Ralf Schmid

Der Magier unter den Pianisten

von Ruth Renée Reif

6. September 2019

Ralf Schmid komponiert seine Musik an der Schnittstelle von klassischem und elektronisch gestaltetem Klavierklang. Mit seinem Projekt PYANOOK führt er die Pianistik ins 21. Jahrhundert.

CRESCENDO: Herr Professor Schmid, was faszi­niert Sie am Klavier?

: Das Klavier ist seit Kinder­tagen mein Instru­ment. Ich habe mit fünf Jahren ange­fangen, es zu spielen, und seither hat es mich durch mein Leben begleitet. Ihm gilt meine Faszi­na­tion. Es ist ein beson­deres Instru­ment vieler musi­ka­li­scher Sphären. Solo-Instru­ment per se, lässt es sich zugleich wunderbar in alle orches­tralen und sons­tigen musi­ka­li­schen Forma­tionen inte­grieren. Man kann so Viel­fäl­tiges damit tun. Auch wenn ich als Kompo­nist, Diri­gent, Arran­geur oder Produ­zent tätig bin, bleibt meine Basis bei allem das Klavier.

Das 20. Jahr­hun­dert arbei­tete sich am pianis­ti­schen Erbe ab. Piano Acti­vi­ties von Philip Corner wurde 1962 in Form der mehr­tä­gigen Zerle­gung eines Flügels aufge­führt, dessen Teile anschlie­ßend an das Publikum verstei­gert wurden. Brachten solche Aktionen wie diese Fluxus-Perfor­mance die erhoffte Befreiung?

Eine Befreiung erfolgte nur in bestimmten Szenen, im Main­stream ist sie kaum zu spüren. An Musik­hoch­schulen konzen­triert sich die pianis­ti­sche Ausbil­dung nach wie vor auf ein Spektum von Bach bis Bartók, mit Fokus auf dem 19. Jahr­hun­dert. Und wir bilden hier die nächste Gene­ra­tion von Musi­kern aus, die demnächst ins Konzert­leben tritt oder wieder unter­richtet.

»Mit der Musik von Cage begann meine Klang­reise – später jagte ich seine Klänge durch Effekt­schleifen.«

Empfinden Sie das pianis­ti­sche Erbe als Bürde oder als Heraus­for­de­rung?

Eine Bürde ist es, wenn man die Epoche nicht verlässt. Das 19. Jahr­hun­dert war eine Blüte für das Klavier, für die Kompo­nisten, die dafür schrieben, und für die Inter­preten, die virtuos darauf spielten. Liszt, Chopin und all die Kory­phäen von damals kompo­nierten und impro­vi­sierten mit den Mitteln ihrer Zeit groß­ar­tige Musik. Wir können so viel von ihnen lernen, gegen­wärtig aber findet die Pflege ihrer Werke oft verkürzt statt. Wir inter­pre­tieren diese gut 100 Jahre alten Kompo­si­tionen, ließe man sich darüber hinaus auf den freien impro­vi­sa­to­ri­schen Geist dieser Meister ein, könnte das Erbe eine weitaus größere Inspi­ra­tion sein.

Ein Kompo­nist, der sich immer wieder mit dem Erbe herum­schlug und sich intensiv mit dem Klavier ausein­an­der­setzte, war . Ist er Vorbild oder Inspi­ra­tion für Sie?

Cage ist eine der größten Inspi­ra­ti­ons­quellen für mein Projekt PYANOOK. Seine Schriften las ich bereits Jahre davor, und mit seiner Musik begann ich meine Klang­reise. Ich suchte im Flügel nach neuen Klang­farben, und diese Suche setzte damit ein, dass ich Cage kopierte und auspro­bierte, wie es klingt, wenn man Nylon­schrauben und Gummis an die Saiten heftet. Aller­dings ging ich in der Folge zu zeit­ge­nös­si­schen elek­tro­ni­schen Tech­niken über und jagte die John-Cage-Klänge durch Effekt­schleifen.

betrach­tete den Synthe­sizer als Weiter­füh­rung des Klaviers. Ab Nummer XV schrieb er seine Klavier­stücke für Synthe­sizer. Wie beur­teilen Sie seine Einschät­zung?

Auf vielen Berei­chen der Musik gab es diese Anfangs­be­geis­te­rung für den Synthe­sizer sowie elek­tro­ni­sche und später auch digi­tale Vari­anten von Klavier. Ich möchte das Klavier erhalten. Mit seiner Aura empfinde ich es als ideale Basis für ein elek­tro­ni­sches Projekt wie PYANOOK, das die Gegen­wart aufnimmt und in die Zukunft denkt. Es ist mir zu lieb und auch zu gut, um ad acta gelegt zu werden. Ich liebe das Holz und die Klang­äs­thetik, die mit elek­tro­ni­schen Mitteln nicht nach­zu­ahmen ist. Die Elek­tronik hat andere Stärken.

Ralf Schmid führt mit seinem Projekt PYANOOK die Pianistik ins 21. Jahrhundert.
Jede Bewe­gung verän­dert den Klang: die von der Gruppe mi​.mu. entwi­ckelten Daten­hand­schuhe

Sie arbeiten mit den Daten­hand­schuhen, die die Londoner Gruppe mi​.mu. entwi­ckelte, um den Klang des Flügels zu verän­dern. Ist das für Sie der Weg, die Pianistik ins 21. Jahr­hun­dert zu bringen?

Es ist ein Weg – mein Weg, im 21. Jahr­hun­dert neue Klänge zu finden, neue Struk­turen zu gene­rieren und neue Musik zu kompo­nieren, zu impro­vi­sieren und mit Einbe­zie­hung der elek­tro­ni­sche Ebene eine Art digi­tale Poesie zu kreieren. Entgren­zung ist für mich ein wich­tiges Thema. Ich über­winde Grenzen und suche nach Schnitt­stellen zwischen der analogen und digi­talen Perfor­mance, zwischen der analogen und digi­talen Klang­welt und zwischen stilis­ti­schen Sphären. Dabei tauche ich ganz in eine Mensch-Maschine-Ausein­an­der­set­zung ein, wollte aber als Pianist nicht Laptop, Misch­pult, Touch­screen oder Synthe­sizer als Werk­zeuge. Ich suchte daher nach orga­ni­schen Möglich­keiten, den Klang zu verän­dern. Diese Daten­hand­schuhe von mi​.mu. ermög­li­chen es mir, durch mini­male Finger­be­we­gungen Klang­ver­än­de­rungen zu erzielen. Ich empfinde sie als urmu­si­ka­lisch und damit auch als zukunfts­wei­send.

Wie bringen Sie diese Daten­hand­schuhe in PYANOOK zum Einsatz?
Ich spiele auf zwei Flügeln, die ich mikro­fo­niere. Den Klang des einen belasse ich unver­än­dert. Die Saiten des anderen präpa­riere ich à la Cage oder verän­dere dessen Klänge elek­tro­nisch. Die Hand­schuhe ermög­li­chen es mir, die Klänge in Echt­zeit mit Effekten auszu­statten. Das können Hall­räume sein, Echos, Modu­la­tionen oder digi­tale Filter mit denen sich Höhen oder Bässe dazu­setzen lassen. 

Ralf Schmid führt mit seinem Projekt PYANOOK die Pianistik ins 21. Jahrhundert.
Die Hand­schuhe ermög­li­chen es, die Klänge in Echt­zeit mit Effekten auszu­statten

Während ich spiele, vermag ich durch Arm- oder Finger­be­we­gungen die Klänge meines Flügels durch Effekt­schleifen zu schi­cken und diese live zu steuern. Ich kann mit meinem Flügel­klang Kathe­dralen öffnen und wieder schließen oder durch das Ballen einer Faust den Klang in eine Verzer­rung schi­cken.

»Die Hände im Raum zu bewegen und damit einen Klang zu formen, ist unglaub­lich faszi­nie­rend.«

Durch die Armbe­we­gungen beziehen Sie auch den Raum in Ihre Musik ein. Der Kompo­nist Marco Stroppa nannte den Raum das größte Rätsel der Musik …

Die Hände im Raum zu bewegen und damit einen Klang zu formen, ist unglaub­lich faszi­nie­rend. Es eröffnet eine andere Dimen­sion und lässt etwas mitschwingen. Für mich war es ein logi­scher Schritt, von der Klavier­bank aufzu­stehen. Bis dahin saß ich zwischen den beiden Flügeln. Aber nachdem ich eine Weile mit den Hand­schuhen expe­ri­men­tiert hatte, merkte ich plötz­lich: Ich kann ja aufstehen und sogar drei Schritte von der Klavier­bank weggehen. Wenn sich mein Klang in einem langen Kathe­dra­len­hall befindet, kann ich den im Raum stehenden Klavier­ak­kord formen. Damit ergibt sich eine neue Ästhetik.

Wie kam es zur Zusam­men­ar­beit mit dem Licht­künstler Pietro Carda­relli?

Als der Raum in meine Musik einbe­zogen war, wollte ich ihn auch künst­le­risch gestalten und die Szenerie nicht dem Zufall über­lassen. Pietro Carda­relli ist auf vielen Berei­chen der digi­talen Kunst und der Video­kunst tätig und arbeitet als Bühnen­bildner am Theater. Er entwarf mir für die Auffüh­rungen von PYANOOK eine Szenerie und eine visu­elle Umset­zung. Derzeit arbeiten wir daran, dass meine Bewe­gungen, mit denen ich die Klänge verän­dere, auch seine visu­ellen Projek­tionen verän­dern. Das öffnet aber­mals eine neue Dimen­sion.

Der medi­ta­tive Charakter Ihres Projekts lässt erneut an John Cage denken. Ist Ihnen das Medi­ta­tive ein Anliegen?

Das Medi­ta­tive und das Versenken in den Klang sind für mich ein wich­tiger Aspekt. Ich möchte mit meiner Musik Menschen errei­chen und ihnen etwas mitgeben. Wir leben in einer immer schneller werdenden Welt. Die Musik kann diese rasende Zeit aufheben und in medi­ta­tive Momente über­führen.

Auch ein Album erscheint von PYANOOK

Das Label Neue Meister trat an mich heran und schlug die Produk­tion eines Albums vor. Dem bin ich gerne nach­ge­kommen! Die Aufnahmen erfolgten im restau­rierten Opern­theater der italie­ni­schen Stadt . Carda­relli stammt daher, und er orga­ni­sierte, dass wir in diesem traum­haften Setting eine Woche lang aufnehmen und konzer­tieren konnten.

Wie sehen Ihre Vorhaben für die Zukunft aus?

Ich stehe mit PYANOOK noch am Anfang, obwohl ich bereits vier Jahre damit befasst bin. Mit den Daten­hand­schuhen arbeite ich seit zwei Jahren. Aber es taten sich im Laufe der Zeit so viele Möglich­keiten in dem Projekt auf. Ich möchte all den Klängen und den Verbin­dungen zwischen Bewe­gung und Klang nach­gehen, die ich gefunden habe. Außerdem habe ich die Idee, das Projekt als Klavier­kon­zert mit Orchester zu fassen, um mit anderen Musi­kern zu inter­agieren. PYANOOK ist für mich kein abge­schlos­senes Projekt, sondern ein Work in progress. 

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Website zu Ralf Schmid und dem Pyanook-Projekt: www.pyanook.com

Fotos: NEUMEISTER