KlassikWoche 43/2020

Wer liest wem die Leviten? Und warum die Klassik sicher ist

von Axel Brüggemann

19. Oktober 2020

Kritik an der Kritik an Igor Levit, die Corona-Maßnahmen an Opernhäusern und Katharina Wagner nach ihrer Krankheit

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute geht es um ein Igor-Levit-Jour­na­listen-Clash, um sichere Opern­häuser, um aller­hand Hoff­nung und um die schönsten Zicken der Sopra­nistin.

„GEBT DIE HÄLFTE DER PLÄTZE FREI!“

Ein sozialpolitischer und hochaktueller Opern-Krimi: Porgy and Bess im Theater an der Wien: Regie: Matthew Wild, am Pult: Wayne Marshall.

Die Corona-Situa­tion spitzt sich zu, aber das Opern- und Konzert­leben in lebt: Allein diese Woche habe ich den Amts­an­tritt von bei den Wiener Sympho­ni­kern mit einem roman­tisch-epischen Korn­gold und einem gran­dios geord­neten „Helden­leben“ gehört, außerdem eine packende Auffüh­rung von „Porgy and Bess“: Die Bühne des blatt­gol­denen Theater an der Wien wurde zum hoff­nungs­losen Contai­ner­dorf. Viel Sehn­sucht, wenig Gott und aller­hand Gänse­haut in der Regie von Matthew Wild und beim radikal aufrüh­re­ri­schen Dirigat von . Ein sozi­al­po­li­ti­scher und hoch­ak­tu­eller Opern-Krimi! Im Rest der Welt ziehen derweil neue COVID-Wolken auf: Das Phil­har­monic Orchestra hat seine ganze Saison abge­sagt, die Mailänder Scala die geplante Saison-Präsen­ta­tion auf Eis gelegt, auch die finden nicht in gewohnter Form statt, die Staats­ka­pelle und haben ihre Europa-Tournee abge­blasen, und in der musste Beet­ho­vens „Leonore“ mit „Chor-Verbot“ diri­gieren.

Dabei glaube ich fest daran, dass es derzeit kaum einen öffent­li­chen Ort gibt, der sicherer ist als ein Theater: Ausge­feilte Sicher­heits­kon­zepte, digi­tale Nach­ver­fol­gung, regel­mä­ßige Tests – mehr Vorsicht und Sicher­heit geht nicht. Zu dieser Erkenntnis kommt auch die . Vorbild­lich trans­pa­rent infor­miert sie auf ihrer Seite über Corona-Maßnahmen und zieht Bilanz der 500-Besu­cher-Test­phase. Selbst Ausnah­me­si­tua­tionen wurden profes­sio­nell gemeis­tert: „Zum einen wurde uns von einer Person aus dem Publikum bekannt gegeben, dass diese in den Tagen nach Besuch einer Vorstel­lung positiv getestet wurde. Auch wenn zwischen Besuch und Auftreten von ersten Symptomen hinrei­chend viel Zeit lag und somit nach Angaben des Gesund­heits­amtes keine Kontakt­ver­fol­gung im Natio­nal­theater notwendig war, haben wir den Fall gründ­lich geprüft. Es zeigte sich in der Fall­ana­lyse, dass beim Besuch die Hygie­ne­re­geln einge­halten wurden und es zu keinerlei Inten­siv­kon­takten mit anderen Besu­chern gekommen ist.“

Die Test­phase in war erfolg­reich, und der laufende Spiel­be­trieb in Öster­reich zeigt seit Monaten: Klas­si­sche Konzerte sind weit­ge­hend sicher! Wann endlich handelt auch die Politik nach diesen Erkennt­nissen? Kölns Bürger­meis­terin Henri­ette Reker fordert Locke­rungen. Bei einer Umfrage auf meinen Face­book- und Insta­gram-Seiten fanden 60 Prozent, dass die deut­sche Politik zu vorsichtig sei, was den Umgang mit Thea­tern betrifft. Auch die Stimmen von Kultur­schaf­fenden bleiben laut: Sehr nach­voll­ziehbar die Argu­mente von oder von Michael Becker, Inten­dant Tonhalle Düssel­dorf – und auch die Opern­kon­fe­renz wird nicht müde zu appel­lieren: „Gebt die Hälfte der Plätze frei!“ 

DIE ZWEI DAMEN VON DER MET

Marion Chalat and Carolyn Starry in New York haben das Binge Watching für die Oper etabliert.

Umso schöner, wenn es auch opti­mis­ti­sche Meldungen in diesen Tagen gibt: Die beiden US-Opern-Omas Marion Chalat and Carolyn Starry haben das Binge Watching für die Oper etabliert. Seit die MET in New York geschlossen ist und Peter Gelb auf allabend­liche Streams setzt, haben die beiden leiden­schaft­li­chen Opern-Abo-Besit­ze­rinnen mehr als 200 Auffüh­rungen gesehen. Ein schöner Artikel in schweren Zeiten in der New York Post.

DER FERRERO-MANN: OPUS 1980

Nachdem Claus Kleber im „heute-journal“ „Elehna Garancccchhhha“ und „Johannes Kauf­mann“ mit einem „glän­zenden Fest“ ange­kün­digt hatte, legte das leider die falsche VHS ein. Statt den Opus 2020 zeigte es die letzte (oder war es die vor-vorletzte?) Aufnahme des Opus (oder Echo) Klassik. Hübsch, zu sehen, wie all das früher aussah: Dieses alte ZDF-Orange und der blonde Mann im golden glit­zernden „Ferrero-Rocher“-Kostüm, der die Diri­gentin mit einem sabbernden „Karrrrrrrrr­rina“ begrüßte, um dann schnell die Frau­en­quote abzu­haken. Klar, bei so einer alten Sendung waren die Preis­trä­ge­rinnen und Preis­träger keine Über­ra­schung mehr: , , , . Aber warum hörte man, als Thomas Gott­schalk per Commo­dore 64 Kontakt mit Hildur Guðna­dóttir herstellte, plötz­lich die Skype-Melodie? Und warum waren damals so wenige Leute an der Klassik inter­es­siert und das Konzert­haus fast leer? Na ja, egal, nimmt eh kaum noch jemand ernst. Viel­leicht sendet das ZDF den 2020 mit und ja im nächsten Jahr. Bleibt am Ende nur mit Anne-Sophie Mutter das perfekte Star-Wars-Zitat: „Möge die Macht mit uns allen (!) sein!“ Wie wär’s mal – und, ja lieber BR, da finde ich Euch wieder super – mit einem Take­over des Opus durch „Sweet Spot“ vom BR? Mit allem PiPaPo. 

P.S.: Das einzig Wesent­liche an diesem ganzen Abend war die Rede von für mehr Ermög­li­chung von Kultur (und, ja: ich mag ihn auch!).

ABOUT LAST WEEK: DEBATTE UND PERSPEK­TI­VEN­WECHSEL

Peter Theiler, der Intendant der Semperoper, erklärt, er habe sein Haus auf eine rasche Wiederaufnahme des Spielbetriebs vorbereitet.

Auf meinen letzten News­letter gab es zahl­reiche Reak­tionen – viele Sänge­rinnen und Sänger, die von ihren Erfah­rungen mit Ausfall­ho­no­raren berichtet haben. Viele Zuschriften – von Fans der Frank­furter Oper und Inten­dant Bernd Loebe, die beson­ders seine künst­le­ri­sche Leis­tung würdigten. Aber auch weitere Kritik, etwa eine Theater-Besu­cherin, die sich Verbes­se­rungen in der Karten-Abwick­lung wünschte: „Die Oper lässt ihre Abon­nenten im Regen stehen; erst nach Anfrage bekam ich Gutscheine für ausge­fal­lene Vorstel­lungen, die nur ein Jahr lang gültig sind (in sind’s drei Jahre, in Gießen unbe­grenzt).“ Andere Leser­briefe empfahlen mir, eine andere Perspek­tive auf das Theater zu werfen: Es stimme zwar, dass Gäste dort gut abge­funden wurden, gleich­zeitig sei der Spiel­plan aber – im Vergleich zu anderen Häusern – ausge­dünnt und unmutig und, so die Einschät­zung der Leser­brief-Schreiber, darauf ausge­richtet, aus den Corona-Umständen (Kurz­ar­beit auf der einen Seite und Erhalt der Subven­tionen trotz weniger Auffüh­rungen) Kapital zu schlagen und „das Haus zu sanieren“. 

Außerdem habe ich mich ausführ­lich mit dem Inten­danten der Semper­operPeter Theiler, unter­halten. Auch er empfahl mir einen Perspek­ti­ven­wechsel. Im letzten News­letter hatte ich seinen Brief an Gast-Künstler zitiert, in dem er darauf aufmerksam machte, dass der Frei­staat eine Zahlung von Ausfall­ho­no­raren nicht geneh­mige. In unserem Gespräch erklärte der Inten­dant mir, dass er, gemeinsam mit seinem Geschäfts­führer Wolf­gang Rothe, dafür gekämpft habe, um – anders als an fast allen anderen Häusern – die Mitar­beiter nicht in Kurz­ar­beit schi­cken zu müssen. „Es ging uns darum, unsere Mitar­beiter ernst zu nehmen und für sie zu kämpfen.“ Und so wurde das Ensemble in auch während der Lock­down-Phase weiter bezahlt, sagt Theiler „und wir haben uns, beson­ders in den Werk­stätten, auf eine rasche Wieder­auf­nahme des Spiel­be­triebs vorbe­reitet, was dann ja auch gelungen ist: Die Semper­oper war eines der ersten Häuser, das wieder gespielt hat, und zwar nicht mit mini­ma­lis­ti­schen Werken, sondern mit ganzen Opern.“ Da man keine GmbH sei, sei man nach wie vor auf die Vorgaben des Frei­staates ange­wiesen, erklärte mir Theiler. Häuser wie die Staats­ope­rette in Dresden könnten durch indi­vi­du­elle Deals mit der Stadt freier agieren. Ich persön­lich habe aus all diesen Gesprä­chen noch einmal gelernt: Es gibt keine festen Regeln für das Corona-Chaos. Die beiden Modelle, durch Kurz­ar­beit und Subven­tionen finan­ziell flexibel zu bleiben oder durch Verzicht auf Kurz­ar­beit Loya­lität zum Ensemble zu zeigen, sind unter­schied­liche Wege. Und die Komple­xität der Details macht die Trans­pa­renz gerade so schwer. Aber einfache Lösungen gibt es nicht! Die Tatsache, dass viele Häuser und selbst­stän­dige Künstler von Stadt‑, Landes- und Bundes­re­gie­rung im Stich gelassen werden, macht es nicht einfa­cher. In der Corona-Zeit müssen indi­vi­du­elle Lösungen her, es muss expe­ri­men­tiert werden, es darf geschei­tert werden (an den Häusern, bei den Künst­lern oder auch im beglei­tenden Jour­na­lismus) – aber am Ende muss es immer darum gehen, Kunst zu ermög­li­chen und Künstler ernst zu nehmen.

DAS NEUESTE LEVIT-GEWITTER

Igor Levit - jetzt steht sein Kritiker in der Kritik

Was für eine Aufre­gung: Erst übte ORF-Nach­richten-Anchor Armin Wolf, dann -Redak­teur Bernd Neuhoff massive Kritik an einem Verriss von Helmut Mauró an in der Süddeut­schen Zeitung. Armin Wolf brand­markte den Text bei Twitter als rechts­po­pu­lis­tisch: „Keine Ahnung, warum die SZ einem Text so viel Raum gibt, dessen einziger Inhalt ist: ‚Ich kann den Typen nicht ausstehen (und Klavier­spielen kann er – egal was alle sagen – auch nicht recht)‘. Hätte das ev. bei Tichy erwartet, aber in einer echten Zeitung?“ Bernd Neuhoff unter­stellt Kritiker Mauró ganz konkret Anti­se­mi­tismus: „Mauró findet es offenbar ideo­lo­gisch und verleum­de­risch, wenn sich ein Jude darüber aufregt, dass Juden in mit dem Tod bedroht werden.“ Es ist wahr, dass Mauró aus unter­schied­li­chen Gründen eher wenige Freunde in der Klassik-Branche hat, dass einige seiner Face­book-Posts massiv isra­el­feind­lich sind und dass sein Text ein verschwur­belter Möchte-Gern-Karl-Kraus ist. Aber anti­se­mi­tisch? In erster Linie pole­mi­siert Mauró gegen Levits Mittel der poli­ti­schen Selbst­dar­stel­lung und stellt sie der Arbeit von gegen­über. Dabei ist Maurós These nicht wirk­lich neu: „Levit ist als Twitter-Virtuose ebenso bekannt wie als Pianist. Und das ist für eine Karriere 2020 offenbar mindes­tens so entschei­dend wie das Musi­zieren selbst. (…) Er ist mit den rich­tigen Jour­na­listen und Multi­pli­ka­toren befreundet, coram publico und aufge­kratzt fällt man sich via Twitter mehr oder weniger täglich in die Arme und versi­chert sich gegen­sei­tiger Bewun­de­rung.

Ähnlich, viel­leicht mit weniger Schaum vor dem Mund, habe ich es bereits an dieser Stelle oder beim SWR und Hartmut Welscher im Deutsch­land­funk kommen­tiert. Gilt am Ende für Maurós SZ-Artikel doch auch das alte Karl-Kraus-Bonmot „Was trifft, trifft zu?“. Immerhin hat BR-Mann Neuhoff Levits Sonaten-Talk-Podcast produ­ziert und ist ein glühender Verehrer des Pianisten. Wirk­lich befremd­lich finde ich, dass die kriti­sche Ausein­an­der­set­zung mit der gesell­schaft­li­chen Rolle eines Musi­kers dazu führt, eine span­nende Debatte über Musik und Politik durch uralte Rechts-Links-Reflexe nach dem Motto „Alle, die Levit kriti­sieren, sind rechts­ra­dikal!“ abzu­würgen. Es verqui­cken sich ganz schnell auf allen Seiten uralte Reflexe: Während Mauró Levit dafür kriti­siert, dass er anderen Menschen mehr­fach attes­tiert hat, „ihr Mensch­sein verwirkt zu haben“, wird er nun (von Neuhoff) dafür gescholten, das Opfer Levit zum Täter zu machen. Und nun wirft Johannes Schneider alle Emotionen in der „Zeit“ noch einmal in die Luft, ohne wirk­lich für Ordnung zu sorgen. Also – worum geht es wirk­lich? Erst einmal: nicht um das Klavier­spiel. Viel­leicht um eine Debatte darüber, wie viel poli­ti­sches Bekenntnis wir von Levit hören wollen? Um die Musik­kritik an sich? Oder um die Gefahr von Schlag­worten, mit denen Levit, seine Freunde und seine Kritiker operieren und damit einen immer unver­söhn­li­cheren gesell­schaft­li­chen Diskurs wider­spie­geln? Oder geht es einfach nur um Eitel­keiten auf allen Seiten? Darum, dass die Konstel­la­tion dreier Menschen (Levit, Mauró, Neuhoff) zum Bermu­da­dreieck wird, in dem aus persön­li­chen Moti­va­tionen ein rheto­ri­scher Atom­krieg gezündet wird?

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Katharina Wagner über ihr Leben nach der Krankheit

hat der Passauer Neuen Presse ein Inter­view gegeben und über das Leben nach ihrer Krank­heit gespro­chen: „Ich habe zunächst einmal aufge­hört zu rauchen“, sagte die 42-Jährige, „Es fehlt mir gar nicht einmal das Nikotin oder das Ritual, nur manchmal der Geschmack der Ziga­rette. Ansonsten achte ich darauf, dass ich nicht stun­den­lang am Schreib­tisch sitze, sondern mich regel­mäßig zur Vermei­dung von Throm­bosen bewege.“ +++ Der Gene­ral­mu­sik­di­rektor der Deut­schen Oper Berlin, , wurde von Queen Eliza­beth II. in den Adels­stand erhoben. Damit würdigt die Queen die Verdienste, die sich Sir Donald um das inter­na­tio­nale Musik­leben erworben hat. +++ Um Trans­pa­renz zu schaffen und Chöre zu infor­mieren, hat David Stingl die Seite Singen und Aero­sole gegründet, auf der er unter anderem Corona-Fälle in euro­päi­schen Ensem­bles zeit­lich nach­ver­folgt. +++ Herbert Siebert, der Gründer des Wies­ba­dener Johann-Strauss-Orches­ters, ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Volker Milch ruft ihm nach

UND WO BLEIBT DAS GUTE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Es ist wirk­lich gerade nicht leicht, die Offen­heit, die Unsi­cher­heit, die Rolle der Kultur in der Politik – aber gibt es denn gar nichts mehr zum Schmun­zeln? Oh doch! Mark Scheibe hat zuge­schlagen und der Sängerin Julia Sophie Wagner, die ihn bei einem CD-Projekt unter­stützt hat, ein musi­ka­li­sches Denkmal gesetzt – und damit allen Sopra­nis­tinnen der Welt (und all den Menschen, die mit ihnen zu tun haben!)

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de