KlassikWoche_RGB_2020-09

Die Kultur, die UEFA und andere Ungereimtheiten

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

und was das für eine Woche war! Die Fußball-EM läuft in vollen Stadien, mehrere Tausend Fans haben sich bereits infiziert – und die Kultur? Sie ringt – besonders in Deutschland – um jeden einzelnen Besucher. Nachdem ich diese merkwürdige Situation kommentiert habe, wollte ich bei Instagram wissen, ob die Klassik mehr UEFA brauche. Das Ergebnis war eindeutig: 82 Prozent der TeilnehmerInnen sagen „Ja“, und einer, der für „Nein“ stimmte, schrieb mir: „Die UEFA braucht mehr Klassik!“. Wie wahr! Übrigens, gestern war ich bei einem Konzert in Wien, außer Test- oder Impfnachweis ist hier nichts mehr nötig – nicht einmal Maske.

HARVEY WEINSTEIN-OPER

Will man das wirklich? Eine Oper über den Prozess gegen Film-Mogul und #metoo-Täter Harvey Weinstein? Der Komponist und Theaterdirektor Conor Mitchell hat ein derartiges Werk in Angriff genommen (u.a. mit Original-Zitaten von Aussagen der Opfer). „The Trail of Harvey Weinstein“ soll von der Oper in Belfast uraufgeführt werden, die Proben sollen im September beginnen. „Stellen Sie sich sechs Soprane auf der Bühne vor und allerhand Multimedia“, erklärt Mitchell der New York Post, was die ZuschauerInnen erwartet.
Ich persönlich weiß nicht, was ich davon halten soll. Liebe, Hass, Leidenschaft, Kriminalität, Macht und Machtlosigkeit machen viele Opern spannend – aber hat die Welt der Oper derzeit nicht gerade viel zu viel reale Opern mit diesem Plot laufen? Zumal Weinsteins Anwalt Imran H. Ansari all das jetzt schon für Eigenpropaganda nutzt: „Nun, vielleicht sollten die Macher über einen zweiten Teil nachdenken, in dem es darum gehen sollte, ob es sich um einen fairen Prozess gehandelt hat.

PERSONALIEN DER WOCHE I

Mein Lieblingsfoto der Woche war der Schnappschuss oben rechts, das DSO Berlin gratulierte dem Dirigenten Kent Nagano auf seiner Instagram Seite. Das Hochzeits-…, äh Vor-Vorstellungs-Foto zeigt ihn mit der CSU-Politikerin Dorothee Bär. Sorry, aber ich konnte da aus so vielen Gründen einfach nicht wegschauen! +++ Und noch ein Foto sorgte für Furore: Die designierte Intendantin der Wiener Volksoper, Lotte de Beer (oben links) stellte sich schwindelfrei auf das Dach ihres Hauses und beantwortete durchaus kritische Fragen des Publikums für die „Bühne“. Außerdem in Wien: Liest man die Jahresbroschüre der Staatsoper, erstaunt, dass Chefdirigent Philippe Jordan so ziemlich alles an sich reißt, was „großes Repertoire“ bedeutet. Ich bin, wie die Newsletter-LeserInnen wissen, nicht geneigt, Kollegen Heinz Sichrovsky als Kronzeugen für irgendetwas anzuführen, aber sein Dauer-Bombardement gegen Jordan (und sein absurder Wunsch auf den Einmarsch der Christian-Thielemann-Truppen in Wien) ist bezeichnend. Selbst im Orchester scheint Jordan nicht mehr unangefochten zu sein. Vielleicht wäre ein wenig mehr dirigistische Vielfalt und „Gönnen-Können“ für Oper, Orchester und Publikum besser. In Paris hat Jordan sich derweil mit einem Interview verabschiedet und den Wienern ein Lob für ihre Flexibilität gemacht.
+++ Vor kurzem hat er sich noch ein vulgäres Schreigefecht mit Dirigenten-Kollegen Riccardo Chailly geliefert, nun versteht Riccardo Muti die Welt nicht mehr. Dem „Corriere della Sera“ erklärte er: „Vielleicht ist es übertrieben, aber manchmal fühle ich mich lebensmüde. Ich fühle mich nicht mehr zu dieser Welt zugehörig, in der die Prinzipien der Kultur vollkommen über den Haufen geworfen werden, um ein Publikum zu erreichen, dem es darauf ankommt, was es sieht – nicht darauf, was es hört.“ Riccardo Muti führt Arturo Toscanini an, der einmal sagte, der Arm sei die Erweiterung des Gehirns. Für viele seiner Kollegen sei der Arm inzwischen allerdings nur noch ein Mittel für den Effekt, sagte Muti. Was Teodor Currentzis darauf erwidert hat, ist nicht überliefert. Und, unter uns: So lange es einen Spiegel in seiner Garderobe gibt, wird auch Riccardo Muti weiter machen.

SOMMERLEKTÜRE MIT SCHUMANN

Die Komponistin Clara Schumann
Wenn Sie noch eine spannende Urlaubslektüre suchen, die gibt es dieser Tage kostenlos im Netz. Die Sächsische Landesbibliothek hat den Briefwechsel zwischen Clara Schumann und ihrem Klavierschüler und späteren Dirigenten Ernst Rudorff erworben und prompt ins Netz gestellt. Christiane Weidenfeld jubelt in der FAZ: „Die Briefe zwischen Ernst Rudorff und Clara Schumann sind Variationen für zwei sensible Künstler und doch viel mehr: Hier schwingen Gleichgesinnte miteinander in der Überzeugung, dass Musik und Natur ebenso lebenswichtig wie schützenswert sind, ja mehr noch: Sie sind die einzig wahrhaftigen Dinge, die das Leben lohnen.“ Wer keine Zeit für die gesamte Lektüre hat, dem erzählt Claus Fischer im MDR in sechs Minuten, worum es geht.

PERSONALIEN DER WOCHE II

Die Führung der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg ist neu geregelt: Nach dem Rückzug des künstlerischen Leiters des Konzertbereichs, Andreas Fladvad-Geier, ab Sommer wird Rolando Villazón die gesamte künstlerische Leitung des Hauses übernehmen. Rainer Heneis wird zum Geschäftsführer der Stiftung bestellt. +++ Der Vertrag von Josef E. Köpplinger als Intendant des Gärtnerplatztheaters in München wurde bis 2027 verlängert. +++ Am Ende noch kurz ein Wort an den Kollegen Norman Lebrecht: Ich hatte mir im SWR Gedanken über die Zukunft der DirigentInnen gemacht. Was verrät der Klang über unsere Zeit? Und in welchem Soundtrack leben wir gerade? Amüsant zu sehen, dass Lebrecht den Titel des Beitrages „Mythos Maestro“ auf meiner Facebook-Seite mit der schlechten Laune eines Plagiatsjägers von Annalena Baerbock auf sein Buch von 1993 (sic!!!) bezog und mich fragte: „I wonder where you got that title?“ – Natürlich nur von Dir, oh, infallible Norman, denn without you there wouldn’t even be music in this world! +++ Der polnische Komponist Frederic Rzewski ist tot. Pianist Igor Levit machte seinen Zyklus für Klavier "The People United Will Never Be Defeated!“ bekannt. Und natürlich rief der Pianist seinem Freund auch bewegt auf Twitter nach. Die Washington Post berichtete, dass Rzewski im italienischen Montiano einen Herzinfarkt erlitt. Viele seiner Partituren hat der überzeugte Kapitalismus-Kritiker kostenfrei ins Netz gestellt.

AUF UNSEREN BÜHNEN

Okka von der Damerau als Brangäne mit Wolfgang Koch als Kurwenal in Wagners „Tristan und Isolde“ an der Bayerischen Staatsoper in München
Eigentlich schön, dass ausgerechnet eine Aufführung, die um zwei Superstars der Klassik gebaut wurde, Nikolaus Bachlers Abschiedsgeschenk an die Münchner Staatsoper, der „Tristan“ mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann, sich am Ende als Spektakel der Nebenrollen herausstellte: Besonders Okka von der Damerau wurde gefeiert! Kritiker Markus Thiel sah es im Merkur wie viele seiner Kollegen: „Manchmal scheint es überhaupt, als gebe es in dieser Premiere nur eine einzige Stimme mit natürlicher Wagner-Dimension, und die gehört Okka von der Damerau. Ihre Brangäne ist (mit Abstand gefolgt vom szenisch unterbeschäftigten Kurwenal des Wolfgang Koch) das Gegenteil eines Kompromisses, sondern pures Klangereignis – gerade weil der Regie dazu wenig einfällt und die Kostümierung von Małgorzata Szczęśniak nicht nur in diesem Fall anfechtbar bis justiziabel ist.“ +++ Dass Intendant Jan-Philipp Laufenberg (wir brauchen mal einen neuen Namen für ihn!) ziemlich oft ziemlich allein zu Hause ist, haben wir inzwischen ja begriffen. Aber allein „Ring“ nur auf die Bühne zu bringen, weil man selber inszeniert, das ist schon krass! Weil Laufenberg Regie führt, musste das Ding auf die Bühne, auch, wenn im Orchestergraben lediglich ein Klavier stand. Das Ergebnis, glaubt man Axel Zibulski in der FAZ, war mehr als enttäuschend: „Die Aufführung erweist sich als musikalisch unvertretbar“, summiert der Kritiker in seinem Totalverriss über die Absurditäten von Jan-Phillips Ego-Trip. Huiuiuiuiui…

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht, dass der Festival-Sommer endlich beginnt! Den Anfang machen die Bregenzer Festspiele mit einer wirklich spannenden Trouvaille: „Nerone“ von Arrigo Boito – eine etwas andere Erzählung von Nero, wie der Dirigent Dirk Kaftan uns erzählt.
In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

Bilder: dpa, instagram DSO, common, Bayerische Staatsoper, Titel: Sky Austria

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