KlassikWoche_RGB_2020-09

Was bedeutet die Ampel für die Klassik?

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute beschäftigen wir uns mit den Akut- und den Spätfolgen von Corona in der Klassik, sind – natürlich – politisch korrekt und erklären, wie eine Ampel-Koalition sich auf die Musik auswirken könnte. Außerdem: spannender Streit um das AI-Projekt zu Beethovens Zehnter. 

ERKLÄRT DIE AMPEL KULTUR ZUM STAATSZIEL?

Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck
Vor der Wahl habe ich die Parteien angeschrieben und sie um Positionen zu Kultur und Klassik gebeten. Das Ergebnis: Alle Mitglieder einer eventuellen Ampel-Koalition haben sich für Kultur als Staatsziel im Grundgesetz ausgesprochen und wollen, dass der Bund den klammen Kommunen, bei denen bereits 40 Prozent der Kulturinvestitionen eingefroren sind (!!!), unter die Arme greifen. Der Kulturrat hat nun 11 konkrete Forderungen auf gestellt. Unter anderen sollen der Kulturetat erhöht und die Kommunen unterstützt werden, die soziale Sicherung soll angepasst, der Klimawandel zum Kulturthema erhoben werden, außerdem soll ein Bundeskulturministerium eingerichtet und Kultur als Staatsziel verankert werden. Übrigens, die einzige Partei, die damals nicht auf meinen Fragebogen geantwortet hat, war die CDU von Kulturstaatssekretärin Monika Grütters – sie wird sich nun wohl einen neuen Job suchen müssen. Vielleicht wird Kulturpolitik dann endlich wieder von politischer Arroganz und politischem Ego befreit.

FRAGEN „AN UND VAN“ BEETHOVEN

Das Beethoven Orchester Bonn spielt Beethovens 10. Sinfonie
Ich war diese Woche mit meinem Vater im neuen Bond-Film – und es ist schon ein wenig ernüchternd, wenn gerade bei Bond jede Rolle bis ins letzte Detail politisch korrekt besetzt ist. Leben Filme, Opern und Kultur nicht immer auch von der Grenzüberschreitung, der Überraschung, der politischen Incorrectness, davon, dass sie anders sind als die Konventionen unserer Realität? Letzte Woche habe ich an dieser Stelle einigermaßen launig über die Forderung von Schlagersänger Roberto Blanco geschrieben, der verlangt, Beethoven zu exhumieren, um per DNA-Analyse seine afrikanischen Wurzeln feststellen zu lassen. Diese Woche hat ein tatsächlicher Experte, Musikwissenschaftler Ian Pace, im Spectator einen spannenden Artikel darüber geschrieben, warum Menschen, die Bach, Beethoven oder Wagner lieben, zunehmend ein schlechtes Gewissen eingeredet wird. Seine These: Wir verlernen, Musik in erster Linie durch das Ohr zu verstehen und versuchen, sie mit dem Handwerkszeug von Historikern oder Soziologen zu erklären – dabei würde vor allen Dingen ihre Sinnlichkeit auf der Strecke bleiben. Ein sehr lesenswerter Text.
Abgesehen davon, welche ethnischen Wurzeln Beethoven nun wirklich hat – in Bonn wurde seine 10. Sinfonie am Wochenende durch einen Computer vollendet. KI und Genie – eine große Herausforderung mit kontroversem Ergebnis. Wolfram Goertz hat Beethoven X in der Zeit als „Waterloo“ vernichtet. Ich habe die Uraufführung in Bonn moderiert und war vor allen Dingen begeistert davon, wie offen und freimütig auch auf der Bühne debattiert wurde: Dirigent Dirk Kaftan hinterfragte, wie groß die Gefühlswelt eines komponierenden Computers sein kann, die IT-Experten vom Beethoven Experiment behaupteten: Computer könnten Emotionen durchaus simulieren. Ein spannendes und leidenschaftliches Hin-und-Her, in dem es auch um Fragen ging, die sich in der Zukunft zunehmend stellen: Wer zum Beispiel bekommt GEMA-Gebühren, wenn ein Computer zum Komponisten wird, wer ist Urheber, wer Künstler? Hier können Sie die Uraufführung der „Zehnten“ und die anschließende Diskussion noch einmal nachschauen und sich ein eigenes Bild machen (besagte, explosive Debatte beginnt nach ca. 45 Minuten).

DAS RINGEN UM G2 ODER G3

So richtig logisch dünkt mir die Argumentation von Sängerin Elisabeth Kulman nicht. Sie hat ihr Abschiedskonzert in Wien in einem schwurbeligen Video abgesagt, weil ihr die „Ausgrenzung eines Teils des Publikums“ durch die 2G-Regel in Wien den Hals zuschnürt“. Egal, wie man zur Impfung steht: Durch ihre Absage hat Kulman nun nicht nur die Impfunwilligen ausgeschlossen, sondern auch die 80 Prozent Geimpften und Genesenen, die sich auf eine Kulturveranstaltung gefreut haben. Oder hat sie wirklich geglaubt, dass Musikvereins-Chef Stephan Pauly wegen ihr die Hygieneregeln ändert? Natürlich nicht! Selbst auf ihrer Facebook-Seite bekommt Kulman neben Zustimmung auch allerhand Gegenwind für ihre Entscheidung. Sie wird ihre Weltkarriere nun am 19. Dezember in der Konzerthalle Bamberg beenden.
Aber Meinungen sind als Meinungen ja auch flexibel: Nachdem Schauspieler Jan Josef Liefers sich einst über Corona-Maßnahmen lustig gemacht hatte, warnte er nach dem Besuch einer COVID-Intensivstation nun vor dem fatalen Verlauf, den die Krankheit haben kann. Derweil scheint der Riss, der auch in der Gesellschaft zu erleben ist, besonders hinter den Kulissen größer zu werden: Immer mehr Orchestervorstände versuchen, ungeimpfte KollegInnen zur Impfung zu bewegen – weil sie um die eigene Gesundheit fürchten, aber auch, weil Auslands-Gastspiele auf dem Spiel stehen. In den USA geht es längst direkter zu, hier werden ungeimpfte MusikerInnen auf Betreiben von Gewerkschaften suspendiert.

LANGZEITFOLGEN I: TRAM STATT TAMTAM

Die Leiterin der Hanns Eisler Musikhochschule Sarah Wedl-Wilson hat kurz nach dem Ausbruch von Corona in einem langen, hier veröffentlichten Gespräch, darauf hingewiesen, dass das Virus bei vielen jungen MusikerInnen dafür sorgen wird, dass sie ihre Karriere grundlegend infrage stellen, und dass wir es mit einem fatalen Neudenken zu tun haben werden.
Nun berichtet das VAN Magazin über einen konkreten Fall. Die Altistin Dina König hat ihre Gesangskarriere aufgegeben, um als Tramfahrerin für die Basler Verkehrsbetriebe zu arbeiten. „Die Reaktionen waren immer sehr unterschiedlich", schreibt sie, "Die meisten haben verständnisvoll reagiert, einige natürlich auch gar nicht. Manchen ist es egal. Man sieht, wie schnell man in dem Beruf vergessen wird. Es gibt genug Altistinnen. Ganz wenige haben gesagt, dass sie es sehr schade fanden.

LANGZEITFOLGEN II: NEU ANFANGEN

Blick in den Zuschauerraum des Opernhauses Zürich
Wie gesagt, diese Woche war ich mit meinem Vater im neuen James Bond: Das Kino war ausverkauft. Über Tage hinweg. Überhaupt scheinen die Kinos aufzuatmen. Die Leute kommen zurück! Gut so. Etwas anders gestaltet sich die Situation in unseren Theatern, Opernhäusern und Konzerten. Hier ist die Zurückhaltung noch immer groß. IntendantInnen beginnen, sich Sorgen zu machen und Journalisten-Kollegen wie Peter Jungblut trommeln bei BR-Klassik dafür, dass die Leute endlich ihre Sofas verlassen: „Und wenn Ihnen der Gedanke, mal wieder rauszugehen und Karten zu kaufen abenteuerlich vorkommt: Umso besser, dann können Sie dafür eine Netflix-Serie weglassen. Ist übrigens auch gut für die Durchblutung, sagen die Ärzte.“ Aber vielleicht sind es ja auch genau diese Texte, die ins Leere laufen?
Vielleicht haben die Leute es einfach satt, dass wir Kultur-Fuzzis ihnen andauernd sagen, was sie tun sollen und was sie verpassen, wenn sie nicht zu uns kommen. Eine Haltung, die sich viele Stadttheater längst angewöhnt haben. Sie gehen davon aus, dass es wichtig und gut für das Publikum sei, sie zu besuchen. Und wenn keiner kommt – tja, dann hat das Publikum eben selber schuld. Könnte es sein, dass wir es hier mit einem grundlegenden Umbruch zu tun haben, in dem auch wir Kultur-Leute uns mal wieder sagen müssen: „Fragt nicht, was unser Publikum für uns tun soll, sondern was wir für unser Publikum tun sollen?“ Ob es dabei hilft, einfach die Fracks auszuziehen und gegen legere schwarze Hemden zu tauschen, so wie das Philadelphia Orchestra – ich weiß ja nicht .

PERSONALIEN DER WOCHE

Die Münchner Philharmoniker eröffnen die Isarphilharmonie
Es war das größte Klassik-Ereignis der letzten Woche: Die Neueröffnung der Isarphilharmonie in München. Einhellige Meinung der Kritik: Ein akustisch großartiger Raum ist entstanden, in dem es „wenig münchnerisch“ zugeht. Und das sei auch gut so. Hier die Kritik von Markus Thiel im Münchner Merkur. +++ Auch wenn die Kassen in Stuttgart klamm sind, nachdem die Stadt sich zur millionenschweren Grundsanierung des Opernhauses bekannt hat, noch immer träumen viele von einem neuen Konzerthaus. Gernot Rehrl, früherer Intendant der Bachakademie, SWR-Orchestermanager Felix Fischer und Kulturmanager Ralf Püpcke schreiben: „Es ist die Vision von einem kulturellen Kraftwerk und Herzstück mitten in Stuttgart: ein nachhaltiges städtebauliches Vorzeigeprojekt, ganztägig geöffnet für alle Generationen und Schichten. Eine Bildungseinrichtung ebenso wie ein Produktionszentrum und eine Spielstätte für ein exquisites Konzertprogramm sämtlicher musikalischen Genres von Klassik bis HipHop.“ Prominente Unterstützer sind: Günther Oettinger, Ex-Daimler-Chef Dieter Zetsche und der ehemalige VfB-Stuttgart-Präsident Erwin Staudt.
Die Sängerin Renée Fleming wird bis 2024 Beraterin der Los Angeles Opera. +++ Andreas Bräunig wird neuer Geschäftsführer der Camerata Salzburg. Der gebürtige Berliner wurde unter rund 30 Bewerbern aus mehreren Ländern ausgewählt, teilte das Orchester am Freitag mit. Bräunig übernimmt Mitte November die Nachfolge von Shane Woodborne. +++ Bei einer Vorstellung am weltberühmten Bolschoi Theater in Moskau ist am Samstagabend ein Darsteller von einem Teil der Bühnendekoration erdrückt worden. Der 37-Jährige sei bei einem Wechsel des Bühnenbilds tödlich verunglückt. Ermittler seien im Theater im Einsatz, um den genauen Hergang des Unfalls zu untersuchen, teilten die Behörden in der russischen Hauptstadt mit. +++

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier: Wenn die Kinos schon voll sind – dann kann die Oper ja auch ins Kino kommen. Also gut! Am 28. Oktober ist es so weit, meine Doku „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ läuft an. Mit dabei: Christian Thielemann, Piotr Beczała und Barrie Kosky, Wagnerianer von Newark bis Tokio, von Tel Aviv bis Abu Dhabi und – natürlich: das Ehepaar Rauch! Bereits diesen Mittwoch um 18:00 Uhr gibt es eine exklusive Preview im Münchner City-Kino, am 28.10. läuft der Film dann überall im Kino an, und ich mache mich zusätzlich auf eine Kinotour durch ganz Deutschland (28.10. Bayreuth, 29.10. Nürnberg, 30.10. Salzburg, 31.10. Bonn, 1.11. Düsseldorf und Münster, 2.11. Bremen, 3.11. Berlin, 4.11.Leipzig und Dresden, 5.11. Frankfurt und 6.11. Freiburg – mehr auf der Film-Homepage). Ich freue mich natürlich, wenn Sie neugierig sind – der NDR war es schon und verrät erste Details aus dem Film.
Ach so, wer in diesem Newsletter irgendwas über den gestrigen Abend in Berlin oder Thomas Gottschalk vermisst – letzterer arbeitet inzwischen: hier.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

FOTOS: Instagram, Opernhaus Zürich, Telekom, dpa

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