KlassikWoche 38/2023
Die Freiheit der Musik
von Axel Brüggemann
18. September 2023
Erinnerungen an die 2020 verhaftete belarusische Musikerin Maria Kolesnikowa, von der es seit Anfang des Jahres 2023 kein Lebenszeichen mehr gibt, die Streitereien am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, das neue Orchester oneMusic von Yoel Gamzou.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einem ausführlichen Blick nach Belarus: Wie beeinflusst die Musik die Freiheitsbewegung? Wir beobachten ein klassisches Bashing der Deutschen Bahn, tummeln uns im Wiesbadener Kindergarten und feiern ein neues Orchester. Also: los!
Musik als Soundtrack der Freiheit
Heute beginne ich mit einem Podcast, der mir besonders am Herzen liegt: 2022 standen die Menschen in Belarus auf der Straße und protestierten gegen Diktator Alexander Lukaschenko – in erster Linie: Maria Kolesnikowa. Die Musikerin hatte in Stuttgart Flöte studiert und Kulturmanagement und wurde zu einer Identifikationsfigur der Proteste. Kolesnikowa wurde am 7. September 2020 verhaftet, seit Anfang des Jahres hat die Familie kein Lebenszeichen mehr. Ich habe für Alles klar, Klassik? mit ihrer Schwester, Tatsiana Khomich, gesprochen. Welche Rolle spielte die Kultur in der Freiheitsbewegung? Wie geht es Maria Kolesnikowa, und was können wir in Deutschland tun? Wie wirkt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine auf Belarus aus? Außerdem zu Gast im Podcast: der deutsche Dirigent Wilhelm Keitel, der ein Orchester in Minsk gegründet hat und die Ausländerfeindlichkeit des belarusischen Systems am eigenen Leib erfahren hat. Der Journalist und Belarus-Experte Ingo Petz spricht über den Einfluss der Subkultur in der Protestbewegung, über die Bedeutung von Punk und Rock in Belarus. Den Podcast können Sie hier für alle Formate hören, hier bei apple podcast und, wenn Sie auf das Bild unten drücken, bei Spotify. Wenn Ihnen das Thema ebenfalls wichtig ist, würde ich mich freuen, wenn Sie die Folge teilen. Das Original-Interview mit Tatsiana Kohmich habe ich auch auf YouTube hochgeladen.
Wie Wiesbaden baden geht
Kein Ende des Kindergartens am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, auch, nachdem die Landesregierung Schlichter eingesetzt hat. Nun gingen der Schauspieldirektor Wolfgang Behrens und die Dramaturgin Anika Bárdos öffentlich auf den geschäftsführenden Direktor des Hauses los: „Holger von Berg hat die Grundlagen des Theaterbetriebs unserer Wahrnehmung nach in den letzten beiden Jahren durch sein Handeln nachhaltig beschädigt“, heißt es in einer Stellungnahme. „Er tyrannisiert die MitarbeiterInnen mit offenbar willkürlich sich ändernden finanziellen Ergebnisprognosen, stellt keine ordentlichen Etats zur Verfügung, versäumt zentrale Stellenbesetzungen und hält Verträge zurück…“
Derweil kümmert sich der Wiesbadener Kurier um Rechtsanwalts-Kosten, die entstanden sind, weil der Intendant des Hauses, Kai-Uwe Laufenberg (wie wir ihn hier nennen), mit dem Ex-Orchestervorstand Martin Schneider wegen Antisemitismus-Vorwürfen aneinandergeraten war (und den Rechtsstreit gegen den Trompeter verlor). Hat Laufenberg private juristische Kosten vom Haus übernehmen lassen, obwohl keine Einwilligung des Ministeriums vorlag? Eine weitere Zoff-Baustelle in einem zutiefst zerstrittenen Haus, das auf der Bühne nur noch schwerlich so etwas wie glaubhafte Moral vorstellen kann.
Klassisches Bahn-Bashing
Wir haben an dieser Stelle immer wieder über die Bereitschaft vieler Orchester berichtet, vom Flugzeug auf die Bahn umzusteigen und Tourneen umweltfreundlicher zu gestalten. So auch die Münchner Philharmoniker, die nun von der Deutschen Bahn sitzengelassen wurden und einen Frust-Post auf Facebook absetzten, der sich rasant in den sozialen Medien verbreitete. Auf der Tournee von Luzern über Köln bis Berlin wurden die 200 Mitreisenden gleich dreimal von der Bahn enttäuscht. Zehn Stunden dauerte die Fahrt von Köln nach Berlin, das Konzert musste 25 Minuten verspätet anfangen, eine Radioaufzeichnung musste ausfallen. „Liebe Deutsche Bahn, liebe Verkehrspolitik“, hieß es in dem Post, „wir möchten unser Klima unbedingt schützen. Doch ihr fallt uns in den Rücken, ihr lasst uns im Stich. Wir können uns nicht auf Euch verlassen. Wir können nicht mehr.“
Russia today
150 lautstarke DemonstrantInnen, Boykott der Macbeth-Aufführung durch Berlins Bürgermeister und Kultursenator und am Ende ein jubelndes Publikum – das ist die Bilanz des Anna-Netrebko-Auftritts an der Berliner Staatsoper. Wir haben unversöhnliche Fronten aufeinanderprallen sehen. +++ In Sachen Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester hat nun auch der Vorsitzende des Deutschen Komponistenverbandes, Moritz Eggert, noch einmal nachgelegt und schrieb einen lesenswerten Essay über den „drohenden Niedergang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks am Beispiel des SWR“.
Während die meisten West-KünstlerInnen derzeit auf Engagements in Russland verzichten, steht der deutsche Klassik-Manager Hans-Joachim Frey (einst Brucknerhaus-Intendant und Chef des Semperopernballs) im kommenden Juli als Regisseur auf dem Programm des Bolschoi. Hier soll er den Bajazzo inszenieren. +++ Seine Auftritte in Russland haben dem deutschen Pianisten Justus Frantz wohl eher geschadet – sein Konzert im Cuvilliés-Theater in München am Sonntag verkaufte sich offensichtlich schlecht. Im Netz kursiert ein Schreiben, in dem dafür das Versäumnis von Ankündigungen verantwortlich gemacht wurde. Tatsächlich wird Frantz nach seiner Kuschelei mit dem Kreml in der deutschen Klassik-Szene vornehm ignoriert. +++ Einer der wichtigsten Podcasts zum Ukrainekrieg und zur russischen Propaganda in Deutschland ist der Ostausschuss, unter anderem mit der Historikerin Franziska Davis von der LMU München, dem Historiker Jan Claas Behrends von der Viadrina und dem Militärexperten Gustav Gressel, hat mich eingeladen, um über Putins Netzwerk in der Kultur zu sprechen: Es geht um die Salzburger Festspiele, das Brucknerhaus in Linz, um Hans Joachim Frey, um Sergej Roldugin und natürlich um Teodor Currentzis und den SWR. Hier der Link zum Nachhören.
Interessenskonflikte am Brucknerhaus?
Der Dramaturg und Chefplaner des Brucknerhauses, Jan David Schmitz, hat das Haus nach der Hans-Joachim-Frey-Krise auf die internationale Bühne zurückgebracht. Nun verlässt er Linz und wird in den kommenden anderthalb Jahren seine angesammelten Überstunden abbauen (sic!). Als interimistischen und freiberuflichen Nachfolger hat Brucknerhaus-Chef Dietmar Kerschbaum den Hamburger Künstleragenten Daniel Lebon berufen. Eine heikle Personalie, denn Lebon will auch weiterhin für die Agentur Opus 3 (einen Ableger der Agentur Askonas Holt) arbeiten und hat so natürlich exklusive Einblicke in das Klassik-Leben hinter den Kulissen, die andere Agenturen nicht haben. Das könnte für allerhand Zoff sorgen, vermuten die Oberösterreichischen Nachrichten.
Konzerte neu denken?
Das Royal Philharmonic Orchestra in England hat eine Umfrage in Auftrag gegeben. Ergebnis: 76 Prozent der Leute würden mehr Orchester-Konzerte besuchen, wenn die Orchester das Konzert-Erlebnis moderner gestalteten. 27 Prozent wollen kürzere Konzertformate, 24 Prozent mehr Matineen, 20 Prozent Einführungen durch DirigentInnen. Aber mal im Ernst: Wollen wir nicht gemeinsam mehr dafür werben, dass Konzerthäuser auch deshalb wertvoll sind, weil sie Orte der Qualität, der Besinnung und des Zeitstillstands sind, die anderenorts kaum noch existieren?
Personalien der Woche
Der Bundesrechnungshof kritisiert die Kultur-Corona-Hilfen: Von den zur Verfügung stehenden zwei Milliarden Euro des Programms „Neustart Kultur“ seien bis zum Ende der meisten Corona-Maßnahmen am 3. April 2022 nur 926 Millionen ausgezahlt worden. Dass bis Ende 2022, als der Kulturbetrieb längst wieder angelaufen war, noch weitere 700.000 Euro bewilligt wurden, von denen 400.000 auch ausgezahlt wurden, deutet nach Ansicht der Prüfer darauf hin, dass die Mittel so langsam genehmigt und ausgeschüttet wurden, dass sie die Antragsteller zu spät erreichten, um noch den intendierten Hilfseffekt zu haben. +++ Großartige Aktion des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven. Es veröffentlichte eine Solidaritäts-Erklärung mit den zur Disposition stehenden Lüneburger Symphonikern (wir haben berichtet): „Gerade Orchester wie die Lüneburger Symphoniker sind ein leuchtendes Beispiel für den einmaligen und fragilen kulturellen Reichtum.“ +++ Es ist eine Umfrage mit zweifelhafter Seriosität, aber sie sei hier dennoch dokumentiert. Bachtrack veröffentlicht die zehn besten Orchester der Welt. Zu Recht unangefochten an der Spitze: Die Berliner Philharmoniker, gefolgt von den Wienern, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Concertgebouworkest (was mich beim derzeitigen Zustand sehr wundert), Chicago, Cleveland (würde ich weiter vorne sehen), London (echt jetzt???), Budapest (und nochmal: ECHT!?!), dem Gewandhaus und Los Angeles. +++ Der ehemalige Intendant und künstlerische Leiter des Teatro San Carlo in Neapel ist zurück im Amt. Stéphane Lissner gewinnt seine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht. Der Versuch der nationalistischen Regierung von Giorgia Meloni, den Franzosen vor Ablauf seines Vertrages im Jahr 2025 aus dem Amt zu drängen, sei unrechtmäßig, urteilte Arbeitsrichterin Clara Ruggiero. Nun operieren zwei Indentanten in Neapel.
Nachtrag zum Sterben der Klassik-Magazine
Die Debatte über das Verschwinden der Klassik-Plattformen im letzten Newsletter hat für viele Diskussionen gesorgt, und mich haben viele Briefe erreicht. Unter anderem auch ein Anruf, in dem mir erklärt wurde, dass der Stellenabbau bei einem deutschen Opernmagazin eventuell gar kein Stellenabbau sei, sondern lediglich eine Stellen-Umbesetzung 🙂 … Und dann noch eine Nachricht, die ich übersehen hatte. Nicht nur der Streamer takt1 hört auf. Bereits im Juli gab der ORF bekannt, dass er die Klassik-Streaming-Plattform myfidelio nicht länger unterstützen werde. Zur Erinnerung: Wir hatten an dieser Stelle einst beim ORF nachgefragt, wie es sein könne, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender sich an einer kommerziellen Bezahlplattform beteiligen kann. Damals erklärte die Pressestelle des Senders uns, dass hier kein Konflikt bestünde. Inzwischen hat ein Gericht erklärt, dass dem ORF Bezahlplattformen ab 1. Januar verboten sein werden. Den myfidelio-Abonnenten wurde mitgeteilt, dass die Klassik-Plattform mit 30. November eingestellt wird. Die Zukunft des Klassik-Journalismus ist übrigens eines von zehn Themen, die ich in meinem Buch Die Zwei-Klassik-Gesellschaft bespreche, das am 1. Oktober erscheinen wird, und das bereits vorbestellbar ist.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Vielleicht ja hier: Wann wird schon ein neues Orchester gegründet? Ich war eingeladen beim Beethovenfest in Bonn. Der Grund: Yoel Gamzou stellte hier sein neues Orchester vor: oneMusic. Gamzou ist ein Wahnsinniger! Und so unverhältnismäßig wie er, war auch der Abend in der Länge einer Beethoven’schen Akademie: Vier Uraufführungen (von Robin Haigh, Marshall McDaniel, Florian Kovacic und Andrew Creeggan), dazu das (zugegeben sehr diskussionswürdige) Fünfte Klavierkonzert von Beethoven und eine Fünfte Sinfonie, in der das Orchester an Lucky Luke erinnerte, den Cowboy, der schneller schießt als sein Schatten. oneMusic ist jung, experimentell, bereit zu scheitern und in der Lage, alles zu überstrahlen. Viel Glück auf dem Weg in unseren Konzert-Alltag!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de