Sind Opernsänger Weicheier?

Schal tragende Hypo­chonder

von Guido Krawinkel

6. April 2017

Todesfälle, gebrochene Rippen und das kleine Kratzen im Hals. Eine abgebrochene Vorstellung in Bonn ließ sich unseren Autor fragen, was Kranksein für Künstler bedeutet.

Todes­fälle, gebro­chene Rippen und das kleine Kratzen im Hals. Eine abge­bro­chene Vorstel­lung in Bonn ließ sich unseren Autor fragen, was Krank­sein für Künstler bedeutet.

Opern­gänger kennen ihn, Inten­danten fürchten ihn: Diesen Moment, wenn Sekunden vor Beginn einer Vorstel­lung jemand vor das Publikum treten muss. Dann weiß man: Irgend­etwas ist passiert und zwar so kurz­fristig, dass alle Notfall­pläne nicht mehr greifen. Denn davon gibt es viele an einer Oper: wenn etwa ein Solist krank wird, heißt das für die Verant­wort­li­chen: tele­fo­nieren, tele­fo­nieren, tele­fo­nieren. Ersatz besorgen, die geplante Vorstel­lung retten.

Manchmal ist es dafür jedoch schlicht zu spät oder die Beein­träch­ti­gung nicht so groß, dass die Vorstel­lung nicht statt­finden könnte. Sänger XY sei heute indis­po­niert wird dann gerne mal ange­sagt. Meis­tens singt selbiger dann doch wie ein junger Gott – meint jeden­falls das Publikum. Denn auch das Verste­cken von stimm­li­chen Unzu­läng­lich­keiten oder gesund­heit­li­chen Beein­träch­ti­gungen gehört zum profes­sio­nellen Alltag eines jeden Künst­lers, der – davon gehe man jetzt mal cum grano salis aus – immer sei Bestes geben will.

Dann wird der Künstler gerne mal zum Mimö­schen verklärt, alle even­tu­ellen Vorur­teile gegen­über den ach so sensi­blen Sängern sind wieder bestä­tigt, die Typen-Schub­lade erfolg­reich befüllt. Und das Klischee vom Schal tragenden Hypo­chonder ist auch nicht mehr weit. Dabei ist der Sänger­beruf heikel wie kein Zweiter, werden hier körper­liche Höchst­leis­tungen gefor­dert, die denen von Leis­tungs­sport­lern ähneln. Fünf Stunden Wagner wiegen jeden Triathlon drei Mal auf. Und Unfälle gibt es auch immer wieder. Denn: Die Bühne ist ein gefähr­li­ches Revier. Körper­lich und musi­ka­lisch werden täglich Höchst­leis­tungen verlangt, Risiken lauern hinter jedem Eisernen Vorhang.

Im Juni 2014 etwa verletzte sich der Tenor Lars-Oliver Rühl während der letzten Vorstel­lung der Oper „Jenufa“ bei einer Szene so heftig, dass die Vorstel­lung nach nur 20 Minuten abge­bro­chen werden musste. Noch schlimmer traf es im Januar 2012 den islän­di­schen Bassisten Magnús Bald­vinsson. Bei einer Vorstel­lung von „Don Giovanni“ brach er sich, während er mit einer Hebe­bühne im Boden versenkt wurde, drei Rippen und zog sich zahl­reiche Prel­lungen zu. Er landete im Kran­ken­haus, sein Ensem­ble­kol­lege Gregory Frank sang die Partie vom Bühnen­rand aus zu Ende.

Auch Todes­fälle gab es schon. Doch ganz so schlimm kam es in der Bonner Oper kürz­lich nicht. Begonnen hatte die zweite Vorstel­lung des szeni­schen Passions-Orato­riums „The Gospel accor­ding to the other Mary“ von noch ganz regulär. Doch in der Pause musste Regie­as­sis­tent Mark Daniel Hirsch vor das Publikum treten und ankün­digen, dass die Vorstel­lung even­tuell abge­bro­chen werden müsse, da eine der Haupt­dar­stel­le­rinnen, die Mezzo-Sopra­nisten Christin-Marie Hill, erkrankt sei. Sie hatte sich dem Vernehmen nach schon mit Schmerzen zur Oper geschleppt, wollte aber unbe­dingt singen. Die Vorstel­lung ging zunächst weiter – mit Christin-Marie Hill, der äußer­lich und stimm­lich nichts anzu­merken war. Doch schon nach kurzer Zeit musste Hirsch abwinken. Es ging nicht mehr. Hill lag offen­sicht­lich mit großen Schmerzen hinter der Bühne, an eine Fort­set­zung der Vorstel­lung war nicht zu denken.

Das Publikum wurde so kurz vor Schluss notge­drungen nach Hause geschickt. Als es die Oper verließ, fuhr der Kran­ken­wagen schon mit Blau­licht und Tatü­tata am Bühnen­ein­gang vor. Aus dem poten­ti­ellen Ernst­fall war ein Notfall geworden. Glück im Unglück: Der Solistin scheint es inzwi­schen wieder besser zu gehen, doch wirft ihr Einsatz ein bezeich­nendes Licht auf eine andere Seite des Künst­ler­be­rufs, insbe­son­dere den des Sängers. Die Grenzen zur Selbst­aus­beu­tung und ‑gefährung verlaufen oft flie­ßend, zumal Alter­na­tiven, wenn es denn mal zum Super-Gau kommt, nur schwer verfügbar sind und bei schweren Unfällen auch kaum in Betracht kommen. Christin-Marie Hill ist nochmal glimpf­lich davon gekommen. Ihr selbst­loser Einsatz hätte auch schlimmer enden können.

Fotos: Thilo Beu