KlassikWoche_RGB_2020-09

Julia Fischers Wut, Jonas Kaufmanns Schmäh und Peter Spuhlers Rauswurf

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

dieses Mal mit einer revolutionären Bestandsaufnahme der Klassik, mit einem Rauswurf in Karlsruhe, viel Musik und einem Plausch mit Anna Prohaska. Und vorweg: Mitleid mit dem armen Jura-Studenten, dessen Hausarbeit die Post aus Versehen nach Beirut statt nach Bayreuth geschickt hat – Kopf hoch, das ist schon mit dem ersten Drachen-Modell des „Ringes“ passiert und brachte Wagner in Rage!

WUNDERBARE WUTREDE VON JULIA FISCHER

Ich mag die Geigerin Julia Fischer, nicht nur, weil sie eine der Besten ist, sondern auch, weil sie längst ein Stadium erreicht hat, in dem sie niemandem mehr gefallen muss, um weiter zu kommen. Julia Fischer ist unantastbar, und deshalb kann sie auch gegen Agenturen, den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Plattenfirmen wettern, ohne auch nur annähernd beleidigt zu wirken. Dem VAN-Magazin sagte sie gerade: „Wenn ARD und ZDF ihren Bildungsauftrag nicht wahrnehmen, haben sie nicht das Recht, unsere Gebühren zu bekommen. Das kreide ich den öffentlich-rechtlichen Anstalten wirklich an.
Und über Plattenfirmen: „Es ist nicht so, dass ich von Decca weg bin, weil die doof sind, sondern weil ich dachte: Es geht auch einfacher. Jetzt habe ich die Möglichkeit, eine Aufnahme zu teilen, wenn ich sie teilen möchte. Ich bin meine eigene Herrin. Dieser Apparat, der bei einer großen Plattenfirma dahintersteckt … Ich muss mit den Repertoirezuständigen reden, mit dem PR-Menschen, dann muss ich Rücksicht darauf nehmen, was die Kolleg:innen gerade aufnehmen, damit es sich nicht überschneidet … Es ist einfach nicht notwendig, sich so einzuengen.“ Letztlich ist das, was sie Hartmut Welscher erzählte, ja auch gar nicht besonders provokant, denn ARD und ZDF oder auch die großen Labels sind schon lange nicht mehr die „Mover und Shaker“ der Musik, die sie gern wären. Sie sind eher Dinosaurier, die es verpasst haben, mit Leuten wie Julia Fischer eine neue Zukunft zu beginnen und ihre wachsende Bedeutungslosigkeit bis heute oft noch nicht kapiert haben. 

LOCKDOWN IN ÖSTERREICH

Das Ende einer Branche befürchtet Laurent Delage in den Salzburger Nachrichten. Der gebürtige Pariser, der in Österreich als Künstlervermittler arbeitet, warnt, die Coronakrise würden nur die Berühmtesten überleben wie Anna Netrebko, Jonas Kaufmann oder Cecilia Bartoli. In Großbritannien und den USA sei alles zu, in Asien und Übersee seien Auftritte praktisch unmöglich. „Alles konzentriert sich auf wenige europäische Länder." In diesem Überlebenskampf gehe es psychisch allen schlecht. "Viele werden auf der Strecke bleiben. Man hat das Gefühl, dass die ganze Branche gerade zusammenkracht.“ Der österreichische Intendant, Pianist und Dirigent Florian Krumpöck hat derweil Verfassungsklage gegen die jüngste Schließung der Kulturstätten in Österreich angekündigt. Mit dem Juristen Florian Dittrich und dem Rechtsanwalt Wolfram Proksch will Krumpöck klären lassen, ob die aktuellen Schließungen verhältnismäßig sind, ob sie notwendig sind und ob sie tatsächlich – wie behauptet - für weniger Infektionen durch Corona sorgen, erklärte er mir in einem Gespräch. Für diese Aktion hat er eine Fundraising-Kampagne unter dem Titel „Oh grauenvolle Stille“ gestartet.

SCHLUSS FÜR PETER SPUHLER?

Es war eine endlose Geschichte: Es ging um unkollegiales Benehmen, gravierende Führungs-Defizite, um Burnouts im Ensemble und andere Übergriffe. Nun scheint der Druck für Karlsruhes Intendanten Peter Spuhler (wir haben immer wieder berichtet) auch politisch größer zu werden. Die Vorsitzenden des Verwaltungsrats des Badischen Staatstheaters wollen eine vorzeitige Vertragsauflösung, melden die Badischen Neuesten Nachrichten. Kunstministerin Theresia Bauer und Oberbürgermeister Frank Mentrup empfehlen demnach dem Verwaltungsrat, in dessen nächster Sitzung am 30. November 2020 den Dienstvertrag mit Generalintendant Peter Spuhler über eine dritte Intendanz für den Zeitraum vom 1. September 2021 bis 31. August 2026 im gegenseitigen Einvernehmen aufzulösen.

NÜRNBERG IST ÜBERALL

Ein neuer Konzertsaal für Nürnberg neben der Meistersingerhalle?
Zur Wahrheit gehört auch, dass einige Klassik-Künstler durchaus berechtigt fragen: Muss es denn einen neuen Konzertsaal neben der Meistersingerhalle in Nürnberg geben? Fakt ist: Er wurde geplant, sollte 200 Millionen Euro kosten und wurde nun auf Eis gelegt. Klar, dass der Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker, Alexander Shelley, sofort protestiert hat. Wirklich ernüchternd war die Begründung: Das städtische Defizit sei durch Corona so groß geworden, dass man sich dieses Kulturprojekt nun nicht länger leisten könne. Die Gesamtverschuldung der Stadt Nürnberg beläuft sich im Haushalt 2021 auf rund 1,74 Milliarden Euro. 
Nicht auszuschließen, dass der neue Konzertsaal in Nürnberg nur der Vorbote einer viel größeren Spar-Orgie ist, die uns in vielen deutschen Städten bevorsteht: Rundfunkorchester, Stadttheater und natürlich auch Kulturbauten werden in naher Zukunft wohl noch öfter auf den Prüfstand gestellt. Noch haben Kulturschaffende ein wenig Zeit, um Strategien dagegen zu suchen – andere, als zu lamentieren, wenn es zu spät ist. Übrigens: Am Bau des Volksbades soll in Nürnberg weiterhin festgehalten werden.

CORONA-KLASSIK-TICKER

Nun also doch: Musik und Theater sind keine „Freizeitbeschäftigungen“ mehr – das wurde im neuen Infektionsschutzgesetz festgeschrieben. Nach Einschätzung des Kulturrats wird das dem besonderen Charakter der Kultureinrichtungen besser gerecht. Denn die seien mehr als Freizeiteinrichtungen - nämlich zugleich Bildungseinrichtungen und Orte der Kunstproduktion. Bei künftigen Pandemie-Einschränkungen müsste die Kultur somit gesondert betrachtet werden. +++ Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt bietet MusikerInnen der Freien Szene seine Säle im kommenden Jahr für zwei Monate kostenlos an. Auch die Ticketeinnahmen dürfen die Ensembles behalten. Für den rbb eine nachhaltige Idee. +++ In einem dramatischen Facebook-Post macht der Intendant der Brandenburger Festspiele, Manuel Dengler, auch die Kulturpolitik in Zeiten von Corona mitverantwortlich dafür, dass er einen Hörsturz erlitt: „Ich bin in großer Sorge nicht nur um eine ganze (Kultur- und Kreativ-) Branche, sondern um sehr viele Menschen, um Existenzen - und damit meine ich ganz und gar nicht nur die monetäre Existenz, es geht um Seelengesundheit.

PERSONALIEN DER WOCHE

Opernintendantin in Köln Birgit Meyer
Die Stadt Köln will den 2022 auslaufenden Vertrag von Opernintendantin Birgit Meyer nicht verlängern. Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat Meyer in einem persönlichen Gespräch erklärt, dass sie nach einer Amtszeit von zehn Jahren einen Wechsel an der Spitze des Opernhauses wünscht. Etwas detaillierter schaut Ursula Hartlapp-Windemeyer für das Opern- und Kulturmagazin hinter die Kulissen. +++ Marcel Huber wurde einstimmig vom Bayerischen Musikrat zum Vorsitzenden gewählt. In den schwierigen Corona-Zeiten kommen auf den Tierarzt und Politiker besondere Herausforderungen zu, die der begeisterte Laienmusiker entschlossen angehen will. +++ So war es nun auch nicht gemeint, als wir letzte Woche ein bisschen über Jonas Kaufmanns neues „Christmas-Album“ gelästert haben (und wurden, was seine Pläne angeht, korrigiert: sowohl Peter Anders als auch René Kollo haben die „Vier letzten Lieder“ bereits eingespielt).
Inzwischen ist es fast ein Running Gag geworden. Der Vorsitzende des Komponistenverbandes, Moritz Eggert, hat ein satirisches Video über Kaufmanns „bel Konto“ zusammengehämmert, und nach der fake Mariah-Carey-Naxos-CD vom letzten Mal kursiert nun die Bildgeschichte im Netz, in der eine Frau ihren Wagen in die Werkstatt bringt: „Das Auto quietscht.“ – „Haben Sie schon mal versucht, die Jonas-Kaufmann-Weihnachts-CD aus dem CD-Player zu nehmen?“ Fehlt noch Lästermaul Norman Lebrecht, der in der Diktion Kaufmanns Folgendes versteht: „Oh what fun it is to ride in a one-whore’s open sleigh.“ (Auf Übersetzung wird an dieser Stelle verzichtet.) +++ Ach so, Kollege Leberecht hatte auch klick-geil getitelt, dass der legendäre MET-Vorhang versteigert werde und nahegelegt, dass Peter Gelb damit Corona-Ausfälle zahlen wolle. Quatsch! Der „Zauberflöten“-Bühnenvorhang von Marc Chagall (1887-1985) brachte 990.000 Dollar, rund 835.000 Euro ein. +++ Freude am Mozarteum in Salzburg, das einen Brief Mozarts an dessen Vater erwerben konnte. +++ Wie politisch soll ein Musiker sein? Die Frage stellt sich in diesem Fall nicht. Manchmal entstehen auch nur neue Freundschaften. Nach Robert Habeck hat sich Anfang der Woche auch SPD-Mann Karl Lauterbach als Igor-Levit-Fan geoutet und die Welt über ihre „Freundschaft“ informiert. Unter einem Bild von „Querdenker“ Demonstranten im Regierungsviertel postet er: "Diese Leute vor meinem Fenster werden mir heute nicht die gute Stimmung in Anbetracht der Erfolge beim Impfstoff verderben. Werde mit Igor Levit auf meinem Balkon darauf anstoßen.“ So weit so klüngel. Einige Tage später wurde Karl Lauterbach dann – mal wieder – auf Facebook von Idioten mit dem Tod bedroht, und sofort sprang Levit ihm mit einem eigenen Post bei: „Karl Lauterbach hat meine ganze Solidarität. Menschen wie er, die nicht nur, aber vor allem auch in einer solchen Ausnahmesituation, wie wir sie jetzt haben, Tag & Nacht daran arbeiten, das Leben anderer zu retten, sollten niemals einen solchen Preis dafür zahlen müssen. Speak up!“ +++ Der Flötist Maurice Steger wurde vom Präsidenten der Hochschule für Musik in Nürnberg, Christoph Adt, zum Honorarprofessor ernannt.

UND WO BLEIBT DAS GUTE?

Na, das backen sich die Künstler wieder selber: Gestern hat die Sängerin Marlis Petersen eine Mail an Freunde und Bekannte geschickt: „Heute mal ein Musik-erfreuliches Ereignis - quasi ein ‚in memoriam‘ unserer abgebrochenen Produktion der TOTEN STADT in Brüssel. Monate lang hat man an einer Version gearbeitet, die 59 statt 90 Musiker - jeder am eigenen Pult und die Blechbläser zwischen Plexiglas-Abtrennungen - auf der Hinterbühne vereint, die Sänger und das szenische Team 5 Wochen Proben mit Masken und bei regelmäßiger Desinfektion der Räume, die Oper auf knapp zwei Stunden ohne Pause runtergekürzt, und trotzdem wurden wir von der Politik gestoppt. Man fühlte sich recht verarscht.....Trotzdem darf man sich wohl sehr glücklich schätzen, daß wenigstens die Premiere und 2. Vorstellung über die Bühne gingen und man immerhin ein paar hundert Menschen beglücken konnte.Und hier ist das alles nun zu sehen! (Die meisten der in Deutschland aktuell empfangbaren Klassik-Streams gibt es, wie gewohnt bei FOYER.de). Außerdem – wie schnell doch ein Monat vergeht – gibt es einen neuen Podcast: Nachdem Sängerin Anna Prohaska mit ihrer „Wutrede“ an dieser Stelle vor zwei Wochen Thema war, habe ich gefragt, ob wir das Ganze nicht einmal in Ruhe besprechen könnten. Haben wir: socially distanced in Wien und Berlin, aber mit allerhand Weiß- und Rotwein. So entstand ein fast zweistündiges Gespräch über das gefährliche Kinderzimmer ihres Bruders, über die Kindheit in Berlin, über wilde Proben mit Christoph Schlingensief, über den Metal-Rocker Richard Wagner und natürlich über die Dinge, die in der wundersamen Welt der Klassik aus dem Ruder laufen. Unterhaltsam, kritisch, launig! Hören Sie doch mal rein.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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