Zum Tode von Jessye Norman

Stimme ohne Schub­lade

von Axel Brüggemann

1. Oktober 2019

„Schub­laden”, das ist so ein typi­scher Satz von , „sind für Socken da.” Viel­leicht sagte sie ihn so gern, weil sie 1945 in Georgia mitten in eine Welt voller Schub­laden geboren wurde: Schwarze wurden in die eine Schub­lade gesteckt, Weiße in die andere. Normans Eltern – eine Lehrerin und ein Versi­che­rungs­agent – kämpften dafür, die Schub­laden aufzu­bre­chen, schickten ihre Tochter am Ende dennoch an die afro­ame­ri­ka­ni­sche Privat-Univer­sität Howard in Washington, D.C.

Jessye Norman war bereits die zweite Gene­ra­tion von afro­ame­ri­ka­ni­schen Sänge­rinnen, die sich ihren Weg an die Opern­häuser der Verei­nigten Staaten bahnten. Als Jugend­liche hörte sie, so erzählte sie es in zahl­rei­chen Inter­views, während sie ihr Zimmer aufräumte, regel­mäßig die Live-Über­tra­gungen der Metro­po­litan Opera im Radio – und dort sang bereits Marian Anderson. Sie war die erste schwarze Sängerin auf der größten Bühne der Nation. Und Marian Anderson war es auch, die für Jessye Norman die Schub­laden ihrer Kunst endgültig abge­schafft hatte. Wegen Ander­sons habe sie sich über­haupt über­legen können, ob sie Verdi oder Wagner singen wolle, erzählte sie einmal, statt dass ihr, wie es noch wenige Jahre vorher der Fall war, gesagt wurde, dass sie Porgy and Bess singen müsse. Was es über den Zustand der aussagt, dass die MET Jessye Norman anläss­lich ihres Todes ausge­rechnet die Auffüh­rung des Gershwin-Klas­si­kers widmete, sei dahin­ge­stellt.

Die einma­lige Karriere von Jessye Norman löst auch die Schub­laden der Nationen und Konti­nente auf. Ihre große Karriere begann nicht in den USA, sondern in – beim Inter­na­tio­nalen Musik­wett­be­werb der ARD und beim anschlie­ßenden, vier­jäh­rigen Fest-Enga­ge­ment (dem einzigen in ihrer Karriere) an der Deut­schen Oper in . Hier sang sie unter anderem die Elisa­beth aus Wagners Tann­häuser. Und wie! Jeden Aufzug legte sie eine neue Charakter-Facette in ihre Stimme: die jugend­liche, hoff­nungs­frohe Lieb­ha­berin, die Aufsäs­sige gegen die Wart­burg-Gesell­schaft, die leidende, zu Tode betrübte Geliebte des verdammten Minne­sän­gers.

Schon in diesen frühen Jahren hörte man, was Jessye Normans Stimme auch später auszeichnen sollte: Sie war derart groß, dass sie in jedem Charakter, egal, ob es Aida war oder Sieg­linde, ob er von Verdi oder von Wagner erfunden war, von Meyer­beer oder von Schön­berg, niemals nur Ober­fläche suchte, sondern in den Abgründen ihres Organs immer die passende Nuance für den jewei­ligen Moment aufspürte – Menschen waren für sie stets drei­di­men­sional.

Man könnte auch sagen: Jessye Norman weigerte sich, die Charak­tere, die sie verkör­perte, in eine Schub­lade zu stecken – jeder Einzelne wurde von ihr aufmerksam, mit Liebe erforscht und vor allen Dingen mit diesem schier unend­li­chen Sopran, der so tief war wie die Mutter Erde und so hoch wie die wolkenlos strah­lende Sonne. Stets, und auch das ist beson­ders, mit perfekter Diktion – in Englisch, Fran­zö­sisch, Italie­nisch oder Deutsch.

Als alle glaubten, Jessye Norman verortet zu haben, ging sie dorthin, von wo sie sich eigent­lich befreit hatte: zurück zum Jazz und zum Gospel. Weil sie es wollte. Nicht mehr, weil sie es musste. Und das hörte man ihr an. Jeder Choral, jeder Song wurde eine Ode an die Frei­heit, die Leben­dig­keit, die Melan­cholie. Und es passierte etwas Wunder­bares: Während andere Opern­stars durch Cross­over versu­chen, Pop-Publikum zur Oper zu bewegen, begeis­terte Norman ihr Opern­pu­blikum in Scharen für den Jazz!

Vor allen Dingen aber schaffte Jessye Norman es, zwei andere Schub­laden zu einer zusam­men­zu­legen: Die Lade der Göttin, der Diva, mit der Lade des Menschen. Nur wenigen gelingt der Spagat zwischen außer­welt­li­cher Unan­greif­bar­keit, die Norman qua Stimme zuteil­wurde und die sie durch ihre bombas­ti­schen Auftritte (man denke allein an das Trico­lore-Outfit zum 300. Jubi­läum des Sturmes auf die Bastille in Paris!) unter­strich, und der tiefen Mensch­lich­keit, die sie zum einen durch ihr Enga­ge­ment für Obdach­lose zeigte, zum anderen jedem entge­gen­brachte, der ihr gegen­über­trat – durch ihre Fähig­keit zuzu­hören, inter­es­siert zu sein, stets auf Augen­höhe zu reden und vor allen Dingen: durch ihre Freude daran, gemeinsam mit anderen Menschen zu lachen.

In den letzten Jahren ihrer Karriere löste Jessye Norman noch einmal alle Schub­laden auf und beschränkte sich fast ausschließ­lich auf das Genre des Liedes. Hier, in diesen Opern für die Hosen­ta­sche, in diesen Mikro­kosmen, in denen es darum geht, in Milli­se­kunden Stim­mungen zu ändern, Geschichten zu erzählen, Endlo­sig­keit durch Legati zu kreieren und das Wort als Ausdrucks­mittel zu benutzen, riss sie inner­halb weniger Minuten gigan­ti­sche Seelen­welten auf. Nach­zu­hören unter anderem in ihren einma­ligen Vier letzten Liedern von .

Mein Kollege Claus Fischer postete heute eine dieser wunder­baren Geschichten auf Face­book, die mit genau dieser Aufnahme in Verbin­dung stehen. Demnach besuchte Norman nach der legen­dären Aufnahme der „Vier letzten Lieder“ mit die Musi­ka­li­en­hand­lung M. Oelsner in , stöberte so lange, dass die Nacht einkehrte, der Laden nur noch für sie geöffnet war, schritt mit einem Stapel Noten zur Kasse und bestellte ein Taxi. Das war in Leipzig zu dieser Zeit schwer zu orga­ni­sieren, also bugsierte der Inhaber die korpu­lente Diva kurzer­hand in seinen Wart­burg und fuhr sie ins Hotel. Das Schöne ist: Man kann sich den Spaß, das Lachen und die Stim­mung einer solchen Fahrt bild­haft vorstellen – auch und gerade an einem trau­rigen Tag wie ihrem Tod.