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Klassik Klassik und Corona

Eine Greisin bläst dem Virus den Marsch

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Ungenutzte Kulturfläche: Auch die Wiener Staatsoper ist im Lockdown Ungenutzte Kulturfläche: Auch die Wiener Staatsoper ist im Lockdown
Ungenutzte Kulturfläche: Auch die Wiener Staatsoper ist im Lockdown
Quelle: dpa
Die Kultur zeigt sich im zweiten Lockdown ziemlich lethargisch. Es wird wieder gestreamt. Sonst gibt es nicht viel zwischen mildem Aufbegehren und beginnender Selbstaufgabe. Wäre da nicht eine 89-jährige russische Komponistin.

„Extrawurst!“ Das greint auf einmal die sonst in den vergangenen Monaten ziemlich schweigsame Kulturministerin Nordrhein-Westfalens, Isabel Pfeiffer-Poensgen, als eine Art menschgewordene Käsekrainerin ziemlich aggressiv ihrer Klientel entgegen. „Keine Extrawurst für die Kultur!“

Eben jene Pfeiffer-Poensgen, die als Strafe für deren Unbotmäßigkeiten der nicht eben gefügigen RuhrTriennale-Leiterin Stefanie Carp ihr letztes Herbstfestival gestrichen hat. Auf Steuerzahlerkosten und – siehe Salzburg – ohne wirkliche Covid-Not.

Und nun weist sie die Kulturleute zurecht, weil es immerhin ein paar gewagt haben, gegen den zweiten Lockdown der sowieso schon seit März auf Sparflamme oder gar nichts mehr fahrenden Theater und Konzerthäuser aufzubegehren.

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Es sind wieder nur kleine Wutreden geworden, ganz besonders in Bayern, wo schon vorher nur 200, zuletzt 50 Menschen in den größten Sälen Opern oder Konzerte hören durften.

Unter dem Hashtag #AlarmstufeRot strahlen die bayerischen Bühnen, denen noch nicht einmal mitgeteilt wurde, wie der großspurige Hygieneversuch mit 500 Zuschauern an der Bayerischen Staatsoper, dem Münchner Gasteig und der Nürnberger Meistersingerhalle (Wahlgebiet Söder) verlaufen ist, ihre Häuser blutig an und leuchten so den Mächtigen ein wenig heim. Netter Versuch. Und schweigen, das auch beredt, live oder aufgezeichnet – in den sozialen Medien.

Anne-Sophie Mutter, plötzlich die Mater dolorosa der freischaffenden Musiker, will in den kommenden Wochen während des Gottesdienstes in den noch offenen Kirchen aufspielen – am Sonntag, 15. November, in der Thomaskirche Leipzig um 9.30 und um 18 Uhr; Spenden erbeten. Mohamed Hiber, Vladimir Babeshko und Daniel Müller-Schott wollen sie unterstützen, um die Aufmerksamkeit auf die freischaffenden, vielfach seit über einem halben Jahr unbezahlten und jetzt schon wieder ausgebremsten Musiker lenken.

Das subventionslose Festspielhaus Baden-Baden hat bis Ende des Jahres alles abgesagt, zu unsicher ist die Lage, dauernd nur hoch- und runterfahren, das kann man sich dort nicht leisten. Die anderen proben derweil mit grimmiger Wut hinter verschlossenen Türen und streamen schon wieder.

Kleine „Montagsstücke“ in München, ganze Konzerte vor leerem Haus, wenn auch einschränkungsbedingt mit zum Teil schon kurz vorher gespielten Stücken, wie etwa das Deutsche Symphonie-Orchester in der Berliner Philharmonie, weil man sich den ersten gemeinsamen Auftritt mit Simon Rattle seit Jahrzehnten nicht verderben lassen wollte. Auch wenn der, mit einer Midi-Version von Mahlers „Lied von der Erde“ samt obligatorischer Gattin Magdalena Kozena, auf allzu Bewährtes zurückgreift.

Innovative Formate sind selten

Man ist ja schon dankbar für das wenige, was live online passiert, denn die täglichen Dauerstreams der mindestens eineinhalb Spielzeiten geschlossenen Metropolitan Opera beginnen sich jetzt schon gefährlich zu wiederholen. Ebenso der regelmäßige Musiktheater-Cocktail an der Wiener Staatsoper, wo immerhin ein bisschen Frisches eingespeist wurde. Und alles umsonst, während im dunklen Frankreich oder England Bezahlschranken oder Ländercodes zwischen dem spärlichen Angebot liegen.

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Viele neue, innovative Formate gar finden sich nur wenig. Die Intendanten von der Elbe bis an die Isar schicken lieber flächendeckend immer noch zahme Protestbriefe an Landesregierungen; ohne Reaktion. Im ebenfalls schon wieder corona-geplagten Italien schweigt man resigniert still, die Mailänder Scala hat bereits das Society-Großevent der Saison-Inaugurazione am 7. Dezember mit Donizettis „Lucia di Lammermoor“ abgesagt, stattdessen streamt man aus dem leeren Haus mal wieder einen Tuttifrutti-Arienabend.

Hier scheint schon keiner mehr an eine allgemeine Öffnung im Dezember zu glauben. Und während in Madrid, wo ganze Stadtteile zugesperrt sind, am Teatro Real Christof Loy Dvoráks „Rusalka“ mit Asmik Grigorian zur Premiere gebracht hat, und die teuer zu vermarktenden Wiener Philharmoniker quasi in Dauerquarantäne eine Woche in Japan gastieren, schaut man auch in Deutschland nur scheel auf die stehen gebliebenen Spielpläne für die Weihnachtswochen. Wie sollen sich da nur all die abgesagten, schon seit Monaten oft mehrmals verschobenen Premieren noch einfügen?

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Zumal teure Hygienekonzepte auch nichts gebracht haben – keine Ansteckungen schon, aber leider kein Umdenken bei der starrsinnigen Politik, die Kultur immer noch nur als Unterhaltungs-Tralala abtut. Was fast tiefer schmerzt als die monetären Verluste, die selbst die städtischen und staatlichen Betriebe irgendwann mit voller Wucht treffen werden.

Vorsorglich bekommt so mancher Sänger schon Knebelverträge gereicht, ausgerechnet in Frankfurt, eben „Opernhaus des Jahres“, wo Intendant Bernd Loebe der Deutschen Opernkonferenz vorsteht, wurde bisher überhaupt kein Ausfall gezahlt, dem Schauspielkollegen nebenan aber wird 50 Prozent gewährt.

In Berlin verlängerte wohl auch zur Absicherung auf dürrere Zeiten Kultursenator Klaus Lederer die Leitungsverträge an der Deutschen Oper und am Berliner Ensemble. Das Deutsche Theater ist jetzt ab 2023 an Iris Laufenberg vergeben. So wird geredet und geschimpft, aber nichts gemacht. Die Freien werden immer klammer.

Befreiende Uraufführung für Beethoven

Trost spendet wieder mal – die Kunst. Die eben nicht nur Tralala kann. Passgenau zum zweiten Lockdown fuhr so live für die „Wien modern“-Festivalkameras im leeren goldenen Saal des Wiener Musikvereins ein heiliges, auch reinigendes Klangdonnerwetter hernieder.

Komponiert von einer 89-jährigen Legende: Sofia Gubaidulina. Seit drei Jahren wartet die Welt auf ihre schon mehrmals angekündigte Komponisten-Hommage für Ludwig van … – „An den großen Beethoven“.

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Nachdem nun der tolle Antoine Tamestit ihr aufrauschendes Bratschenkonzert gespielt hatte, prachtvoll souverän sekundiert von Oksana Lyniv am Pult des Radio-Sinfonieorchesters Wien des ORF, brach zumindest das zweite Teilstück der Tonsetzer-Ehrung im fünften Anlauf als befreiende Uraufführung los.

Sofia Gubaidulina ehrt Ludwig van Beethoven
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Quelle: dpa

„Der Zorn Gottes“ machte seinem Namen mit reinigendem Jericho-Bläserdonner von allein vier Wagnertuben und zwei Basstuben, vehementen Streicherfuriosi und gleißenden Dies-Irae-Kaskaden alle Ehre. O heiliges Fortissimo! Diese domestizierte Aggression, gestisch, kontrapunktisch, vielschichtig, raffiniert, leuchtend, zivilisatorisch enthemmt, sie tat so gut! Marschtrommel und großer Gong ließen als tönende Apotheose den thronenden Christus des Jüngsten Tages erscheinen.

„Gott ist zornig. Er ist zornig, böse auf uns Menschen, auf unser Verhalten. Wir haben Schuld auf uns geladen“, raunt dazu die Gubaidulina über ihr „einfaches Gebet“, das auch Bezüge zur Neunten nicht scheut.

Corona, wir kommen! Diese alte Dame zumindest hat ihren Pandemie-Beitrag geleistet. Bis 13. November ist der eindrückliche Stream noch zu sehen.

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