Valery Gergiev wird 70 :
Der Zar der Musik

Von Anastassia Boutsko
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Valery Gergiev dirigiert im Setember 2019 Bruckner in der Abtei von Sankt Florian mit den Münchner Philharmonikern
Valery Gergiev gehört zu den bedeutendsten Dirigenten der Welt und ist doch Fleisch vom Fleisch eines monströsen Imperiums. An diesem Dienstag wird er siebzig Jahre alt.

Noch vor Kurzem war er einer der gefragtesten Dirigenten der Welt, und mit seinem Vermögen, das auf mehr als eine Milliarde Euro geschätzt wird, dürfte er der weltweit reichste Musiker sein. Valery Gergiev ist eine Jahrhundertfigur nicht nur der russischen Kultur, sondern auch des globalen Klassikgeschäfts. Doch seine derzeitige Lage ist desaströs. Nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums errichtete er in der brachliegenden Kulturlandschaft ein Musik-Imperium. Mit Wagner, Mahler, Mussorgski schlug er ein Millionenpublikum in Bann. Infolge des Ukrainekriegs hat der Triumphator nun fast alles wieder verloren.

Den Vorabend seines siebzigsten Geburtstags verbrachte Valery Gergiev nicht unterwegs zu den wichtigsten internationalen Konzertbühnen, sondern in dem Dorf Tschornyj Otrog im Ural, dem Geburtsort des ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin, der es seinerzeit ermöglichte, dass der Chef des Petersburger Mariinsky-Theaters dieses zu einem ganzen Musikquartier mit mittlerweile drei Opernhäusern ausbaute. Der Maestro ehrte den 2010 verstorbenen Freund mit einem Konzert. Danach tourt Gergiev im Rahmen des von ihm gegründeten Osterfestivals mit Mariinsky-Musikern durch Russland, wobei er in drei Wochen dreißig Städte besucht und zwei bis drei Konzerte pro Tag gibt. Für ihn ist das Normalität. Die Programme sind so flexibel, dass die Musiker oft nicht wissen, was sie gleich spielen werden.

Valery Abissalowitsch sei ein Mann des christlichen Kaukasus, sagt ein altgedienter Mitstreiter am Mariinsky-Theater. Seine wichtigsten Prinzipien seien die Achtung der Tradition und die Loyalität gegenüber Männern, die in der Stammeshierarchie über ihm stehen. Dies ist ein Schlüssel zu Gergievs Persönlichkeit. Er wurde 1953 als Sohn eines ossetischen Offiziers und sowjetischen Kriegsveteranen geboren. Männliche Mitglieder der Familie gingen normalerweise zum Militär, der hochbegabte Valery jedoch wurde Dirigent. Freilich scheint er etwas vom kriegerischen Erbe seiner Vorfahren in seine Musikerkarriere zu übertragen, jedenfalls eroberte er zuerst Russland und dann den Rest der Welt. Wie besessen übte er als Student im Wohnheim des Leningrader Konservatoriums, Kommilitonen erinnern sich daran, wie er nächtelang alle Mahler-Symphonien, Werke von Richard Strauss und Wagner am Klavier durchexerzierte.

Als Meisterschüler des legendären Ilja Musin gewinnt Gergiev 1977 den Herbert-von-Karajan-Wettbewerb. In Russland wurde er 1988 Chefdirigent des Kirow-Theaters (wie das Mariin­sky damals hieß), zugleich wurde er im Westen ein führender Interpret und Propagandist russischer Musik. Gergievs Dirigate bezwingen durch Urkraft und vibrierende Magie – soweit er sich genug Zeit zum Proben nimmt und nicht verspätet zu den eigenen Konzerten erscheint. Und er leistete Pionierarbeit: Am Mariinsky brachte er Wagners „Ring des Nibelungen“ auf die Bühne, seit dem legendären Gastspiel von Angelo Neumann Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch immer eine Rarität in Russland. Gergiev setzte sich für Opern von Richard Strauss und für Neukompositionen ein.

Von seinem Petersburger Hauptquartier aus wob Gergiev ein globales Netz. Er wurde Chefdirigent in Rotterdam, London, München, leitete Festivals im finnischen Mikkeli und im japanischen Sapporo, gastierte bei den Salzburger Festspielen und erfüllte sich 2019 seinen Jugendtraum mit Wagners „Tannhäuser“ in Bayreuth. Er bildete mithilfe seiner Schwester Larissa, einer Pianistin, am Petersburger Opernstudio Spitzenstimmen heran, etwa Anna Netrebko, unterwarf den von Korruption zerfressenen Tschaikowsky-Wettbewerb strengen Reformen unter internationaler Aufsicht und förderte erstklassige junge Musiker wie den Pianisten Daniil Trifonov. Nebenbei häufte Gergiev, der auch einen niederländischen Pass besitzt, ein großes Vermögen an. Das Rechercheteam des inhaftierten Korruptionsjägers Alexej Nawalnyj fand allein in Italien Immobilien im Wert von mehr als 100 Millionen Euro, die ihm gehören sollen, darunter ein Palazzo am Canal Grande in Venedig und ein noch von Richard Wagner favorisiertes Café am Markusplatz.

Gergievs Höhenflug und Absturz waren so dramatisch, wie es vielleicht nur in Russland, dem Land der Extreme, denkbar ist. Er ist Fleisch vom Fleisch des monströsen Imperiums und teilt dessen Schicksal. Den humanen Kern der Musik, der er sich verschrieb, hat er verraten. Was bleibt, ist ein Musiker von ambivalentem Charisma, dem man sich schwer entziehen kann.