der Bregenzer Festspiele).
Es wird wohl eine der wichtigsten Fragen der kommenden Spielzeiten, wie die Einbrüche überwunden und das Publikum zurückgewonnen werden können. Der Spiegel konstatiert, bereits „viele Theaterchefs stehen plötzlich schlotternd wie nackt im Hemd da“. Mehr Nähe und mehr Verankerung in der Mitte der Gesellschaft ist wohl nur eine unter vielen Möglichkeiten.
II. Was ist eigentlich noch ein Skandal?
Auch in dieser Spielzeit gab es allerhand Skandale, manche (etwa die Causa Siegfried Mauser) waren so groß, so allgegenwärtig und systemimmanent, dass sie uns immer wieder begleitet haben. Andere Skandale entpuppten sich dagegen als Strohfeuer. Vom „Bayreuther-Skandal-Tripel“ der letzten Woche ist auf jeden Fall nur wenig geblieben: Die beiden Frauen, die sich bei einer Regionalzeitung über sexuelle Übergriffe beklagt haben, meldeten sich weder anonym noch öffentlich im Theater oder bei der Polizei, dass Christian Thielemanns Schnodder-Mail über Musikerinnen im Orchester eher eine kleine Dummheit war, scheint inzwischen jedem aufgefallen zu sein, und was Katharina Wagner betrifft – sie hat ihren Fall längst selber geklärt.
Vielleicht ein guter Anlass für uns JournalistInnen zu fragen, warum wir vielen Mini-Skandalen hinterherrennen und die wirklich großen Skandale so gern links liegen lassen: strukturelle Übergriffe, unfaire Bezahlungen, dubiose Geldquellen oder Machtmissbrauch bringen vielleicht keine Klicks – sollten aber zu unserem Grundgeschäft gehören.
III. Haben die Salzburger Festspiele sich gelohnt?
Das kann ich persönlich nicht beantworten, da ich diesen Sommer nicht da war, die Lektüre der Kritiken gibt allerdings auch künstlerisch ein eher ernüchterndes Bild ab. Die immer gleichen Künstlerinnen und Künstler mit Variationen von Ideen, die wir schon seit Jahren kennen: Romeo Castellucci, Teodor Currentzis, Christoph Loy, Christian Thielemann, Joana Mallwitz, Igor Levit, Barrie Kosky – die Namen lesen sich wie eine Endlosschleife aus den letzten Jahren, die Zauberflöte wäre maximal eine Repertoire-Vorstellung an der Wiener Staatsoper, alles scheint ein wenig ausgebrannt in Salzburg, und die wichtige Debatte über russisches Sponsoring hat leider eine ebenso dringende Debatte über die künstlerische Inspiration an der Salzach überschattet (die Currentzis-Treue hat selbst den seit Jahren hinter den Kulissen gegen Markus Hinterhäuser wetternden Ioan Holender zum dubiosen Hinterhäuser-Fan und zur operettenhaften, nicht mehr ernst zu nehmenden Witzfigur gemacht).
Wenn Intendant Markus Hinterhäuser seinen IntendantInnen-KollegInnen schon erklärt, dass er nur noch wenig Lust auf seinen Job hat – vielleicht sollte er bald Platz für jemanden machen, der den Élan hat, mit dem er selber einmal angetreten ist. Diese Woche wurde immerhin Puccinis Trittico gefeiert, in der Inszenierung von Christof Loy, dirigiert von Franz Welser-Möst. Spektakulär muss Asmik Grigorian als dreifache Naturgewalt gewesen sein. Aber auch das gehört längst zur Salzburg-Tradition.
IV. Haben die Bayreuther Festspiele sich gelohnt?
Immerhin beweist Bayreuth Risiko und Neugier auf neue Namen, die Salzburg derzeit fehlen. Nachdem Einspringer-Dirigent Markus Poschner zum Matchwinner auf der ästhetischen Tristan-Scheibe und der Drei-Liebes-Jahreszeiten-Parabel von Roland Schwab wurde, hatte gestern das Rheingold-Première. Die Erwartungen waren groß, bislang musste Regisseur Valentin Schwarz hauptsächlich über seinen Netflix-Ring reden (Corona hatte einer Aufführung zwei Jahre lang einen Strich durch die Rechnung gemacht).
Hier der Anfang meiner Rheingold-Besprechung für das Bayreuth-Tagebuch, das morgen beim Cicero erscheint: „Kennen Sie das? Man ist so ziemlich dicht, aber man hat noch eine geniale Idee, bevor es ins Bett geht. Plötzlich ist völlig klar, wie man morgen die Welt retten wird. Wenn man dann allerdings aufsteht, passt alles irgendwie nicht mehr ganz zusammen. Nüchtern betrachtet, geht die genialste Idee manchmal einfach nicht auf. Bayreuths Ring-Regisseur Valentin Schwarz hatte auch so eine großartige Idee. Genau genommen waren es zwei: Weltengott Wotan und sein Gegenspieler Alberich wachsen im gleichen Utero auf. Noch ungeboren, kratzt Alberich Wotan ein Auge aus, dafür tritt Wotan seinem Zwilling zwischen die Beine und sorgt für dessen Unfruchtbarkeit. Schwarz« zweite Idee ist die Antwort auf eine Frage, die erst am letzten Opernabend, in der Götterdämmerung aufkommt. Wenn Bösewicht Alberich den Bösewicht Hagen besucht und fragt: ‚Schläfst Du, Hagen, mein Sohn?‘ Bereits im Rheingold erklärt Schwarz, dass Alberich seinen ‚Sohn‘ gestohlen hat: Der kleine Hagen ist ein unangepasster Junge mit gelbem T‑Shirt und Baseball-Cap im Plantschbecken der Rheintöchter – er ist das ‚Rheingold‘. Ein Vorzeige-Systemsprenger, dessen Talent zu Gewalt, Regellosigkeit und Anarchie Alberich im Kindergärten-Glaskäfig von Nibelheim fördert. Man könnte auch sagen: Er schmiedet den kleinen Hagen zum Weltuntergangs-Kämpfer, zum ‚Ring des Nibelungen‘. Dirigent Cornelius Meister nimmt sich viele Freiheiten, wechselt rasant die Tempi, lässt die Rheintöchter fast absaufen, aber hält den Laden – wenn auch noch ohne größere Akzente – meist zusammen. Schon jetzt ist klar: Ring und Tristan sind zwei Seiten einer Opern-Medaille, und Bayreuth zeigt sie beide.“
V. Müssen wir unsere politische Kultur-Correctness überdenken?
Diese Frage ist meine größte Denksportaufgabe für den Sommer, denn bei diesem Thema bin ich mir über meine eigene Position nicht ganz sicher. Wie politisch korrekt wollen wir sein? Klar, Anna Netrebkos Aida-Blackfacing in der Arena di Verona war dumm, weil es vollkommen unnötig war. Gleichzeitig bin ich sicher, dass Theater immer auch ein Spiel mit Rollen ist (eben ein SPIEL!), und klar: auch ein Spiel der andauernden Aneignung von irgendetwas. Dicke spielen dünne LiebhaberInnen, Leute singen und tun so, als würden sie sprechen, klare DarstellerInnen verkörpern geistig verwirrte, blutrünstige Könige, Weiße spielen dunkelhäutige Charaktere, deren Hautfarbe durchaus wichtig für den Plot sein kann, und Dunkelhäutige können weiße Rassisten verkörpern. Mit anderen Worten: Das Spiel der Aneignungen ist eine wesentliche Grundlage des Theaters. Und dennoch: Heute ist es wichtig, Kontexte zu schaffen, Bewusstsein, Aneignungen zu verdeutlichen, zu argumentieren – und sichtbar zu machen, wer sich warum diskriminiert fühlen könnte. Dennoch, so glaube ich, muss das Spiel oberstes Gebot allen Theaters bleiben, die Verwandlung, die Rolle – die Behauptung des Falschen als Richtiges. Ich schreibe diesen Punkt, weil das Berliner Ensemble eine private Firma engagiert hat, die Inszenierungen sichtet und dabei nach rassistischen Klischees und sensiblen Inhalten sucht. Am Ende des Tages aber geht es wohl darum, dass wir alle verantwortlich auf unsere Kunst schauen – und ihre Grenzen immer wieder neu definieren.
VI. Können wir uns Klassik-Bauvorhaben noch leisten?
In München herrscht noch immer eine politische „Denkpause“, es ist nicht klar, ob das Konzerthaus je gebaut werden wird. Markus Söder tritt auf die populistische Spar-Bremse. Und tatsächlich scheint es eine große Frage der kommenden Jahre zu sein, wie man mit geplanten Großprojekten umgeht. Viele Häuser hoffen auf Sanierungen oder Neubauten – aber die öffentlichen Gelder werden knapper, und einige Großprojekte stehen schon wieder in Frage. Immerhin in Stuttgart – dem mit einer Milliarde Euro wohl teuersten Sanierungs-Projekt – scheint es jetzt weiterzugehen. Die baden-württembergische Landesregierung will nun eine gemeinsame Projektgesellschaft mit der Stadt Stuttgart gründen. Mit der Projektgesellschaft werde eine solide Grundlage für weitere Entscheidungen geschaffen, sagte Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper.
VII. Muss die Kultur grüner werden?
Wir hatten das Thema schon seit langem immer wieder im Newsletter, inzwischen spitzt sich die Lage zu. Die Angst vor dem Gas-Stopp führt auch in der Klassik zu Notfallplänen. Während Theater in erster Linie Energie und Strom (manche Häuser rechnen mit Mehrkosten von vielen 100.000 Euro) sparen sollen, debattieren Museen bereits, welche Auswirkungen das Abkühlen der Räume für empfindliche Exponate haben kann. Sicher ist: Russlands Krieg in der Ukraine wird auch dafür sorgen, dass die Klassik endlich nachhaltiger gedacht werden muss. Musikkultur beginnt in der Unternehmenskultur, und es wird in Zukunft wohl für jedes Haus und jedes Orchester wichtig sein, die Anreisewege seines Publikums zu überdenken, die Effizienz seiner Gebäude oder die Sinnhaftigkeit von Orchester-Tourneen.
VIII. Wie politisch soll unsere Klassik sein?
Die Debatte um Teodor Currentzis hat in den letzten Wochen viele von Ihnen genervt, ich weiß. Aber ich freue mich, dass Sie verstehen, wie wichtig es mir war (und ist), dass über Rechercheergebnisse auch gesprochen wird, dass nicht nur Fragen gestellt werden, die nicht weh tun, sondern dass wir uns auch in der Musik an der Realität orientieren. Ich habe diesen offenen Diskurs bei den Salzburger Festspielen vermisst, die New York Times hat über Currentzis« tiefe Verstrickungen in die russische Finanzwelt berichtet, über seine Propaganda-Auftritte, und immerhin hat auch das ZDF sich in aspekte dieses Themas angenommen (wenn auch ohne die Gazprom-Touren). Es scheint sich etwas zu bewegen, und ich finde es wichtig, dass wir in der Musik auch so etwas wie Journalismus haben, jenseits ästhetischer Kritik – Augen, die draufschauen, wenn in unserem Betrieb etwas schief läuft. Aber belassen wir es vor den Ferien dabei, ich bin sicher, der SWR wird nach den Ferien noch viele Fragen zu beantworten haben.
IX. Wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vor zwei Jahren, in der ersten Corona-Welle, alle Theater hatten geschlossen, die Bayreuther Festspiele waren abgesagt, da kam das Ehepaar Susanne und Stefan Vinke auf eine grandiose Idee: Wagner-Festspiele im Vinke-Garten. Ich fand das so großartig, dass wir die Première übertragen haben. Und die Festspiele haben sich etabliert. Dieses Jahr stehen ein Lohengrin für Kinder, eine Wagner-Gala, die Fassungen von Siegfried, und Meistersinger auf dem Programm in Hargesheim bei Wiesbaden – und das kann man sich hier anschauen. Und wer dann noch Langeweile am Strand hat: Es gibt einen neuen Podcast des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, der von der Geigerin Anne Schoenholtz moderiert wird (im August darf ich zu Gast sein), und natürlich all unsere Podcasts von „Alles klar, Klassik?“ zum Nachhören: zu Themen wie Regietheater, Neue Musik, Publikumsschwund, Orchestersituation etc.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Festspielsommer oder einfach mal Klassik-Pause. Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann