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Brüggemanns Klassik-Woche

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Singen, studieren – stempeln

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

brauchen wir eine neue Hymne? Warum sagt Jonas Kaufmann seine Auftritte ab? Und warum landet der Sänger-Nachwuchs immer öfter beim Arbeitsamt?

WAS IST

Das "Lied der Deutschen" von Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland geschrieben – brauchen wir eine neue Hymne?

GEIGER GREIFT DEUTSCHE GRAMMOPHON AN

Er ist einer der genialsten Geiger unserer Zeit: für Frank Peter Zimmermann hat Musik so gar nichts mit Äußerlichkeit zu tun. Auch deshalb ekelt ihn der aktuelle Klassik-Betrieb oft an. In einem Gespräch mit Bernhard Neuhoff vom Bayerischen Rundfunk lehnt er sich weit aus dem Fenster und wettert gegen die Plattenfirmen: „Was die Plattenfirmen heutzutage von einem verlangen für eine lumpige CD! Sagen wir es ruhig: Bei der Deutschen Grammophon wird von diesen Jungstars verlangt, dass sie denen Prozente von ihren Gagen abtreten – als Dank dafür, dass sie dort ihre Platte aufnehmen dürfen. Ich sage das jetzt ganz offen.“ Stoff für eine spannende Debatte!

EINE NEUE HYMNE?

Was ist denn das Bitteschön für eine Debatte? Bodo Ramelow will eine neue Nationalhymne. Und Jan Böhmermann wittert per Twitter sofort eine neue Show: Deutschland sucht die Super-Hymne. Mal im Ernst: Wer soll die neue Hymne denn schreiben? Wolfgang Rihm? Oder Dieter Bohlen? Oder beide zusammen? Ich finde: Teil der Klassik ist es auch, dass sie Geschichte wie einen Mythos aufsaugt und mitträgt. Haydns Melodie war einst Österreichische Kaiserhymne, wurde zur Hymne der Deutschen, ja, sie schleppt auch heute noch das Erbe der Nazi-Herrschaft mit sich, ebenso wie die verpasste Chance, zur Vereinigung wirklich eine neue Hymne beider Deutschlands zu finden. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – für mich ein Statement, das heute besonders wichtig ist! Wenn es nach mir geht, ziehen wir weiter, „brüderlich mit Herz und Hand“ gegen das Vergessen und gegen die zeitgeistige Schnellschuss-Verjüngung unserer Hymne.

GATTIS NEUES ORCHESTER

In den letzten Wochen haben wir berichtet, dass Dirigent Daniele Gatti, nachdem sich das Concertgebouw Orchestra wegen #MeToo-Vorwürfen von ihm getrennt hatte, wieder viel beschäftigt ist. Nun legt er selber nach: Gerade hat er mit der Filarmonica di Milano ein neues Orchester gegründet. Es besteht aus Musikern der Orchester der Comunale di Bologna, des Fenice di Venecia und der Ópera di Roma, aber auch Musiker aus den Berliner und Wiener Philharmonikern sollen beteiligt sein. Dirigiert wird es nicht nur von Gatti, sondern auch von Dirigenten der Mailänder Scala, der Accademia Nazionale di Santa Cecilia und des Mahler Chamber Orchestra. Die Solisten Frank Peter Zimmermann und Jan Vogler haben zugesagt, gemeinsam mit Gattis neuem Ensemble aufzutreten.

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NEUANFANG IN ERL

Bernd Loebe, neuer Intendant der Tiroler Festspiele in Erl (neben seinem Job in Frankfurt), meint es offenbar ernst mit dem Neuanfang. Sein Vorgänger Gustav Kuhn wurde wegen sexueller Übergriffe gefeuert. Loebe setzt nun bewusst auf viele Frauen und auf ein innovatives und modernes Gegenprogramm: „Wir stehen mit der Camerata Salzburg in Gastspielverhandlungen“, verriet er der Abendzeitung. „Mit Helmut Deutsch hoffe ich Liedkultur nach Erl zu bringen. Mit Neil Shicoff wird über eine Meisterklasse verhandelt und eventuell sogar ein Konzert. Mein Generalmusikdirektor, der an der Metropolitan Opera gefeierte Sebastian Weigle, wird mit unserem Frankfurter Museumsorchester gastieren. Und dann inszeniert ab 2021 Brigitte Fassbaender einen neuen Ring des Nibelungen.“ Diesen Sommer eröffnet Loebe Erl ausgerechnet mit einer Oper von Kuhns größtem Kritiker: Auf dem Programm steht Caliban von Moritz Eggert. Da wird der Ex-Chef sich wahrscheinlich vor Wut im Ruhestandsbett umdrehen!

WAS WAR

Erfülltes Leben mit bleibenden Begegnungen: Verleger Friedrich Hänssler starb mit 92 Jahren.

SÄNGER IM PREKARIAT

Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung hat herausgefunden: Nie landeten so viele Gesangstudenten beim Sozialamt wie heute. Die Gründe: Unsere Hochschulen nehmen zu viele Studenten auf, denn nur Masse garantiert staatliche Gelder. Professoren kümmern sich zwar um das Hohe C und das perfekte Legato – aber nicht um den Berufsalltag. Einen Plan B gibt es im Studium meist nicht. Und das, obwohl Plan A inzwischen nur für einen kleinen Teil der Absolventen aufgeht. Selbst wenn junge Sänger an einem Stadttheater unterkommen, verdienen Solisten hier meist weniger als ein Chorsänger. Fakt ist: Von Anna Netrebkos Abendgage (bei gedeckelten Aufführungen 20.000 Euro) könnte man einen Stadttheater-Sopran ein Jahr lang beschäftigen. Passend dazu forderte Bernd Loebe, Intendant der Frankfurter Oper, höhere Gehälter für Musiker. Er findet es deprimierend, dass deutsche Orchester auf Platz 27 des internationalen Lohn-Rankings stehen (ein bisschen lustig, da die Gehälter in Erl wahrscheinlich noch weiter hinten liegen). So oder so ist es an der Zeit, umzudenken: Weniger Studenten aufnehmen, mehr berufsbegleitend studieren und vor allen Dingen: Wir müssen die Stadttheater stärken! Sie sind einmalig, aber nur, wenn sie als Ensemble funktionieren und dem Nachwuchs eine faire Chance für die Zukunft geben.


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Heute in Berlin:
Barocke Hits
im Maison de France

Releasekonzert zum Start der Zusammenarbeit zwischen Berliner Barock Solisten und Hänssler CLASSIC: Album ab sofort bei JPC!

SEREBRENNIKOWS NEUE FREIHEIT

Wir haben berichtet, dass der russische Theater- und Opernregisseur Kirill Serebrennikow in Moskau unter Auflagen frei gelassen wurde. In einem spannenden Porträt beschreibt Kerstin Holm in der FAZ nun, was Serebrennikow derzeit treibt: „Im von ihm geleiteten Gogol Center moderierte er an zwei Abenden ein Konzert seiner Sänger-Schauspieler zu Ehren der sowjetrussischen Chanson-Legende Alla Pugatschowa, die jüngst siebzig wurde. Im ausverkauften Saal saßen außer der Jubilarin die Menschenrechtlerin Alla Gerber, aber auch die Tochter von Boris Jelzin, Tatjana Jumaschewa, die Serebrennikow demonstrativ umarmte; außerdem der Dirigent und Vertraute von Präsident Putin Wladimir Spiwakow.

PERSONALIEN DER WOCHE

Ein lokales Bündnis in Bayreuth ruft am 17. Mai zu einer Demonstration gegen den Dirigenten Valery Gergiev auf. Am Tag gegen Homophobie wolle man gegen Bayreuths neuen Tannhäuser-Dirigenten auf die Straße gehen. Die Veranstalter nehmen dem Dirigenten homophobe Aussagen übel. Ihr Demo-Aufruf: „Gergiev (für Bayreuth) zu engagieren heißt, seine Unterstützung von menschenverachtender Politik zu akzeptieren. Wer das akzeptiert, der ebnet den Weg für Homosexuellenfeindlichkeit und Diskriminierung.“ +++ Thomas Wördehoff hat die Ludwigsburger Schlossfestspiele zu neuen Höhen geführt – nun verabschiedet er sich als Intendant und legt dabei ein Buch vor, in dem er die Highlights Revue passieren lässt. +++ Jonas Kaufmann musste einige Aufführungen absagen, seine Nachricht an die Fans klang dramatisch: „Vor ein paar Tagen hatte ich mich beim Essen derart verschluckt, dass ich mich nur durch heftiges Husten von der Atemnot befreien konnte. Leider war dieses ‚Freihusten‘ nicht gut für meine Stimme.“ +++ Der Komponist und Schüler von Hanns Eisler, Georg Katzer, ist gestorben. Er war führender Komponist der DDR, seine Kompositionen waren stets auch hochpolitische Drahtseilakte. Frederik Hanssen ruft ihm im Tagesspiegel nach. +++ Ebenfalls gestorben, im Alter von 92 Jahren, ist der Gründer des Labels Hänssler CLASSIC, Friedrich Hänssler. Bewegend, wie sich Weggefährten auch auf Facebook von diesem zutiefst gläubigen Menschen mit sehr persönlichen Erinnerungen verabschiedet haben. Sein Sohn, Günter Hänssler, führt das Label schon seit Jahren erfolgreich weiter. Er schrieb die bewegenden Worte: „Mein geliebter Vater ist heute Nacht von uns gegangen. Er stand tief im Glauben. Als ich mich am Sonntag mit einem "auf Wiedersehen" verabschiedete, sagte er: " ja- so oder so...

AUF UNSEREN BÜHNEN

Michael Volle ist nicht nur ein genialer Sänger, sondern auch ein Bühnen-Tier. Nun wird er auch in den USA gefeiert. Gleich mehrere Kritiker der New York Times staunen in einer ultimativen Lobhudelei über seinen Wotan an der MET. +++ Viel zu diskutieren gibt es über ein Interview, das Julian Warner und Elisa Liepsch diese Woche dem Deutschlandfunk Kultur gegeben haben. Ihre These: Unsere Theater werden noch immer im Geiste von bösen weißen Männern geführt. Die Ensembles wären zwar Multikulti-Gruppen, in denen aber jeder nur auf die Stereotype seines Landes zurechtgestutzt würde. Liepsch findet: „Die Theater, so wie sie jetzt sind, machen ein Programm an der diversen und pluralen Gesellschaft Deutschlands vorbei. Die Theater, die wir jetzt haben, sind eigentlich eine Lüge.“ +++ Reinhard Kager findet in der FAZ, dass die Umarbeitung seiner Oper Koma dem Werk von Friedrich Haas bei der Neuinszenierung durch Immo Karaman an der Oper Klagenfurt gut getan hat: „Mit dieser Aufführung stellt das Klagenfurter Stadttheater, dessen Intendant Florian Scholz auf eine Mischung aus fesselnd inszenierten Repertoirestücken, Raritäten und Zeitgenössischem setzt, erneut unter Beweis, dass es derzeit eine der spannendsten Länderbühnen Österreichs ist.


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WAS LOHNT

Die Wiener Staatsoper feiert ihr 150. Jubiläum.

150 JAHRE WIENER STAATSOPER

Am Rande der Pressekonferenz zum 150. Jubiläum der Wiener Staatsoper nahm mich Intendant Dominique Meyer irgendwann zur Seite: „—ören Sie daaas?“, fragte er mich mit seinem französischen Akzent, als wir durch die Gänge der Oper schlenderten, „das sind die Proben zur Frau ohne Schatten. Wollen Sie Mal schauen?“ Dann holte er einen Logen-Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und kletterte auf die kleine Empore der letzten Stuhlreihe. Von hinten sah er aus wie ein kleiner Schuljunge, der sich heimlich in die Oper geschlichen hatte und nun darüber staunte, was auf der Bühne passiert: Christian Thielemann, Nina Stemme und ein Korrepetitor steckten mitten in der Probe. „Schauen Sie“, flüstert Meyer, „fünf oder sechs Leute – in diesem großen Haus. Ist das nicht eine verrückte Kunst?“ Am liebten hätte er jetzt einfach weiter zugeschaut, was sein Haus jeden Tag auf die Beine stellt und den Presse-Empfang einfach vergessen.


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Man kann über die Ära Meyer streiten, was aber unbestreitbar ist: seine leidenschaftliche Begeisterung für die Oper. Die setzt er nun noch einmal opulent in Szene. Natürlich mit der Jubiläums-Premiere der Frau ohne Schatten, aber auch mit einem gigantischen Open-Air-Konzert vor der Staatsoper für die Bürger Wiens, bei dem am 26. Mai das Who is Who der Oper auftritt, unter anderem Jonas Kaufmann, Nina Stemme, Erwin Schrott, Tomasz Konieczny, Roberto Alagna, Sonya Yoncheva, Chen Reiss. Im Kino wird die opulente Doku Backstage Wiener Staatsoper zu sehen sein, die für den Standard etwas zu sehr auf Hochglanz poliert ist, in der aber die Vielfalt eines großen Opern-Dampfers in Szene gesetzt wird. Lohnenswert neben dem Buch Wir vom Stehplatz, einer Hommage der Dramaturgen Andreas und Oliver Láng an verrückte Opernfans und ihre Geschichten ist besonders die zweibändige Staatsopern-Chronik Geschichte der Oper in Wien. Oliver Rathkolb liefert auf 864 lesenswerten Seiten spannende Essays von großartigen Autoren, wunderbare Illustrationen und Geschichten rund und das Haus am Ring, das hier im künstlerischen Europa-Kosmos verankert wird.

Das 150. Jubiläum wird die letzte große Sause für Intendant Meyer sein, ihm wird Bogdan Roščić folgen. Als ich Meyer nach seinen Gefühlen über den Abgang frage, wurde er ein bisschen melancholisch. „Wandel ist normal“, sagte er, „aber wissen Sie, was ich jeden Tag denke, wenn ich durch das Haus gehe? – Wie sehr ich die Menschen an diesem Haus vermissen werde. Und diese einzigartige Begeisterung der Wiener und der Österreicher für ihre Oper.“ Wie es für Meyer weitergehen wird, steht noch nicht fest.

In diesem Sinne – halten Sie die Ohren steif.

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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