KlassikWoche_RGB_2020-09

Klassik im Kinderzimmer und Gegenwind für Gerhaher

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit dem Unterschied zwischen schrillen Marktschreiern und diplomatischen Machern, einer der besten Klassik-Influencerinnen und einem Geheimnis von Omer Meir Wellber.

GEGENWIND FÜR GERHAHER

Vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle exklusiv die aktuellen Forderungen von „Aufstehen für die Kunst“ vorgestellt. Für mich ein Akt der Meinungsvielfalt, aber schon damals bekam ich viele kritische Briefe. Nun gibt es auch öffentlichen Gegenwind für die Initiative von Bariton Christian Gerhaher und seinen Kollegen. Angeblich wurden einige der Unterstützer der Aktion nicht um ihr Einverständnis gefragt. „Lieber Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Hansjörg Albrecht, Kevin Conners und Christian Gerhaher“, beginnt ein offener Brief des Komponisten, Professors und Präsidenten des Komponistenverbandes, Moritz Eggert, „ich schreibe Ihnen, weil ich mit großer Verwunderung in der letzten Rundmail von ‚Aufstehen für die Kunst‘ lesen muss, dass „die Bayerische Akademie der Schönen Künste (in Vertretung für alle, Präsident Prof. Winfried Nerdinger) sich hinter Ihre Initiative stellt." Und dann erklärt Eggert: „Das ist unrichtig.“ Eggert – und inzwischen auch andere – kritisieren vor allen Dingen die Argumentation der Vereinigung: „... zum jetzigen Zeitpunkt, sehe ich wenig Sinn darin, Kampagnen und teure Gerichtsprozesse (für die man dann auch noch für Spenden betteln muss) dafür anzustrengen, Konzertsäle früher als alles andere zu öffnen. Ich halte das für ein sehr schlechtes Aushängeschild für die Kunst, die sich dann als allein auf sich selbst bezogen und außerhalb der Gesellschaft stehend präsentiert. Damit machen wir uns als Künstler*innen schwach und angreifbar.
Tatsächlich nervt das andauernde (und inzwischen ewige) Androhen einer Verfassungsklage, zumal diese, wenn sie denn wirklich eingereicht würde, mit hoher Wahrscheinlichkeit kassiert wird, womit jedes Druckmittel von „Aufstehen für die Kunst“ ausgehebelt wäre. Und nerven tun allmählich auch die „Spaziergänge“ und „Zwitschereien“ am ganz rechten, steierischen Bordsteinrand von Leuten wie dem andauernd düster grummelnden Bassbariton Günther Groissböck, bei dessen Tweets es inzwischen offensichtlich weniger um die Öffnung der Kultur als vielmehr darum geht, irgendein Ventil für irgendetwas anderes zu finden. Warum all das am Ende auch der Sache aller schadet, steht im nächsten Absatz.

WACHSENDE PLÄNE IM HINTERGRUND

Nationaltheater in München
Tatsächlich lenken die lautstarken Einzel-Proteste von produktiven und effektiven Initiativen ab, die hinter den Kulissen an realistischen Öffnungsszenarien arbeiten, gemeinsam mit Politik, Kulturschaffenden und Vertretern anderer Disziplinen. So hat der an dieser Stelle bereits letzte Woche vorgestellte Drei-Stufen-Plan von 20 Wissenschaftlern und Institutionen wie dem Deutschen Bühnenverein und dem Deutschen Fußball-Bund inzwischen nicht nur die medienpolitische Sprecherin der CDU, Elisabeth Motschmann inspiriert, sondern auch Teile der Bundesregierung. Und ganz aktuell wird in der Kultusministerkonferenz der Vorschlag der „Kulturinitiative 21“ für eine bessere und nachhaltige soziale Absicherung von Kulturschaffenden beraten. Das erklärte NRWs Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen im Deutschlandfunk.

CRESCENDO-Podcast: Hidden Secrets of Classical Music, neue Folge:
Wer erfand den James Bond-Soundtrack?
Detektivgeschichten aus der Welt der Klassik mit Stefan Sell
Auch die gesammelten Forderungen von IntendantInnen in Berlin, unter ihnen auch der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, scheinen allmählich Wirkung zu zeigen und für interne, politische Debatten zu sorgen. Mit anderen Worten: Es bewegt sich etwas im politischen Diskurs. Nicht laut, aber konstruktiv. Auch in Österreich soll hinter den Kulissen bereits im engen Dialog von IntendantInnen, PolitikerInnen und KünstlerInnen an Konzepten getüftelt werden, wie freischaffende KünstlerInnen zukünftig durch eine neue Risikoverteilung vor unerwarteten Ausfällen von Aufführungen abgesichert werden können. Uneitle und anstrengende Initiativen, für die der oben beschriebene Theaterdonner mehr als kontraproduktiv ist – echte (und vor allen Dingen langfristige) Lösungen werden nur im Dialog und ohne öffentliche Erpressung stattfinden – das ist vielleicht nicht so sexy und nicht so gut für's Ego, dafür aber für die Zukunft der Kultur in unserem Land.

ANNA NETREBKO: WENN WERBUNG WIRKT

Anna Netrebko
Man kann das nicht anders sagen: Anna Netrebko ist einfach die effektivste Klassik-Influencerin. So wäre ohne ihren Post total an mir vorbei gegangen, dass die Tonieboxen (und jedes Elternteil weiß, wie wichtig die klingenden Figuren für die eigene Ruhe gerade in diesen Zeiten sind) nun auch in Klassik machen. Super, dass Netrebko begeistert ist: „Kinder sind besonders empfänglich für Musik, und es ist wichtig, dass sie unterschiedliche Musikstile kennenlernen“, postete sie mit einem breiten Lächeln und einer pinken Toniebox in der Hand. Als ich mehr wissen wollte, war ich allerdings schnell am Ende: Welche MusikerInnen auf „Hänsel und Gretel“, „Nussknacker“ und „Zauberflöte“ zu hören sind, ist der Firma Tonie offenbar egal – man kann es nirgends herausfinden. Also habe ich bei der Pressestelle nachgefragt. Die Antwort war eher ernüchternd. Die „Zauberflöte“ ist mit dem Failoni Chamber Orchestra Budapest und Michael Halász (1993). Der „Nussknacker“ mit dem Slowakischen Radio-Sinfonieorchester Bratislava und Ondrej Lenárd und „Hänsel und Gretel“ in einer ollen Herbert-von-Karajan-Aufnahme von 1953. Billig-Klassik statt moderne, klassische Klassik in unseren Kinderzimmern!
Ach ja, und weil wir gerade dabei sind, wollte ich vom Pressesprecher noch wissen, ob Netrebko den Post aus wahrer Leidenschaft oder aus monetärer Verpflichtung in die Welt gesetzt hat (das war nämlich nicht erkennbar). Die Antwort: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir auf die genauen Details unserer Zusammenarbeit nicht eingehen können. Um Missverständnisse auszuräumen, hat Frau Netrebko den Post mittlerweile um das Hashtag „#ad“ erweitert.“ Na bitte, das ist sogar beim Insta-Profil von "Bibis Beautypalace" Mindest-Standard! Abgesehen davon sei es Anna Netrebko – und das meine ich ehrlich – natürlich gegönnt. Die Klassik braucht viel mehr Influencer wie sie! Denn: Ihre Werbung wirkt!

PERSONALIEN DER WOCHE

Die Wiener Philharmoniker zeigen sich solidarisch mit dem Orchester der Metropolitan Opera in New York und haben einen Brief geschrieben: „Die Mitglieder des Orchesters sind auf mehr Unterstützung ihres Managements (Peter Gelb, Anm. d. Red.) und ihrer Regierung angewiesen“, plädiert Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer. +++ Mehr als eineinhalb Jahre vor seinem Amtsantritt als neuer Intendant der Oper Leipzig hat Tobias Wolff sein Leitungsteam vorgestellt. Als Operndirektorin und stellvertretende Intendantin kommt Cornelia Preissinger. +++ Nachdem Intendant Peter Spuhler das Staatstheater Karlsruhe wegen verschiedener Vorfälle verlassen wird, hat sich Operndirektorin Nicole Braunger dazu entschlossen, doch zu bleiben. Sie will nun „den durch Corona entstandenen Verschiebebahnhof im Spielplan“ aufarbeiten. +++ „Die Zeit der alten Männer an den Pulten ist vorbei“, donnert Simone Young in der österreichischen Zeitung „Die Presse“. +++ Das Kärntner Sinfonieorchester bekommt einen neuen Chefdirigenten. Der Australier Nicholas Milton wird das Orchester ab der kommenden Spielzeit leiten. +++ Er war Solo-Cellist der Berliner Philharmoniker, Gründungsmitglied der „12 Cellisten“ und unterrichtete viele Jahre an der Universität der Künste Berlin. Nun ist Wolfgang Boettcher mit 86 Jahren gestorben.

UND WO BLEIBT DAS GUTE, HERR BRÜGGEMANN?

Hier! Ein toller Text aus dem tip: eine Reise durch 12 historische Theater und Operrnhäuser in Berlin, die es nicht mehr gibt! +++ Warum trägt Lang Lang adidas und Yuja Wang Rolex? – ein Rundgang durch das Thema „Mode und Klassik-Stars“ in classical-music. +++ Und noch ein Lesetipp: Frederik Hanssen schreibt im Tagesspiegel über Eckart Kröplins Buch „Operntheater in der DDR“ – am besten erst den Artikel, dann das Buch lesen: Mehr Klassik als in der DDR gab es nirgendwo – doch die Kunst war nicht frei. +++ Und dann kann ich Ihnen noch empfehlen: das fast zweistündige Gespräch mit dem designierten Chefdirigenten der Volksoper Wien, Omer Meir Wellber, in dem er verrät, dass er mit der festen Absicht „nein“ zu sagen zur designierten Intendantin Lotte de Beer gekommen ist – und sich dann doch spontan anders entschieden hat. Warum und was er vorhat, welche Rolle die Zauberei bei all dem spielt und wie kritisch er aus Israel blickt – all das im Podcast „Brüggemanns Begegnungen“.
In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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