KlassikWoche_RGB_2020-09

Klassik, Fußball – Tor!

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

alle tun, als wäre nichts passiert und machen weiter wie immer: Aufatmen über niedrige Inzidenzen und den Neustart der Kultur. Aber trügt der Schein? Eines der Worte, die derzeit am meisten zu lesen sind, ist: „RESTKARTEN“

WEITER SO WIE IMMER MIT MUTI UND DOMINGO?

Die gute Nachricht: Es geht wieder los! Die komplizierte Nachricht: Es gibt keine zuverlässigen Perspektiven. Woche für Woche baut die Politik Corona-Regeln ab. Für viele Veranstalter hat das den Effekt, dass sie ihre Karten-Kontingente in kürzester Zeit vergrößern müssen. Kein leichtes Unterfangen, neue Plätze innerhalb kürzester Zeit unter die Leute zu bringen (auch, weil ein Teil des Publikums noch immer sehr vorsichtig ist). Und so heißt das Wort dieser Tage: „RESTKARTEN“.
Vom großen Wandel der Klassik, der auf Corona folgen sollte, ist erst einmal wenig zu spüren. Der Zirkus geht los wie immer: Privilegien und Mega-Gagen für die Superstars und Unsicherheit an der Klassik-Basis. Am Samstag hat Riccardo Muti die Festspiele in Verona mit „Aida“ eröffnet - 6000 Zuschauer waren erlaubt. Der Kritiker Norman Lebrecht rechnete derweil vor: In Chicago bekommt Muti eine Jahresgage von 3,5 Millionen Euro. Zum Vergleich: Der gesamte Etat etwa der Orchester in Oakland, Harrisburg oder im Silicon Valley beträgt 3,24 Millionen Dollar.

Und auch auf anderer Front scheint alles wieder seinen gewohnten Gang zu gehen: Eher zufällig ist Plácido Domingo zu seinem ersten Auftritt in Deutschland nach den #metoo-Vorwürfen gekommen. Bislang war er lediglich in Österreich rehabilitiert und tingelte von Wladimir Putins Gnaden als Gérard Depardieu der Oper durch Russland. Nun übernahm er spontan den Vater Germont an der Staatsoper in München und erzählte der BILD voller Stolz, dass er gern FC Bayern schaue und sein bester Freund in Deutschland Franz Beckenbauer sei. Ich bleibe derweil dabei: Der grundlegende Wandel der Klassik wird kommen – spätestens, wenn Bilanz gezogen wird und Kultur-Gelder debattiert werden. Es ist besser, schon jetzt neu zu denken.

JETZT REICHT’S ABER MAL MIT THIELEMANN

Das muss ausgerechnet ich sagen? Ja! Der Dresdner Drops ist gelutscht: aus, vorbei und Ende. Und Christian Thielemann macht es doch richtig, er schweigt, so wie auf der Pressekonferenz in Dresden, als er den Journalisten noch einmal erklärte, dass er zu seiner Vertrags-Nicht-Verlängerung nichts zu sagen habe. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet die Autorin seiner Bücher, Christine Lemke-Matwey, in der „Zeitnoch einmal wortreich zurückblickt – vollkommen ohne Neuigkeiten. Im Kern geht es um ein Schreiben des Orchestervorstandes an die Politik, in dem es heißt, dass man die kommenden Jahre nutzen wolle, um einen geeigneten Nachfolger zu finden. „Wäre Thielemann davon in Kenntnis gesetzt worden“, so Lemke Matwey, „hätte er seinen Taktstock wahrscheinlich sofort fallenlassen.
Ich persönlich sehe das anders: So ziemlich jeder wusste doch über diesen Brief Bescheid (allein an dieser Stelle wurde er immer wieder zitiert) – und wenn Thielemann als Einziger davon wirklich nichts wusste, zeigt das höchstens, wie weit er sich bereits von seinem eigenen Ensemble entfernt hatte, ohne es zu merken. Wie dem auch sei. Thielemann scheint weitgehend entspannt zu sein, erzählt jedem, dass sein Terminkalender sich rasant füllt – und genau das ist doch auch gut: Dresden muss Lösungen im eigenen Garten schaffen, während Thielemann es sich leisten kann zu schweigen und zu dirigieren. Wo ist das Problem?

ZÜRICH UND MÜNCHEN: NEUE KONZERTSÄLE

Egal, wen man fragt: Die neue Tonhalle in Zürich soll nach der Renovierung noch besser sein als zuvor. Das findet auch Dorothee Vögeli in der NZZ. Die Eröffnungskonzerte finden am 15. und 16. September statt, aber es gab bereits erste Einblicke. Intendantin Ilona Schmiel sagte: „Wie bei vielen anderen Sälen auch standen umfangreiche Erhaltungs- und Modernisierungsmassnahmen an, über deren Durchführung und pünktliche Fertigstellung wir sehr glücklich sind.“ Erste akustische Messungen seien äusserst vielversprechend: „Wir verfügen jetzt mit der Grossen Tonhalle über ein Juwel mit grosser internationaler Strahlkraft. Sie offenbart eine exzellent restaurierte Ästhetik und einen wunderbaren warmen und differenzierten Klang.“ Und auch der neue Konzertsaal im Münchner Werksviertel scheint auf gutem Weg zu sein. Die Agentur PS Music veröffentlichte erste Bilder auf ihrem Instagram-Kanal. Darauf ist zu sehen, dass das beeindruckende Haus schon nach einem echten Konzertsaal aussieht.

DOMSPATZEN NEHMEN MÄDCHEN AUF

So groß die mediale Aufregung war, so normal war die eigentliche Nachricht: Das Gymnasium der Domspatzen in Regensburg nimmt ab dem Schuljahr 2022/23 auch Mädchen auf. Die Schulen anderer Knabenchöre machen das schon lange. Die Mädchen sollen mit ihren gesanglichen Fähigkeiten eine eigene neue Säule der Regensburger Dommusik bilden, heißt es, die Regensburger Domspatzen bleiben der Domchor und als reiner Knaben- und Männerchor mit seinem unverwechselbaren Klang in der bisherigen Form bestehen. Mit anderen Worten: Eigentlich ist nicht so wahnsinnig viel passiert.

Wie schafft man es, sich von Corona nicht unterkriegen zu lassen?
Arnt Cobbers fragt nach. Bei Sophie Dervaux und Andreas Arend.

DIE BAYREUTHER NORNEN

Sicher ist: Die Bayreuther Festspiele werden dieses Jahr auf einen roten Teppich verzichten. Ansonsten ist vieles offen: Von Aufführungen ohne Publikum bis zu einer etwa 50-prozentigen Schachbrett-Platzierung, bei der ungefähr 900 Zuschauer kommen könnten, ist alles möglich. Die endgültige Entscheidung wird Anfang Juli getroffen (nebenbei: Die Inzidenz in Bayreuth lag diese Woche bei null!). Derweil finden die Proben unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen (andauernde PCR-Tests für alle) statt. Etwas grotesk sieht die Situation im Chorproberaum aus: Jede Sängerin und jeder Sänger haben eine eigene Plexiglas-Kabine, aus der die Stimmen auf die Bühne übertragen werden. Neben der Premiere des „Fliegenden Holländer“ (der wohl auch in den Kinos übertragen wird) stehen die Wiederaufnahmen der Opern „Tannhäuser“ mit Axel Kober als Dirigenten sowie die gefeierten „Meistersinger von Nürnberg“ von Barrie Kosky auf dem Spielplan, dirigiert von Philippe Jordan. Außerdem gibt es zwei Konzerte (mit Andris Nelsons) im Festspielhaus. Als Vorläufer des neuen „Rings“ wird die „Walküre“, halbkonzertant aufgeführt.

PERSONALIEN DER WOCHE

Im Vorfeld zum „West Side Story“-Film von Steven Spielberg, erschien in den USA eine neue Doku über den Komponisten und Dirigenten. The Hollywood Reporter zeigt sich begeistert von der Doku „The Bottom Line“, in der Regisseur Douglas Tirola besonders die politische Seite Bernsteins und sein Verhältnis zur US-Linken untersucht. +++ So wie Peter Jungblut sahen viele die mit Spannung erwartete Premiere von Wagners „Rheingold“ an der Deutschen Oper in Berlin: „Statisten in Unterwäsche und jede Menge Rambazamba: Stefan Herheim inszeniert Wagners Musikdrama nah an Puppenspiel und Jahrmarkt-Spektakel. Das ist furios bebildert, bleibt jedoch oberflächlich. Dafür überzeugen die Sänger und die Bühnentechniker.“

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+++ So viel Kirill Petrenko gab es noch nie bei den Berliner Philharmonikern: „Durch die konzentrierten Proben in der Coronazeit sind wir in unserer Beziehung weiter gekommen“, sagte er auf einer Pressekonferenz. „Ich weiß heute mehr darüber, was für die Musikerinnen und Musiker wichtig ist.“ Petrenko wird auch zwei Aufführungen in der Waldbühne und Familienkonzerte leiten, die er moderiert. +++ Der Komponist Georges Aperghis erhält den mit 250.000 Euro dotierten Ernst von Siemens Musikpreis 2021. Sein Lebenswerk stehe quer zu allen Strömungen und widersetze sich schneller Einordnung, begründete die Stiftung ihre Entscheidung.

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht in diesen Tagen auf dem Platz? Während Klassik-Konzerte immer noch mit Corona-Auflagen kämpfen, sind die EM-Stadien zum Teil proppenvoll. Und trotzdem: Die Allianz aus Fußball und Musik lebt weiter. 1990 waren es die „Drei Tenöre“, die eine WM als Anlass für das größte Marketing-Projekt der Musik genutzt haben. Auch bei den Bayreuther Festspielen wurde lange gekickt, die Sänger traten unter dem Namen „FC Wotan“ an (auf dem Foto u.a. Peter Hoffmann). Ich selber durfte bei einem Match zwischen Staatskapelle Dresden und Berliner Philharmonikern im Olympiastadion in Peking mitkicken. Und letzte Woche traten die Wiener Philharmoniker gegen die Wiener Symphoniker (Bild rechts) an (5:0). Dabei sein ist alles!

In diesem Sinne, eine spannende EM, und halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@portmedia.de

Fotos: Arena di Verona, Semperoper, PS Music, Regensburger Domspatzen, 20th Century Fox

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