Berliner Staatsopern-Intendant: Ich weiß nicht, ob Thielemann überhaupt will

Ein Blick hinter die Kulissen zeigt: Der Staatsoper drohen chaotische Zeiten. Intendant Matthias Schulz über Barenboim, Thielemann und eine kritische Phase. 

Der Intendant der Staatsoper Matthias Schulz am 17. November 2022 in Berlin.
Der Intendant der Staatsoper Matthias Schulz am 17. November 2022 in Berlin.Emmanuele Contini

Wir treffen Matthias Schulz in seinem Büro in der Staatsoper Unter den Linden. Er steuert das Haus gerade durch eine kritische Zeit. Die Barenboim-Nachfolge ist ungeklärt, Schulz selbst ist auf dem Absprung nach Zürich. Im Gespräch ist er ruhig und besonnen. Doch er lässt keinen Zweifel aufkommen: Um an die jüngsten Erfolge, etwa mit Wagners Ring oder den Barocktagen, anknüpfen zu können, braucht es bald Entscheidungen. 

Berliner Zeitung: Herr Schulz, in Kürze beginnen die Barocktage, die Sie erfunden haben – warum gibt es die ausgerechnet in der Staatsoper Unter den Linden?

Matthias Schulz: Es gab in dieser Dichte – drei Opern, 15 Konzerte – kein Festival in Berlin. Die Angebote für Barockmusik sind in Berlin nicht so groß, wie man denken möchte. Für uns in der Staatsoper bietet sich außerdem die Möglichkeit, Gastorchester einzuladen, die im Originalklang spielen – und die Staatskapelle kann auf Tournee gehen, ohne dass wir schließen müssen. Unser Haus hat die Intimität für diese Musik, weil die Rokoko-Ausmaße auch mit dem Umbau beibehalten wurden. Die Obertöne sind besser zu hören, und deshalb passt diese Musik so gut in unser Haus. Außerdem hat es im Bereich der Alten Musik in den vergangenen 15 Jahren vermutlich die innovativsten Entwicklungen gegeben. Die Staatsoper will mit den Barocktagen auf eine große Entdeckungsreise gehen.

Wie lange sind Sie jetzt eigentlich in Berlin?

Ich wurde 2015 designiert, habe vom ersten Tag an begonnen, für das Projekt zu arbeiten und bin seit Oktober 2017 in der Verantwortung.

Vorher waren Sie in Salzburg, das war alles sehr beschaulich, keine Konflikte. Haben Sie sich Ihre Zeit an der Staatsoper so turbulent vorstellt, als Sie herkamen?

Ich habe so ziemlich alles erlebt, was möglich ist. Ich würde sagen, mittlerweile kann ich Krise. Es ist allerdings schon eine einzigartige Möglichkeit, sich in dieser Stadt mit all seinen Kulturinstitutionen zu bewähren. Die Staatsoper trägt alle Brüche in sich, seit Preußen. Und das ist auch spürbar in den Mentalitäten. Ich habe so viel erlebt, dass ich eine zwanzigteilige Netflix-Serie schreiben könnte: „House of Opera“.

Haben Sie irgendwie mitbekommen, wie das Ost-Berliner Kulturpublikum ist, ob es da Unterschiede gibt? In Ost-Berlin lebten ja auch die Kultureliten, und ich kann von der Berliner Zeitung sagen, dass es bei den Ost-Berlinern eine sehr hohe Bildung und Kulturkompetenz gibt.

Interessant war für mich zu hören, dass zum Beispiel der Applaus einen ganz anderen Klang hat. Das Ost-Berliner Publikum ist enorm kenntnisreich. Kultur wird anders erlebt, stiller. Es gibt einen anderen Erfahrungsschatz. Das ist schon spürbar, auch bei der Staatskapelle. Bis heute gibt es dort Musiker, die noch unter Otmar Suitner gespielt haben. Viele haben die ganze Wendezeit erlebt. Sie waren es gewohnt, viel vorsichtiger zu kommunizieren. Das hat dazu geführt, dass man mit dem Intendanten nur gesprochen hat, wenn man glaubte, die Wortmeldung sei vollends ausgegoren. Und andererseits galt, was der Intendant gesagt hat, wie ein Gesetz.

Könnte es sein, dass diese Art der Zurückhaltung vom Führungspersonal mitunter missverstanden wurde? In Ihre Amtszeit fällt ja auch die ganze Aufarbeitung, als es plötzlich Vorwürfe von Machtmissbrauch gegen Daniel Barenboim gab.

Mir war es wichtig, den Leuten zu sagen: Sprecht mit mir, es gibt keine dummen Fragen, ich will wissen, wie ihr es machen würdet. Ich möchte Räume haben, wo man auch einmal Halbgares bespricht. Da hat man gemerkt, es gab viele Blockaden.

Haben die vielen Brüche auch dazu geführt, dass das Haus selbst mit Brüchen besser umgehen kann als Häuser, wo es nie Umbrüche gab?

Absolut. So ein Haus vergisst nichts. Wenn man sieht, wer hier gearbeitet hat – von Richard Strauss über Furtwängler bis Barenboim. Das ist beindruckend, und man muss sich auch davon befreien, weil man sonst vor lauter Schwere nicht mehr handlungsfähig ist. Aber: Wenn man es viel mit herausfordernden Persönlichkeiten zu hat, dann dreht man nicht wegen jeder Kleinigkeit durch. Wir, das Haus, mussten auch lernen, mit gewissen Konflikten offener umzugehen und eine offene, direkte Unternehmenskultur zu leben. Daran muss man immer weiterarbeiten.

Hat der Konflikt um die Vorwürfe gegen Barenboim dazu geführt, dass sich die Unternehmenskultur geändert hat?

Ja. Es gab zum Beispiel einen „Orchesterdialog“, in dem sich das Orchester klargemacht hat: Wo stehen wir, was wollen wir, was ist uns wichtig? Dazu gehörte auch, welche Räume kann man der Staatskapelle als Konzertorchester einräumen, und was bedeutet das Orchester für die Oper. Und dann eben auch der Umgang mit Konflikten: Dass man sich eingesteht, dass, wenn einmal ein Fehlverhalten vorlag, es nicht reicht, sich unter vier Augen zu entschuldigen und dann geht es weiter wie immer. Man braucht auch Mechanismen, um einen Konflikt nachhaltig aufzuarbeiten. Das setzt auch eine offene und direkte Art miteinander umzugehen voraus. Ich muss wissen, an wen ich mich in einer Krise wenden kann und dass es mir nicht schaden wird, wenn ich etwas konstruktiv kritisiere.

Hat der Prozess das Orchester auch verändert, im Sinn einer Emanzipation?

Aus meiner Sicht auf jeden Fall. Es ist auch wichtig, dass man das Orchester in wichtigen Entscheidungen einbezieht, etwa, mit welchen Dirigenten oder Dirigentinnen man zusammenarbeitet. Das sind 136 kreative Musiker und Musikerinnen, deren Meinung ist wichtig – auch wenn die Entscheidung am Ende anderswo gefällt wird.

Wie hat sich das Orchester personell verändert?

Das Orchester ist in den vergangenen Jahren extrem international geworden. Es spielen 37 Nationen im Orchester. Es gibt auch die Orchesterakademie. Es ist ein sehr hartes Auswahlverfahren, in dem man sich durchsetzen muss, um in das Orchester zu kommen. Es gibt oft Vorspiele hinter einem Vorhang, wo es ausschließlich um Qualität geht. Dadurch setzen sich auch viele Musikerinnen durch – einfach, weil sie gut sind. Unsere Konzertmeisterin, Jiyoon Lee, ist eine Südkoreanerin, die in Berlin studiert hat – sie ist 29 Jahre alt, also sehr, sehr jung. Sie wurde vorzeitig bestätigt, eine unglaubliche Sache. Es gibt einen extrem jungen Solo-Hornisten, der aus China kommt. Das Orchester hat eine sehr hohe Flexibilität und Eigenverantwortung. Ich glaube, es gibt wenige Orchester, die aus sich heraus so viel anbieten. Man muss die nicht zum Jagen tragen. Barenboim hat in den 30 Jahren seiner Zeit als Generalmusikdirektor das Orchester zu dem Klangkörper geformt, der es jetzt ist.

Und dann gelingt auch so etwas wie der „Ring“: Ohne die Exzellenz im Orchester wäre das vermutlich nicht möglich gewesen?

Das war einmalig. Wir müssen vor allem daran denken, wie bitter es für Daniel Barenboim gewesen ist, dass er diesen „Ring“ nicht machen konnte. Es war ja schon so lange geplant.

Haben Sie zwischendurch gedacht, es wird nicht funktionieren?

Bis Anfang April hatte ich jeden Tag zwanzig Stimmen, die gesagt haben, es geht nicht. Das hat aber abgenommen im Lauf der Wochen. Wir hatten ja Januar und Februar Probenausfälle wegen Corona. Das mussten wir alles im Sommer nachholen, und zwar so, wie man die nötigen Künstler zusammenbekommen konnte. Das war ein hochvirtuoser Probenplan. Es ist aber auch ein Theaterwunder passiert, weil der Regisseur im Sommer jeden Tag da war und jede Minute bei Proben genutzt hat. Und schließlich hat Christian Thielemann mit seiner Energie dafür gesorgt, dass eine extreme Spannung entstand. Es ist nicht zu erklären, wie er das macht, aber er kann es. Er hat für einen Konzentrationssog gesorgt. Vermutlich macht das einen großen Dirigenten aus. Er hat allen den Eindruck gegeben: Jetzt geht es um alles! Und alle haben gewusst: Da passiert jetzt etwas Großes.

Gibt es den „Ring“ noch einmal?

Es gibt ihn zu Ostern noch einmal, und wir arbeiten daran, dass es ihn in der Spielzeit 2023/2024 noch einmal gibt.

Wer wird dirigieren?

Da es wohl nicht viele Proben geben kann, kommen eigentlich nur Thielemann oder Thomas Guggeis in Frage. Wenn man sich den Kalender von Thielemann anschaut, der ist schon sehr voll. Daher kann man sich das ausrechnen, wer das machen wird. Vielleicht gibt es aber auch eine Überraschung.

Es wird jetzt viel darüber spekuliert, ob Thielemann neuer Generalmusikdirektor wird. Glauben Sie, dass er das überhaupt will?

Ganz ehrlich: Ich glaube, er kommt gerade auf den Geschmack, dass es eigentlich das viel angenehmere Leben wäre, sich als freier Dirigent überall auf der Welt feiern zu lassen, nur noch das zu machen, was er will, sich mit keinen Institutionen beschäftigen zu müssen. Ich weiß nicht, ob er eine solche Position überhaupt noch anstrebt.

Wie geht es mit der musikalischen Leitung weiter?

Wir haben einen Generalmusikdirektor, der hat einen Vertrag bis 2027, und der heißt Daniel Barenboim. Der Vertrag wurde vom Stiftungsrat 2019 für die Zeit ab jetzt, also Herbst 2022, verlängert.

Wann wird Barenboim wieder dirigieren können? Er hatte ja erst kürzlich gesagt, dass er sich für einige Monate von seinen Dirigaten zurückzieht?

Wir alle hoffen auf eine Rückkehr von Daniel Barenboim an das Pult in der Staatsoper. Wir werden alles unternehmen, um das möglich zu machen. Er ist auf dem Weg der Besserung, und man muss sehen, was die nächsten Wochen bringen. Im Moment ist das allerdings noch schwer abzuschätzen. Wir müssen im Opernbetrieb ja sehr langfristig planen. Wir müssen uns auch bewusst machen, dass es die Möglichkeit gibt, dass er nur sehr viel weniger machen kann. Im Rest der Spielzeit gibt es eine „Carmen“-Wiederaufnahme, drei Vorstellungen von „Samson und Dalila“, den „Ring“ und am Ende der Spielzeit „Don Carlos“, den Barenboim noch nie dirigiert hat.

Sind Sie mit ihm im Gespräch?

Ja, und wir müssen jetzt schon sehr bald wissen, wie wir die Spielzeit 23/24 gestalten wollen.

Wer entscheidet das eigentlich?

Den Spielplan entscheidet die Intendanz. Aber für den Vertrag mit Daniel Barenboim ist der Stiftungsrat zuständig, mit dem Vorsitzenden Klaus Lederer, dem Kultursenator.

Aber jetzt konkret: Wie machen Sie das mit „Don Carlos“?

Aktuell macht das Daniel Barenboim. Wenn er aber sagt, dass er es nicht machen kann, dann muss ich einen anderen Dirigenten finden. Und es ist natürlich sehr schwierig, kurzfristig einen Dirigenten vom Rang Barenboims oder Thielemanns zu finden. Die großen Dirigenten haben ja alle volle Kalender. Man könnte es natürlich auch als Chance sehen und junge Dirigenten einladen, die noch nicht so bekannt sind.

Das klingt nach einer Hängepartie.

Eine lange Hängepartie wäre fatal. Das würde auch zu einem unwürdigen Gezerre führen, das darf nicht passieren. Man muss jetzt schon für das übernächste Jahr planen. Wenn da zu lange Unklarheit herrscht, besteht eine Gefahr für das Haus. Das kann man nicht verleugnen.

Sie selbst verlassen das Haus ja auch, gehen im Herbst 2024 nach Zürich. Ist es Ihr Ziel, die Frage der musikalischen Leitung noch zu regeln?

Die Frage stellt sich nicht. Das ist die Entscheidung des Kultursenators, die dieser, natürlich in Rücksprache mit dem Haus, treffen muss.

Warum verlassen Sie die Staatsoper?

Es ist eine großartige Aufgabe, und ich werde bis zum letzten Tag voll arbeiten. Das ist der 31. August 2024. Man kann vielleicht sagen, dass es drei, vier Jahre zu früh ist, nachdem es jetzt gerade so gut läuft. Aber das kann ich nicht so perfekt timen. Aber Zürich ist ein richtig tolles Haus, mit eigenem Ballett, mit eigenen Werkstätten, wo man Oper in Echtzeit machen kann. Die Staatsoper habe ich mit sehr viel Herzblut gemacht. Aber am Ende werden es neuneinhalb Jahre gewesen sein, wo ich mitgewirkt habe. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass Leute nicht zu lange hängen bleiben an einem Haus. Es braucht neue Impulse und ein klares Mandat. Aber jetzt ist das Haus in gutem Zustand, auch finanziell. Jetzt kann man gut eine Übergabe machen.

Man könnte allerdings genauso sagen: Es ist eher sehr chaotisch, und daher gehen Sie jetzt?

Natürlich setzt so ein Leitungswechsel ein Haus immer unter Stress. Ich finde, dass es wichtig ist, dass man dem Haus eine Perspektive gibt, nach der sich alle richten können. Diese Perspektive habe ich in Zürich, und daher habe ich das Angebot auch angenommen.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de