Giya Kancheli

Wenn die Stille zur Musik wird…

von Ruth Renée Reif

4. Oktober 2019

„Aus Musik entsteht Stille, und zuweilen wird die Stille selbst zur Musik. Eine solche Stille zu errei­chen, ist mein Traum“, formu­lierte der geor­gi­sche Kompo­nist sein künst­le­ri­sches Credo. Die Stille wurde zum tragenden Moment in Kanchelis Werk. Aus der Stille erhebt sich der Klang, langsam fast statisch, gleichsam einem geheim­nis­vollen Ritual folgend. Es ist das Klang­bild der Welt, das aus der Stille geboren wird. „Kanchelis Sinfo­nien lassen uns in relativ kurzer Zeit ein ganzes Leben, ja eine ganze Geschichts­epoche durch­leben“, erklärte der russi­sche Kompo­nist Alfred Schnittke.

1935 in Tbilissi geboren, wandte sich Kancheli zunächst der Geologie zu, ehe er von 1959 bis 1963 am Konser­va­to­rium unter Ilja Tuskija Kompo­si­tion studierte. Er sammelte Erfah­rungen als Film­mu­siker und schloss sich modernen Thea­ter­künst­lern an. Ab 1966 arbei­tete er mit Robert Sturua, dem Chef­re­gis­seur am Rusta­weli-Theater, in Tbilissi zusammen, zu dessen berühmten Shake­speare-Insze­nie­rungen er die Bühnen­musik schrieb. Vor dem Hinter­grund von Chruscht­schows Tauwet­ter­pe­riode, während der sich ein allge­meiner Aufschwung des kultu­rellen Lebens vollzog, taten sich Sturua und Kancheli als Neuerer hervor. Mit Elementen unter­schied­li­cher Stile, Gattungen und Epochen, die inner­halb eines Werks nicht vereinbar schienen, suchten sie den Zuschauer zu einer neuen Sicht auf die Realität zu bewegen. Sie galten als Vertreter der geor­gi­schen Künst­ler­be­we­gung der „Sech­ziger“, die von dem Schrift­steller Nodar Dumbadse als „Kleine Renais­sance“ gefeiert wurde. Ihr gehörte auch der Diri­gent Djansug Kakhidze an, der in alle Kompo­si­tionen Kanchelis, einschließ­lich seiner Oper Musik für die Lebenden aus dem Jahr 1984, diri­gierte.

Giya Kancheli mit dem Geiger Gidon Kremer 
(Foto: Universal Music)

In diesen Kompo­si­tionen, deren Zentrum die von 1967 bis 1986 entstan­denen sieben Sinfo­nien bilden, verband Kancheli die jahr­hun­der­te­alten Tradi­tionen der geor­gi­schen Volks­musik mit Elementen moderner west­li­cher Kunst­musik, was ihm von der sowje­ti­schen Kultur­kritik die Beschimp­fung als „eklek­ti­scher Alles­ver­werter“ eintrug. Tatsäch­lich entwi­ckelte Kancheli aus der Kolli­sion von Stilen der Vergan­gen­heit und Gegen­wart ein indi­vi­du­elles, eigen­stän­diges Konzept. Die Beson­der­heit der mehr­stim­migen Gesänge Geor­giens, deren „geheim­nis­voller Geist“ Kancheli faszi­nierte, liegt darin, dass zwei gegen­sätz­liche musi­ka­li­sche Prin­zi­pien mitein­ander verbunden sind, die Entfal­tung modaler Melo­dien in der hori­zon­talen Ebene und die Koor­di­na­tion mehrerer Stimmen in der verti­kalen Ebene. Auf dieser Komple­xität baute Kancheli sein kompo­si­to­ri­sches Konzept auf, das im Laufe der Jahre zu immer größerer Einfach­heit führte. „Von Werk zu Werk“, so erläu­terte er, „wird meine Musik­sprache einfa­cher.“

Giya Kancheli mit der Geigerin Patricia 
Kopatchinskaja und dem Geiger Gidon Kremer 
(Foto: Martynas Sirusas / ECM Records)

1991 wurde Kancheli vom Deut­schen Akade­mi­schen Austausch­dienst für ein Jahr nach einge­laden, wo er bis 1995 blieb. Anschlie­ßend ging er nach Antwerpen. Dass er seine Heimat ausge­rechnet in jener Zeit verließ, als sie von ethni­schen Ausein­an­der­set­zungen zerrissen wurde und in einen hoff­nungs­losen Bürger­krieg versank, blieb als biogra­fi­scher Riss unheilbar. „Die Gedanken an mein Land verlassen mich nicht“, schrieb er 1994 in einem Brief an Alfred Schnittke. „Es ist sehr schlecht, wenn die Liebe zum Vater­land zum Beruf wird.“ Mit einem neuen Typus von Werk, den er zunächst als „Gebete“ bezeich­nete, suchte er das Exil zu bewäl­tigen und die Verbin­dungen zu seiner Heimat aufrecht­zu­er­halten. Trau­er­far­benes Land, der Titel seines Werks aus dem Jahr 1994, erin­nerte an Alex­ander Pusch­kins ahnungs­voll-medi­ta­tives Gedicht Auf den Hügeln Geor­giens liegt nächt­li­ches Dunkel: „Schmerz um Vergan­genes und Gegen­wär­tiges, Schmerz um Dahin­ge­gan­gene und Lebende, Schmerz um Leidende und Unglück­liche“ – in diesen Qualen suchte Kancheli „den Weg zur Hoff­nung und zu erha­bener Schön­heit“. 1995 folgte der Vokal­zy­klus Exil für Sopran, Instru­mente und Tonband, aber­mals eine Ausein­an­der­set­zung mit den Erfah­rungen der Entwur­ze­lung und der Fremd­heit.

Am 2. Oktober 2019 starb Giya Kancheli im Alter von 84 Jahren in Tbilissi.

Zu den CD-Aufnahmen mit Giya Kanchelis Musik: www​.ecmre​cords​.com

Fotos: Martynas Sirusas /ECM Records