Marco Minà
Die königliche Winterwelt der Künstler Shakespeare und Henze
von Stefan Sell
18. Juli 2023
Der Gitarrist Marco Minà legt auf der Grundlage einer rekonstruierten Neuedition von Hans Werner Henzes Sonatenzyklus »Royal Winter Music« über Gestalten von Shakespeare eine Neueinspielung sowie ein in der Henze-Villa La Leprara aufgenommenes Video vor.
Der Komponist Hans Werner Henze (1926–2012) und der Gitarrist Julian Bream (1933–2020) spielen Tennis miteinander. Die Stimmung der beiden ist ausgesprochen heiter. Das bleibt auch so, als sie sich in Henzes Villa auf die Ausarbeitung der Partitur konzentrieren, Henze am Klavier, Bream an der Gitarre. Als Bream seine Finger extrem spreizen muss, lacht er und meint: „Der nächste Akkord ist wirklich zu schwierig für mich, es sei denn, ich greife ihn mit meiner Nase!” Später stellte Henze fest, dass Bream auf Anhieb vieles ändern wollte, Monate später aber wieder zu Henzes eigentlicher Vorgabe zurückfand. Dieses Szenario ist in einem YouTube-Video lebhaft festgehalten, es zeigt die Vorgeschichte zum Sonatenzyklus Royal Winter Music für Gitarre solo. Um zu verstehen, warum Marco Minàs Einspielung einer Sensation gleichkommt und es sich dabei tatsächlich um eine Weltersteinspielung handelt, müssen die Details der Entstehung in den Jahren 1975⁄76 erhellt werden.
Bream bewegte mit seinem Enthusiasmus immer wieder zeitgenössische Komponisten, neue Werke für klassische Konzertgitarre zu komponieren. Henze hegte eine große Vorliebe für die Gitarre ohne sie selbst zu spielen. Bream soll damals schmunzelnd gefordert haben: „Was die Hammerklaviersonate für die Pianisten bedeutet, muss Royal Winter Music für die Gitarre bedeuten.” Henze erzählte: „Er wollte mit mir in das Innere der Gitarre vordringen, wollte das Instrument zu einem der farbenreichsten und interessantesten unserer Zeit aufsteigen sehen.” So hat Henze ihm diesen Zyklus gewidmet, aber Bream spielte nur den ersten Teil ein, die Uraufführung war 1976 bei den Berliner Festwochen. Den zweiten Teil spielte Reinbert Evers erstmals 1980 in Brüssel. In seiner Version heißt es, Bream hätte den zweiten Teil für nicht spielbar gehalten.
Dann trat der italienische Gitarrist Marco Minà auf den Plan, er wohnte nur unweit von Henzes Villa bei Rom. In seiner Masterarbeit beschäftigte er sich intensiv mit dem Werk und stellte fest, es gab viele Differenzen zwischen dem Originalmanuskript Henzes und den Bearbeitungen von Bream und Evers. Minà besuchte Henze, machte sich nochmals mit ihm daran, jeder Spur nachzugehen, jede Nuance zu überprüfen und durch präzises Vergleichen unzweideutig eine völlig revidierte Fassung beider Teile zu erstellen. Auf dieser inzwischen im Verlag Schott veröffentlichten Ausgabe fußt Minàs einzigartige Einspielung der Royal Winter Music. So spielt er jetzt auch das Ritornello, wie von Henze vorgegeben „zwischen allen Sätzen”, was das Ganze vielschichtig macht, eine leuchtend anmutende Restaurierung eines wunderbaren Tableaus, die Henzes Reminiszenzen an Szenen und Figuren aus Shakespeares Welt lebendig werden lässt.
Es gilt nicht Breams oder Evers« verdienstvolle wie erstklassige Aufnahmen gegen Minàs abzuwägen, vielmehr, eine fulminante Neueinspielung zu erleben, die in ihrer ausgefeilten Dramaturgie greifbar ist. Minà führt in sperrig weit gespreizter Dynamik arhythmisch dissonant einen skrupellosen Gloucester vor, verkörpert emphatisch die innige Zuneigung und Aussprache der leidvoll Liebenden Romeo und Julia, lauscht Ophelia, wenn sie sich mit Last rose of summer dem Strömen des Flusses singend hingibt und ertrinkt. Am Ende dieses großen Spannungsbogens lässt er die Unruhe einer völlig verrückten Lady Macbeth aufleben, das wohl schwierigst zu spielende Stück dieses Zyklus. All das meistert Minà mit Bravour und einfühlsamer Finesse. Minà schenkt uns fürwahr eine einladende wie intime Einspielung, in ihrer Vollständigkeit und sorgsam revidierten Bearbeitung eine herzöffnende, zauberhaft zugängliche Interpretation, die uns mit fokussierter Klarheit äußerst verführerisch in die königliche Winterwelt der Künstler Shakespeare und Henze führt. Für Gitarristen ein Ereignis, für alle, die Musik lieben, ein großes Geschenk.
Weitere Informationen zum Gitarristen Marco Minà: www.marcomina.it