Jessye Norman

Jessye Norman

Archiv-Glanz­lichter

von Roland H. Dippel

25. Dezember 2023

Das Vermächtnis einer großen Jahrhundertstimme: Jessye Norman. Zu Lebzeiten der Sängerin unveröffentlichte Aufnahmen mit Musik von Wagner, Strauss, Haydn, Berlioz und Britten.

Jessye Norman war eine der wich­tigsten Stimmen des 20. Jahr­hun­derts – unver­wech­selbar und wie Grace Bumbry, ihre afro­ame­ri­ka­ni­sche Kollegin, nicht ohne weiteres auf die Stimm­lagen Sopran oder Mezzo fest­legbar. Die Auftritte von Jessye Norman (1945 bis 2019) über­wäl­tigten von Salz­burg bis New York. Ihr humanes Enga­ge­ment krönte einen origi­nären Nimbus, der das Publikum in den Bann zog und Musik­kri­tiken zu apolo­ge­ti­schen Rhap­so­dien stei­gerte. Jessye Normans sänge­ri­sche Band­breite war aufre­gend, reichte von den kolo­nia­lis­tisch geprägten Titel­par­tien in L’Af­ri­caine und Aida bis zur Kult-Aufnahme von Richard Strauss« Vier letzten Liedern unter Kurt Masur und Spiri­tuals. Spätes­tens Anfang der 1980er-Jahre hatte sie mit Lied, Konzert und einer trotz langer vorsätz­li­cher Opern­pause höchst beacht­li­chen Bühnen­kar­riere den Zenit ihrer ausstrah­lungs­in­ten­siven Karriere erreicht. Bis zu deren Ende bewahrte sie sich akri­bi­sche Selbst­kritik.

Die Box vereint einige bisher unver­öf­fent­lichte Master­tapes. Bei den Ausschnitten aus Tristan und Isolde muss man bedauern, dass es zu keiner Gesamt­auf­nahme kam. Über dem 1998 unter Kurt Masur intensiv schim­mernden Gewand­haus­or­chester beherrschte Jessye Normans strö­mende vokale Fülle und Detail-Sensi­bi­lität das Ensemble. Neben ihr gab Thomas Moser einen kulti­vierten wie viel­ver­spre­chenden Tristan, glänzte Hanna Schwarz als bemer­kens­wert helle Bran­gäne und der ganz junge Ian Bostridge als Junger Seemann. Profes­sio­na­lität und Empa­thie geraten unter James Levine bei den Vier letzten Liedern und Wagners Wesen­donck-Liedern in aufre­gende wie glanz­volle Umar­mung. Die dritte CD ist den drei antiken Frau­en­fi­guren Bere­nice (Haydn), Cléopâtre (Berlioz) und Phaedra (Britten) gewidmet. Sie zeigt, wie Norman spezi­elles Reper­toire gran­dios und charis­ma­tisch zu bezwin­genden Offen­ba­rungen stei­gerte. Man hört es in jedem Ton: Sie sang nur, was für sie essen­zi­elle Bedeu­tung hatte. Auch das macht ihre Leis­tungen zu einem exem­pla­ri­schen Vermächtnis und diese Box zu einer Kost­bar­keit.

Fotos: Decca