Festival für Neue Musik :
Hier gibt es Lauchstangen zum Hören

Von Clemens Haustein
Lesezeit: 4 Min.
Szene aus „Haphephobia“ von Rafał Ryterski
Von der Seminaritis geheilt: Die neue Leiterin Kamila Metwaly bringt das Berliner Festival Maerzmusik wieder ins Gleichgewicht.

Wenn ein Musikstück zu Ende ist, klatscht das Publikum. Das ist so selbstverständlich, dass man es kaum erwähnen will. Aber wie teilt sich das Ende mit? Woraus nimmt der Hörer die Sicherheit, dass nichts mehr kommt?

Jakob Ullmanns Performance „voice, books and FIRE II/4“ bewegt sich über eine Stunde lang im Bereich des gerade noch Hörbaren. Wie aus weiter Entfernung lassen sich Töne ausmachen, offenbar im Chor gesungene, lang gehalten, mit zwei oder drei anderen Stimmen meist konsonante Harmonien bildend. Die Klänge an der Grenze zur Hörschwelle konkurrieren mit dem Geräusch der Klimaanlage, Vogelgezwitscher mischt sich hinein – kommt es aus den Lautsprechern oder vom Dach des Berliner Festspielhauses?

Jakob Ullmann bei der Maerzmusik

Wie die Grenzen des Hörbaren verschwimmen, so verschwimmen für den Hörer auch die Grenzen dessen, was zu dieser Perfomance gehört. Die Phantasie wird in Gang gesetzt und vor ein Problem gestellt, wenn sich das gerade noch Hörbare schließlich doch in die Stille verabschiedet. Ist da wirklich nichts mehr? Oder kommt noch was? Darf man klatschen, oder würde man damit eine grobe Unhöflichkeit begehen: den einen aus meditativer Versunkenheit reißen, den anderen aus dem Tiefschlaf (denn Jakob Ullmanns weich und warm tönende Fernst-Sphärenmusik hat nach der anfänglichen Überraschung durchaus einschläfernde Wirkung)? Und wem würde der Beifall überhaupt gelten, wenn doch nur im dunklen Hintergrund der Bühne zwei Personen zu sehen sind, wohl an Mischpulten, die hin und wieder mit ihren Armen rudern und wohl Zeichen geben an zwei weitere Personen, die vor der Bühne sitzen, mit dem Rücken zum Publikum, Mikrofone vor sich?

Solche Momente der Unsicherheit sind gewollt bei der „Märzmusik“, dem Berliner Festival für musikalische Avantgarde und Innovation. Die bekannten, eingeübten Riten des Konzertlebens sollen hinterfragt, neue Konzertformen erprobt und Grenzen zwischen den Sparten verwischt werden. Was lässt sich alles unter dem Überbegriff „Musik“ versammeln? Darauf versucht das einwöchige Festival eine Antwort zu finden. Das soziologische Experiment, wie sich ein Publikum auf das Ende eines Stückes verständigt, gehört ebenso dazu wie eine Musik, die ihre Aura nicht zuletzt aus dem Geheimnisvollen bezieht. Ein dicht bedrucktes Papier sieht man auf dem Tisch vor der Bühne liegen. Die Frau vor dem Mikrofon berichtet, dass all das während der Aufführung rezitiert worden sei, unhörbar. Was steht denn auf dem Papier? Sie wisse nicht, ob es im Sinne des Komponisten sei, das zu verraten.

Metwaly versucht, beide Seiten wieder zusammenzubringen

Rein von der Ausdehnung her und vom Appell an das Zeitgefühl des Hörers, schließt Jakob Ullmanns Performance an frühere Ausgaben der Maerzmusik an, als noch vom „Festival für Zeitfragen“ die Rede war. Der Untertitel ist passé, Berno Odo Polzer, der acht Jahre lang die Maerzmusik leitete, hat an Kamila Metwaly übergeben, die im vergangenen Jahr bereits als Kuratorin mit von der Partie war. Metwaly hat erkannt, dass sich bei den zurückliegenden Ausgaben der Maerzmusik der Diskursteil mit seinen Diskussionen über „Zeitfragen“ vom eigentlichen musikalischen Teil des Festivals entfernt hatte.

Metwaly versucht nun, beide Seiten wieder zusammenzubringen. Als Ort dafür hat sie eine „Library“ eingerichtet im ersten Stock des Hauses der Berliner Festspiele. Hier sprechen Komponisten und Interpreten über die Stücke und die Aufführungen, hier kann der Besucher Einblick nehmen in großformatige Partituren von Rebecca Saunders, Mathias Spahlinger und Enno Poppe (Poppe steht Metwaly in diesem Jahr als Gastkurator zur Seite), schön edierte Literatur liegt aus zu den Themen, die beim Festival eine Rolle spielen: Dekolonisierung zum Beispiel oder Feminismus.

Wie Kamila Metwaly die Maerzmusik über kulturelle und geographische Grenzen öffnet, ist neu und auch Ausdruck ihres persönlichen Hintergrundes. Metwaly wurde in Warschau geboren und wuchs in Kairo auf. Ihre Mutter ist Polin, ihr Vater Ägypter, sie spricht Polnisch, Arabisch und Englisch und lebt nun wechselweise in Berlin und Kairo.

Der Bauch fühlt sich ebenso angesprochen wie der Kopf

Ein Zeichen der neuen Offenheit war etwa ein Gastspiel des Ensembles „Spółdzielnia Muzyczna“ („Musikgenossenschaft“) aus Krakau. Die Musiker brachten Werke polnischer Komponisten mit, die sich in wohltuender Weise jenseits des intellektuellen Egotrips bewegten: Martyna Kosecka steuerte mit „Weightlessness“ eine Klangskulptur bei, die durch Streich-, Blas- und Bürstgeräusche zum Schimmern gebracht wird. Artur Zagajewskis „Mechanofaktura“ baut auf der Mechanik der Minimal Music auf und reichert sie mit fröhlichem Geräuschzinnober an. Paweł Malinowski wiederum schrieb mit „Title Unknown“ ein gläsernes Klanggespinst, mit dem er den Hörer auf natürliche Weise zum Lauschen zwingt.

Der Bauch fühlt sich dabei ebenso angesprochen wie der Kopf, was sich von Elaine Mitcheners Performance „On Being Human as Praxis“ nur bedingt sagen lässt. Angeregt von der gleichnamigen Textsammlung der jamaikanischen Feministin Sylvia Wynter bat Mitchener fünf Komponisten um Werke zu Wynters Texten. Wie Herkunft, Ort und Zeit über das Menschsein bestimmen, darum soll es hier gehen, aber der Abend zieht sich hin in akustischer und darstellerischer Eintönigkeit. Mitcheners Vokalkunst ist frappierend, von Wynters Texten, die vertont wurden, ist aber kaum etwas zu verstehen. Die Musik, gespielt von der „Manufaktur für aktuelle Musik“, begnügt sich meist mit Hintergrundrauschen. Zwei Tänzer verdrehen sich in existenziellen Unbequemlichkeiten, sie sterben tausend Bühnentode. Doch geht es auch mit Humor: Bei Michael Beils „Hide to show“ mit dem Nadar Ensemble werden mit dem „Loituma Girl“, einem asiatischen Internetphänomen, Lauchstangen geschwungen und überhaupt allerhand tempo- und ironiereicher Mummenschanz getrieben. Das macht großen Spaß.