Marin Alsop und das Baltimore Symphony Orchestra
Innige Beschreibung unserer Welt
von Anna Mareis
5. Oktober 2018
Preisträger in der Kategorie Sinfonische Einspielung | Musik 20. / 21. Jahrhunderts: Marin Alsop und das Baltimore Symphony Orchestra spielen die ersten beiden Bernstein-Sinfonien ein.
Natürlich, eine Amerikanerin! Wer sonst, wenn nicht die wohl bekannteste Schülerin Leonard Bernsteins, sollte sich – pünktlich zu seinem 100. Geburtstag – seiner Sinfonien annehmen? Gemeinsam mit ihrem Baltimore Symphony Orchestra tut Marin Alsop das mit einer so unglaublich hautnahen und fast schon verstörenden Kraft und katapultiert die Sinfonien Nr. 1 und 2 als Spiegelbild in unsere verrückte Gegenwart.
Es ist im Jubeljahr weitgehend verpasst worden, Leonard Bernstein abseits von Candide und West Side Story noch einmal neu zu entdecken. Aber gerade das lohnt sich. Denn hier ist ein Komponist zu hören, der nicht allein an die leidenschaftliche Größe der Musik als gesellschaftliche Kraft glaubte, sondern – mit allen Mitteln der Moderne gewaschen – auch an die Möglichkeit, die eigene Zeit zu beschreiben und sie vielleicht zum Besseren zu wenden.
In beiden Sinfonien geht es Bernstein um das Verschwinden von Glaubensgrundsätzen und Hoffnung. Eine Tendenz, die bis heute anhält. Was er dem entgegenzusetzen hat, verdeutlichen Alsop und ihr Orchester in ihrer eindringlichen Interpretation. In seiner ersten, der Jeremiah Sinfonie, hören wir, gespickt mit zahlreichen Anleihen an die jüdische Musiktradition, ein inbrünstiges Klagen über den Verfall der Moral, in der Zweiten Sinfonie, dem „Zeitalter der Angst“, bezieht sich Bernstein auf ein Gedicht von W. H. Auden: auch hier Musik der Klage, Elemente des Jazz und eindringliche Leidenschaft. Ein Maskenball führt uns unsere Welt vor Augen, in dem die Angst regiert und die Verstellung zur Tugend geworden ist. Trouvaillen der Kammermusik, die durchaus für sinnliche Begeisterung sorgen können.