Udo Lindenberg
Hinterm Horizont geht’s weiter
von Rüdiger Sturm
23. Mai 2021
Der Udo? 75? Das gibt’s doch nicht! Doch, das gibt’s! Und keine Panik, er nuschelt weiter – mit einem Blick zurück: »Udopia« von Udo Lindenberg bringt das Beste aus 50 Jahren plus vier neue Songs. Willkommen im Udoversum!
Udo Lindenberg ist eine Ikone bundesrepublikanischer Kulturgeschichte. Seine Lieder zeichnen sich nicht nur durch musikalische Stilvielfalt und raffinierte sprachliche Gestaltung aus, sondern vor allem durch das soziale Bewusstsein, das in ihnen zum Ausdruck kommt. Udo Lindenberg sang gegen rechtes Gedankengut, die deutsche Teilung, Aufrüstung, Homophobie und Menschenhass. Sein Album „Udopium“ bietet eine Werkschau und enthält eine Auswahl aus den nahezu 1000 Liedern, die er zwischen 1971 und 2021 schrieb sowie die vier neuen Lieder Mittendrin, Kompass, Land in Sicht und Wieder genauso.
CRESCENDO: Herr Lindenberg, Sie haben am 17. Mai 2021 Ihren 75 Geburtstag gefeiert. Welche Relevanz haben runde bzw. halbrunde Zahlen für Sie?
Udo Lindenberg: Hauptsächlich sind sie eine Zahl aus der irdischen Zeitzählung. Damit kann ich als Alien und Weltallnomade nicht so viel anfangen.
Parallel veröffentlichen Sie das Album „Udopium“, das einen Querschnitt Ihres Schaffens zeigt. Gibt es bestimmte Lieder, die besonders wichtig für Sie sind?
Natürlich meine Songs von ewiger Gültigkeit – zum Beispiel Wozu sind Kriege da? Eine Frage, die sich hoffentlich irgendwann mal erledigt, weil die Völker und Staatschefs einsehen, dass es besser wäre, Rüstungsmaterialien und Kriegsgeräte einzuschmelzen und daraus Raketen zu bauen für die friedliche Erforschung des Weltalls. Ebenso sollten sie einsehen, dass es ein tägliches Verbrechen ist, Unmengen von Kohle ins Militär zu stecken, anstatt den Hunger auf der Welt ein für alle Mal zu beenden. Das Budget eines einzigen Tages für den Militärscheiß würde reichen, alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Diese pervers kriminellen Zustände auf der Welt müssen wir beenden. Darum geht es auch in Kleiner Junge – ein weiterer Song gegen die verbrecherischen Machenschaften vieler Großinstitutionen auf der Welt. Jeder Song für Völkerfreundschaft, Internationalität – also keine Staaten –, für Frieden, gegen Rassismus, Menschenrechtsverletzer, Nazis und sonstige Gehirnamputierte ist mir super wichtig.
Im Titelsong zu Ihrem Biografiefilm, der letztes Jahr ins Kino kam, singen Sie: „Ich habe niemals dran gezweifelt, dass ich das überstehe.“ Wirklich nie?
Künstlerische Zweifel gab es schon, aber nie so Grundzweifel. Ich hatte immer das Gefühl, das kriege ich irgendwie geregelt. Ich bin mit so einem automatischen Optimismus ausgestattet. Den braucht man auch, wenn man ja eigentlich ein Planetenbesucher von einem anderen Stern ist.
Sie müssen sich auch wie von einem fremden Stern gefühlt haben, als Sie von der Provinz an die Reeperbahn kamen, wo Ihre Karriere begann.
Es war der totale Flash. Am Freitag, 13. Dezember 1968, stand ich vor dem Café Keese, wo mir heute zu Ehren ein Stern in den Gehweg eingelassen ist, und ich wusste: „Hier werde ich’s bringen.“ Das war, als hätte mich ein Blitz der Erkenntnis getroffen – bling, bling: Hier geht’s ab.
»Ich wollte die deutsche Sprache wiederentdecken, die uns die Nazis geklaut hatten.«
Allerdings mussten Sie als Drummer auch in Sex-Szenen den Takt schlagen. War das nicht demotivierend?
So häufig war das nicht. Ich wollte einfach, dass sich in Hamburg herumspricht: Hier ist ein geiler neuer Trommler in Town, den kann man engagieren. Der spielt auch an Weihnachten und zur Not auch in ‘nem Pornoladen, wenn die einen brauchen. Wenn einer krank war, bin ich kurz eingestiegen, während die ‘ne kleine Bühnenpopperei abgezogen haben. Ich Dr. Flexivel – und ich trommel den Tango dazu. Sooo fremd war das ja nun auch nicht. Meistens bin ich aber in einem Edel-Jazzclub namens Jazzhouse aufgetreten. Da wurde ich Haustrommler. Dann kam ich zu Inga Rumpf mit den City Preachers, und zuletzt holte mich Klaus Doldinger zu seinem Jazz-Quartett nach München, später Passport, das war damals riesig angesagt.
Als Sie dann als Solokünstler anfingen, sangen Sie ja bald auf Deutsch. Wie kam das?
Damals mit 20, 22 wollte ich was mit deutschen Rock’n’Roll-Texten machen. Straßensprache und so. Denn ich wollte die deutsche Sprache wiederentdecken, die uns die Nazis mit ihren Märschen, Schlagern und Durchhalteparolen geklaut hatten. Einer musste den Job ja erledigen und die deutschsprachige Rockmusik klarmachen. Und da kein anderer da war, musste ich eben selbst ran. Obwohl ich ja gar nicht „richtig“ singen konnte. Tja, fuck, da konnte ich mir keine Bescheidenheit erlauben.
Wie haben Sie die dann abgeworfen?
Ich sagte mir: Udo, tritt dir selbst in deinen kleinen Arsch, und stelle dich auf die Bühne und sag, du bist jetzt hier der Geilste, der Schärfste und Schnellste. Du bist jetzt ein Rockstar.
»Weil ich auch Schlagzeuger war, konnte ich mit der Sprache rumtrommeln und meine speziellen Synkopen setzen.«
Das hat funktioniert?
Vor dem ersten großen Auftritt in der Hamburger Musikhalle habe ich die Nacht durchgeschluckt. Es war die pure Angst vorm Versagen. Wir waren ja vorher nur in ganz kleinen Dingern aufgetreten. Aber jetzt in Hamburg in der Musikhalle – großer Laden, paar Tausend Menschen –, da waren alle Presseleute, Plattenfirmen, die Vippies und die Flippis und die Floppis. Alle am Start. Jetzt ging’s drum: „A Star is Born oder nicht.“ Als ich dann gut breit auf die Bühne kam: erst mal gestolpert. Schockermäßig. Aber ich habe mich katzenmäßig abgerollt und dann knallte mir das Mikro vor die Schnauze. Die haben echt gedacht, das war inszeniert. Aber unter uns: Es war schiere Besoffenheit. Und dazu mein promilliges Geschwanke. Daraus ist dann mein unnachahmlicher Tanzstil entstanden—aus dem Versuch, Balance zu halten und nicht auf die Fresse zu fliegen. Jedenfalls waren am nächsten Morgen die Schlagzeilen: „A Star is Born.“
Sie haben dann, wie geplant, der deutschen Sprachkultur neue Akzente gegeben. Woher kommt eigentlich Ihre enorme Kreativität beim Texten?
Von meiner Freude an unserer geilen Sprache von Goethe über Rilke, Hermann Hesse bis Thomas Mann, Brecht und Tucholsky, Kästner und Stuckrad-Barre. Weil ich eben auch Schlagzeuger war, konnte ich mit der Sprache rumtrommeln und meine speziellen Synkopen setzen. Als die Panik anfing und es mit meiner Solokarriere losging, schien mir alles offen – alles war möglich. Da brauchte ich dann kein Englisch mehr. Aber eigentlich ist dieser Erfindergeist, wenn wir das so nennen wollen, bei mir als Automatik eingebaut, mit Einspritzpumpe und Turbolader. Immer schon, vom Kleinkind bis zum Greis – der Greis ist heiß.
»Die Abwendung der Klimakatastrophe bleibt das größte Thema auf der To-do-Liste.«
Nur hat die Pandemie den „heißen Greis“ teilweise ausgebremst. Wie sehen Sie nach diesen Erfahrungen in die Zukunft?
Ich vermute sehr, dass wir spätestens 2022 wieder unsere Shows spielen können. Und die Zeit ist ready für den Aufbruch. Während der Pandemie wurde vieles klarer und bewusster. Was tun wir der Natur an? Letztlich kommt das Virus ja auch aus der Natur. Die Abwendung der Klimakatastrophe bleibt das größte Thema auf der To-do-Liste. Auch wenn das alles im Moment von Corona überlagert wird, bleibt doch ganz klar, was die Zukunft von uns verlangt, damit wir diesen Planeten nicht als Müllhalde an kommende Generationen übergeben.
Mögen Sie es eigentlich grundsätzlich, zurückzublicken?
Wer weiß, woher er kommt, kann bewusster in die Zukunft gehen. Zurückschauen in die Geschichte, so wie damals in der Schule, das war ein Flop. Das haben die nicht gut rübergebracht. Da höre ich mir lieber die 75 Songs meines neuen Panikwerks aus den 50 Jahren von 1971 bis 2021 an.
Das Fernsehprogramm 3sat hält den Film Udo Lindenberg – Keine Panik und immer mittendrin von Susanne Gliffe und Coco Quast bis 13. Mai 2021 verfügbar: www.3sat.de