Bühnen Bern | 6. April 2022
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Das Stadttheater Bern verliert sein Opernpublikum

«Folgen Sie uns!» Der Werbeaufruf für Bühnen Bern, ehemals Konzert Theater Bern, tönt verlockend. Florian Scholz ist angetreten, das Vierspartenhaus über die Berner Kantonsgrenzen hinaus zum Erfolg zu führen. Das ist auch bitter nötig: Der Verlust von 12'000 Besuchern in der Saison 2018/2019, allein in der Sparte Oper, wiegt schwer. Ein Blick auf die aktuellen Auslastungszahlen für Mozarts «Idomeneo» oder Debussys «Pelléas et Mélisande» bringt Ernüchterung. Im Schauspiel sieht es ähnlich düster aus. Die Erklärung des Hauses ist ausweichend.
«Folgen Sie uns.» Der Werbeaufruf von Bühnen Bern hat Pfiff, doch gerade in der Sparte Musiktheater und vermehrt auch im Schauspiel lässt der Drang dazu merklich nach.
«Folgen Sie uns.» Der Werbeaufruf von Bühnen Bern hat Pfiff, doch gerade in der Sparte Musiktheater und vermehrt auch im Schauspiel lässt der Drang dazu merklich nach.Foto: Peter Wäch

Wer sich ein Ticket für die Oper «Pelléas et Mélisande» kaufen möchte, hat die Qual der Wahl, denn viele Plätze sind noch verfügbar. Entsprechend rot leuchtet es auf der Buchungs-Website, und der Warenkorb bleibt ungenutzt. Das gilt nicht nur für kommende Aufführungen (Die Vorstellung von Dienstag musste aufgrund Corona-Erkrankungen abgesagt werden), sondern zieht sich durch für die weiteren geplanten Vorstellungen bis Ende Juni dieses Jahres. Auch davor war die Auslastung mehr als mau, gerade mal die Premiere am 20. März war gut besucht, danach spielten die Künstler vor viertelvollen Rängen. Die Begeisterung für Mozarts wenig hitreiche Oper «Idomeneo» hält sich ähnlich in Grenzen. Auch hier will ein Gros des Publikums für einmal nichts wissen vom musikalischen Genie aus Salzburg.

39 Millionen, leere Säle

Bühnen Bern wird von der Stadt Bern, vom Kanton Bern und der Regionalkonferenz Bern-Mittelland mit 39 Millionen Franken subventioniert. Weitere Mittel kommen von der Burgergemeinde Bern, verschiedenen Stiftungen, Sponsoren und Partnern. Trotzdem kämpft das Haus mit wiederholtem Zuschauerschwund. Bereits vor drei Jahren waren die Zahlen eingebrochen, KTB musste einen Verlust von 12'000 Besuchern allein im Musiktheater verkraften. Damals konnte ein Teil dieses Rückgangs mit den vorangegangenen Renovationsarbeiten beschönigt werden. Im Gegensatz zu früher sind aber nun auch die Ticketverkäufe im Schauspiel öfters im Keller. Die Aufführungen «Jugojugoslavija» von Bonn Park sind dünn besucht, das war unter anderen schon für Stücke wie «Ein Tuntschi auf Rachelfeldzug» der Fall.

Die Inszenierungen in der laufenden Saison von Bühnen Bern wurden bei einem Teil des Publikums teils ambivalent, teils mit mässiger Begeisterung aufgenommen, darunter «Don Carlos» von Marco Storman, …
Die Inszenierungen in der laufenden Saison von Bühnen Bern wurden bei einem Teil des Publikums teils ambivalent, teils mit mässiger Begeisterung aufgenommen, darunter «Don Carlos» von Marco Storman, …Fotos: zvg
Gewisse Spuren der Pandemie

Diese Zeitung hat Bühnen Bern um eine Stellungnahme gebeten. Anstatt eines Vertreters des Leitungsteams – Bern hat mit Intendant Florian Scholz, Chefdirigent Nicholas Carter und Co-Operndirektor Rainer Karlitschek drei Verantwortliche im Bereich Musiktheater – antwortet zuerst Chloé Laure Reichenbach, die die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Bühnen Bern macht: «Die Auslastungstendenzen in der Oper und im Schauspiel sind in der Tat variierend und nicht erschreckend schlecht. Doch wie Sie mit Sicherheit auch bei anderen Häusern und Kulturakteuren feststellen konnten, lassen sich gewisse Spuren der Pandemie auch bei den Besucherzahlen nicht vermeiden. Wir sehen diese Variation in der Auslastung als eine gegebene Herausforderung jeder Kulturinstitution».

… «Das Rheingold» von Ewelina Marciniak (im Bild) und «Idomeneo» von Milos Lolic.
… «Das Rheingold» von Ewelina Marciniak (im Bild) und «Idomeneo» von Milos Lolic.
Volles Haus am Lac Léman

Die Feststellung, dass sich bei anderen Häusern wie in Biel, Solothurn, Lausanne oder Zürich Spuren der Pandemie ausmachen lassen, kann diese Zeitung nicht in einem gröberen Mass ausmachen, wie Bühnen Bern behaupten. Im Gegenteil: Für einige Produktionen, wie zum Beispiel Händels dreistündiges Opus «Alcina» von Stefano Poda an der Opéra de Lausanne, hätte man locker Zusatzvorstellungen aufgleisen können. Vier TV-Sender waren vor Ort, um das Grossspektakel aufzuzeichnen. Der Jubel war enorm, das Haus stets voll. Das gleiche Bild zeigte sich am Genfersee letzten Sonntag an der Premiere von Tschaikowskis Opus «Eugen Onegin». Doch was genau hält die Bernerinnen und Berner von einem Besuch in ihrem Stadttheater und der etwas entlegenen Spielstätten in den Vidmarhallen im Liebefeld ab? Auf Nachhaken sind die Bühnen Bern zu einer erweiterten Stellungnahme bereit. Diese Zeitung schickt konkrete Fragen an das Leitungsteam. Am Montag trifft die Antwort von Co-Operndirektor Rainer Karlitschek ein (siehe Kasten).

Im Schauspiel zieht unter anderem das Stück «Jugojugoslavija» von Anita Vulesica nicht …
Im Schauspiel zieht unter anderem das Stück «Jugojugoslavija» von Anita Vulesica nicht …
Was gefällt, wird gebucht

Wir fragen einen Theaterkenner aus Bern, der anonym bleiben möchte. Er hebt einen wesentlichen Aspekt hervor, der die schlechten Besucherzahlen betrifft: «Obschon äusserst selten im Grossen Haus gespielt wird, ist die Frequenz im Musiktheater sehr schlecht. Hier kann die Direktion keinesfalls die Pandemie als Ausrede benützen, denn die Ballettabende sind sowohl im Stadttheater wie in der Vidmar 1 immer ausverkauft». Der Opern- und Theaterfreund ist sich sicher: «Wenn die Leute etwas sehen wollen, das ihnen gefällt, kommen sie auch». Pikant: Ausgerechnet die erfolgreiche Ballettdirektorin Estefania Miranda verlässt die Stätte. Die Aussage oben lässt jedenfalls einzig den Schluss zu, dass dem Publikum in den Sparten Musiktheater und Schauspiel viele der gezeigten Stücke oder deren Auswahl missfällt und dass es auf andere Häuser ausweicht.

… und auch die höhere Idiotie «Das Ende von Schilda» von Ariane von Graffenried und Martin Bieri scheint nach der Uraufführung von letztem Wochenende kein Renner zu werden.
… und auch die höhere Idiotie «Das Ende von Schilda» von Ariane von Graffenried und Martin Bieri scheint nach der Uraufführung von letztem Wochenende kein Renner zu werden.
Die gleichen Fehler

Im Bereich Oper fällt auf, dass die Programmierung ähnlich weitergeht wie unter der Führung von Stephan Märki und Xavier Zuber. Es fehlen die bekannten Hits, und ist mal einer dabei, erscheint die Lesart derart holprig oder unverständlich, dass man sich zuerst durch mehrere Seiten Programmheft mit sachdienlichen Hinweisen quälen muss. Die Bühnen Bern wie schon KTB zeigen Oper, wie man sie in Grossstädten wie Hamburg oder Berlin vor die Nase gesetzt bekommt. Das bringt tolle Kritiken in den Feuilletons, für die ländlich geprägte Bevölkerung in und ausserhalb der Hauptstadt scheint ein allzu modernistischer Ansatz jedoch wenig reizvoll. In der laufenden Saison 2021/2022 gibt es zudem kein einziges komisches Werk. Die gezeigten Stücke sind alle ernst, schwer und mit zum Teil todtraurigem Ausgang, das gilt sogar für das Musical «Evita» von Andrew Lloyd Webber.

Treues Publikum aufbauen

Opernfreunde, die schon alles mehrfach gesehen haben, bejubeln es verständlicherweise, wenn sie Werke vorgesetzt bekommen, die für nicht wenige sperrig oder gar ungeniessbar sind. Das Motto lautet: Viel Janácek, kein Massenet. Von Mozart alles, von Donizetti nichts. Doch die Masse, die dann die Zuschauersäle füllen soll, bleibt lieber zu Hause. Der Generaldirektor Éric Vigié von der Opéra de Lausanne sagt im Interview mit dieser Zeitung: «Es ist derzeit das Problem vieler Opernhäuser, dass die Entscheidungen der Leitung das Publikum nicht ansprechen. Sie müssen sich als Intendant oder Spartenleiter wirklich ein treues Publikum aufbauen, das an Ihre beruflichen und künstlerischen Fähigkeiten glaubt. Das Preis-Leistungs-Verhältnis muss auch stimmen. Andernfalls riskieren Sie, dass sich die Besucher abwenden».

Dunkle Wolken über dem Stadttheater. Kommt es bei Bühnen Bern zu einem Zuschauerschwund wie schon zuvor bei KTB?
Dunkle Wolken über dem Stadttheater. Kommt es bei Bühnen Bern zu einem Zuschauerschwund wie schon zuvor bei KTB?Foto: Peter Wäch
Konkrete Fragen bleiben unbeantwortet

Es kommt einer Oper in drei Akten gleich, von Bühnen Bern eine Stellungnahme aus der oberen Etage zu erhalten. Diese Zeitung stellt vor dem letzten Wochenende nach Vereinbarung konkrete Fragen an das Leitungsteam. Am Montag kommt ein Statement von Rainer Karlitschek. Die einzelnen Fragen beantwortet der Co-Operndirektor nicht, er geht nur zum Teil auf sie ein und bleibt über weite Strecken vage. Als wir um eine Porträtaufnahme bitten, begründen Bühnen Bern ihren negativen Entscheid wie folgt: «Da es sich bei Ihrer Anfrage nicht um eine direkte Gesprächsanfrage mit Rainer Karlitschek handelte, halten wir es für etwas unpassend, in diesem Kontext ein Foto von ihm zu verwenden». Diese Zeitung listet deshalb zuerst die Fragen, die schriftlich vorlagen und bringt danach den ungekürzten Text von Rainer Karlitschek.

Die Fragen dieser Zeitung an das Leitungsteam:
  • Bereits in der Saison 2018/2019 verlor Konzert Theater Bern 12'000 Zuschauer allein in der Sparte Musiktheater. Welche Massnahmen wurden getroffen oder sind in Vorbereitung, um diese Zuschauer wieder zurückzuholen?
  • Wie erklären Sie sich die schlechte Auslastung bei Mozarts «Idomeneo» sowie Debussys «Pelléas et Mélisande» – unabhängig von der Belastung durch die Pandemie? Kann es sein, dass das Publikum die Werke zu wenig kennt oder Debussys Partitur für den «Laien» monoton daherkommt?
  • In der laufenden Saison fehlen die bekannten Opernhits, zudem sind alle gezeigten Werke ernst und musikalisch eher schwermütig. Es gibt keine einzige Opera buffa. Warum?
  • Die Inszenierungen der Opern sind mehrheitlich modernistisch geprägt und erschliessen sich nicht allen sofort. Sind Sie sich der Gratwanderung bewusst, die «komplexere» und zeitgenössische Lesarten mit sich bringen können, gerade auch im Hinblick auf ein ländlich geprägtes Umfeld eines mittelgrossen Hauses?
  • Die letzten Saisons in Bern (auch KTB) hinterlassen beim Schreibenden folgenden Eindruck: Viel Janácek und Wagner, kein Massenet oder Giordano. Von Mozart alles, von Donizetti nichts. Können Sie das nachvollziehen?
  • Auch in der Sparte Schauspiel lassen die Besucherzahlen zu wünschen übrig. Jüngstes Beispiel ist das Stück «Jugojugoslavija» in der Vidmar. Fehlen die Klassiker oder liegt es an den Inszenierungen?

Das Statement von Co-Operndirektor Rainer Karlitschek:

Öffentlich geförderte Theater stehen gerade aufgrund der Pandemie, die das Gegenteil dessen erforderte, was Theater ausmacht, vor besonderen Herausforderungen. Es gilt, das Publikum vor Ort für das Theater als kommunikativen Ort zu gewinnen, zum anderen aber auch, künstlerische Prozesse und Entwicklungen selbst voranzutreiben, also Künstlern und Künstlerinnen einen Ort der Entfaltung zu ermöglichen. Dementsprechend unterschiedlich muss auch die Beurteilung ausfallen, was eigentlich als Erfolg bezeichnet werden kann. Es gilt der Widerspruch: ohne Publikum keine Kunst, ohne Kunst kein Publikum.

Die Auswertung der Auslastungszahlen ist komplex. Beispielsweise startete die Saison 19/20 bezüglich des Publikums rekordverdächtig, wurde jedoch von der Pandemie jäh beendet. Seither hat sich vieles verändert, die Auswirkungen und Veränderungen der Wechselwirkung von Zuschauer und Bühne sind noch gar nicht abzusehen. Zunächst kann man aber beobachten, dass klassische Konzerte weniger zugkräftig in die neue Normalität mit und nach Corona zurückkehren denn Freiluft- und Party-Events. Auch reagiert die Bevölkerung an jedem Ort unterschiedlich, die Begründungen dafür sind zumeist wenig evidenzbasiert.

Es gilt daher, wieder Lust und Neugierde zu wecken für eine Kunst, die von der unmittelbaren Wirkung zwischen Bühne und Zuschauer lebt. Beispielsweise ist im Fall von Idomeneo derzeit zu beobachten, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen im Theater absolut enthusiastisch auf die Aufführung reagieren – hier scheint der Zauber der Aufführung zu greifen.

Programmatisch setzen wir bei den Bühnen Bern und gerade in der Oper auf eine Vielfalt von zentralen Werken der Opernliteratur, von Besonderheiten und populären Formen wie Musical – so wie auch der Subventionsgeber eine Vielfalt der Werke einfordert. Diese Spielzeit stehen Werke von Mozart, Verdi und Wagner auf dem Programm – überall in der Welt die zentralen Säulenheiligen und sehr populär. «Don Carlos» und «Rheingold/Der Ring des Nibelungen» – zwei absolute Hits, aber eben auch Werke von Debussy, Haas und Bellini sowie «Evita» von Andrew Lloyd Webber, was die Vielfalt und den allgemeinen Kulturauftrag unterstreicht.

Man sollte zudem nicht den Fehler machen, das Publikum zu unterschätzen. Warum soll es nicht möglich sein, mit Freude und Spannung Debussy oder Haas zu lauschen? Das ist weniger eine Frage der Übung denn der Offenheit gegenüber Kunst. Dass Kommunikation und Offenheit gelingen kann, ist auch eine Frage der Partner und Partnerinnen sowie Träger und Trägerinnen in der Öffentlichkeit.

Die Verantwortlichen bei Bühnen Bern reflektieren die derzeit schwierige Situation nach der Pandemie sehr genau und immer auch selbstkritisch, suchen nach Möglichkeiten, künstlerische Antworten auf die derzeitige Situation zu geben, sodass die Relevanz des Theaters – von der man überzeugt ist und in zahlreichen Arbeiten dieser Saison unter Beweis gestellt hat – auf höchstmöglichem Niveau an jedem Abend spürbar gemacht werden kann.