KlassikWoche_RGB_2020-09

Liebe Klassik, wir müssen reden!

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit allerhand Denkanstößen: Muss sich die Klassik neu erfinden? Wie finden wir eine gemeinsame Corona-Strategie? Und vor allen Dingen: Welcher Komponist wird bald persönlich vor Gott dirigieren?

SPRICHT BENEDIKT BRUCKNER SELIG?

Bruckners Ankunft im Himmel, Schattenbild, 1914
Mein lieber Gott, das klingt vielleicht verrückt, aber das Domradio in Wien berichtet von einer Initiative um Adelheid Geck, die daran arbeitet, den Komponisten Anton Bruckner selig sprechen zu lassen. Geck schrieb bereits einen Brief an den damaligen Papst Benedikt XVI. Bis heute hätten sich über 100 Personen gefunden, die eine Seligsprechung befürworteten. Dazu gehört der ehemalige Würzburger Bischof und vormalige Kölner Weihbischof Friedhelm Hofmann. Hilfe sicherten zu Lebzeiten auch Herrschaften zu, die inzwischen einen kürzeren Weg zu Gott haben: der Ehrenpräsident des Allgemeinen Cäcilien-Verbandes Wolfgang Bretschneider und Papst-Bruder Georg Ratzinger.
Geck hat die Unterstützer-Liste nun der Bruckner-Gesellschaft übergeben und hofft auf ein Vorantreiben der Seligsprechung. Für viele erfülle Bruckner durch sein Leben und sein Werk das „Bild eines heiligen Künstlers“, so Geck. Sollte ihre Initiative Erfolg haben, dürfte Anton Bruckner der erste Komponist überhaupt sein, der selig- oder sogar heiliggesprochen wird. Welches Wunder Bruckner vollbracht hat, wird im Artikel nicht verraten, gesichert ist, dass er – quasi als Vorleistung – seine Neunte Sinfonie bereits Gott gewidmet hat, mit dem Zusatz „wenn er sie nehmen mag“.

DEBATTE: QUO VADIS, KLASSIK?

Schön, dass dieser Newsletter immer mehr zum interaktiven Debattenforum wird. Nachdem ich letzte Woche den Gedanken des zurückhaltenden Publikums hier gesponnen hatte, habe ich ihn in einem Kommentar für den SWR ausgebaut: Können wir wirklich das Publikum dafür verantwortlich machen, dass es zu Hause bleibt? Oder muss die Klassik auch ihr Angebot und ihre Erzählformen überdenken? Nicht nur, dass Norman Lebrecht das Thema nun aufgenommen hat – auch auf meiner Facebook-Seite entspannt sich eine lebhafte Debatte: „Spannendes Thema“, schrieb Karlheinz Schöberl, „aber für den Publikumsschwund gibt es mehrere Ursachen.“ Er führt unter anderen das Ausbleiben der Touristen an, Konkurrenz durch Fernsehen, zu teure Preise und: mangelnde Bildung. Sängerin Christina Sidak erklärte, dass Projekte nahe am Publikum mit neuen Formaten wie ihre Aufführung von „Mama macht Lala“ durchaus Publikum fänden. Regisseur André Turnheim schreibt: „Der Glaube, Promis, Unterhaltung und leichte Muse würden das Publikum zurückholen, ist ein Irrglaube.
Nermina Kukic gibt zu bedenken, „die Auslastung öffentlicher Theaterbetriebe war schon vor Korona gering“, und Sven Friedrich vom Haus Wahnfried kommentiert: „Ein wenig Geduld, Langmut und Vertrauen in die Kunst und ihre Wirkungskraft wären vielleicht hilfreicher, als in zeitgeistiger Panik vermeintlich attraktive neue Säue durchs Dorf zu treiben.“ Tenor Michael Schade berichtete mir auf Facebook aus Barcelona, wo junges Publikum mit Zehn-Euro-Tickets gelockt wird. Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, erklärte in der Süddeutschen Zeitung dass ein „gefühltes Viertel“ der Zuschauerinnen und Zuschauer derzeit noch abwarte. Er gehe davon aus, dass ein Teil vor allem der über 70- und 80-Jährigen nicht mehr zurückkehren wird. Er erwartet einen Einbruch von zehn bis 15 Prozent. Alarm schlägt er deswegen nicht: „Das wird eine Anstrengung werden, aber keine Horrorerfahrung. Es kann auch lustvoll sein, sich neu auszuprobieren und Zuschauer zu gewinnen.“ Die Debatte hat gerade erst begonnen, ich weiß, dass sie auch auf der Konferenz der Generalmusikdirektoren geführt werden wird – und bin gespannt, ob dieser Diskurs nicht auch Energie für Neues bringen kann.

AUSWEICHQUARTIER BEIM REICHSPARTEITAGSGELÄNDE

Kongresshalle auf dem Reichparteitagsgelände in Nürnberg
Vielen Kommunen in Deutschland fällt es schwer, Kultur überhaupt noch zu finanzieren. Unter den Sparmaßnahmen musste in Nürnberg besonders die Klassik leiden: Ein neues Konzerthaus wurde auf Eis gelegt. Wohl auch ein Grund, warum Chefdirigentin Joana Mallwitz ihren Vertrag nicht verlängerte. Sicher dagegen ist: Das Opernhaus soll von 2025 an in langen zehn Jahren für stattliche 700 Millionen Euro saniert werden. Rund 200 Millionen Euro liegen für ein Ausweichquartier bereit. Wo das nun liegen soll, darüber streitet die Politik. CSU und Grüne haben sich auf die Kongresshalle als Interimsstandort festgelegt, die SPD zögert. Sie debattiert die historische Nähe zur Umgebung der Reichsparteitage, schließt einen Umzug in die Kongresshalle aber auch nicht aus. „Nur weil es schnell gehen soll, dürfen aber keinen offenen Fragen ausgeblendet werden“, sagt SPD-Stadtrat Ulrich Blaschke.
Sicher ist: Die Politik glaubt, „dieser besondere Ort braucht eine Rückkoppelung mit der Bürgerschaft“, sagt SPD-Stadträtin und Bauexpertin Christine Kayser. Auf die Tube drückt derweil der FördervereinKonzerthaus plus“. Er will den nie fertiggestellten Nazi-Bau auf dem Reichsparteitagsgelände zum Kultur-Campus machen. Im Innenhof soll zusätzlich noch ein Konzertsaal entstehen. Übrigens: Das Staatstheater Nürnberg hat ein neues Jugendorchester ins Leben gerufen. Auf die Initiative von Mallwitz haben Nachwuchsmusikerinnen und -musiker die Möglichkeit, an mehreren Probenphasen und Konzertprojekten teilzunehmen. Noch bis zum 21. Oktober können sich Interessierte für die Vorspiele und eine Aufnahme in die Junge Staatsphilharmonie bewerben.

WIR MÜSSEN REDEN

Die Zerrissenheit der Klassik-Gesellschaft zeigt sich in meinem Postfach: Einen Tag fragt jemand, wie es sein kann, dass prominente Sänger ihre Auftritte an der MET absagen, während sie zur gleichen Zeit spontan in Moskau auftreten – ob diese Zusagepolitik mit dem Impfstatus zu tun hat? Auf der anderen Seite berichtet eine prominente Sängerin von einer weniger prominenten Kollegin in der Provinz, die sich nicht impfen lassen will und deshalb – trotz Festanstellung – keine Rollen mehr bekäme. Nur zwei von vielen Beispielen, in denen vor allen Dingen eines abzulesen ist, dass die Wut auf Seiten der Impfgegner und der Geimpften groß ist. Mit einigen Ausnahmen (ich habe letzte Woche über die Konzertabsage von Elisabeth Kulman berichtet) findet der Streit weitgehend hinter verschlossenen Türen statt. Doch die Emotionen kochen immer höher.
Das Grundproblem scheint, dass die politische Entscheidung an die (dafür in der Regel ungeeigneten) Intendantinnen und Intendanten weitergegeben wird. Und die reagieren vollkommen unkoordiniert und uneinheitlich. Sowohl was die Ensembles als auch, was das Publikum betrifft. Ich habe diese Woche mit einer Klassik-Liebhaberin aus Berlin gesprochen. Sie hatte Veranstaltungen in der Philharmonie, der Staatsoper und der Deutschen Oper besucht – überall galten andere Hygieneregeln. Ähnlich ist es in München. Fakt ist auch: Die Gefahr ist noch nicht vorbei. Bei einer Chorprobe in Bremerhaven infizierten sich 20 Personen mit dem Corona-Virus – fast alle waren geimpft, was wohl Schlimmeres vermieden hat.
Das Problem sind die immer offeneren und verbissenen Grabenkämpfe, die sich eine kleine Gemeinschaft wie die Klassik eigentlich nicht leisten kann. Die Positionen radikalisieren sich, das Zuhören wird immer schwerer. Ich glaube, es ist Zeit für einen Runden Tisch! Wie könnten Musikerinnen und Musiker sich auf Regeln einigen? Welche Verantwortungen wollen und können sie übernehmen? Und wie lässt sich erreichen, dass Impf-Skeptiker und Impf-Befürworter gemeinsame Wege finden? Wir sollten diese Fragen nicht länger in den Kategorien von Hass und Gegenhass, Boykott oder stiller Strafe debattieren – sondern mit offenem Visier und ohne Angst vor Repressalien.

PERSONALIEN DER WOCHE

Musical-Ikone Andrew Lloyd Webber sprach in einem langen und lesenswerten Interview mit Classical Music über das Versagen der Politik in der Pandemie, darüber, warum er gegen den Staat geklagt hat und über seine Zukunftspläne: Wenn er einen guten Stoff findet, wird er sich sofort an ein neues Werk setzen. +++ Tenor Daniel Behle hat zwei Jahre lang 604 Seiten Partitur geschrieben. Nun hat er dem NDR verraten, worum es geht und Daniel Kaiser auch einige Takte vorgesungen. Die Handlung: „Ein Bierbrauwettbewerb zwischen zwei norddeutschen Dörfern mit vielen Anspielungen auf andere Opern und einer Menge Gags. Kategorie: Schenkelklopfer. ‚Das Bier aus dem Kloster St. Demenz/jeder mag's keiner kennt's‘, kichert Behle. ‚Das ist das Terzett im ersten Akt.‘ In der Wolfsbucht wird dann, frei nach dem Freischütz, in einer Nacht das Freibier gebraut. Der Liebeskummer ist die ‚Wunde von Bernd‘. Zwei Figuren heißen Senta und Klaus - wenn sie sich erregt beim Namen nennen, klingt das nach dem Weihnachtsmann.“ Auf Facebook veröffentlichte er nun auch ein Aufführungsdatum: den 14. Januar, aus dem Ort macht Behle noch ein Geheimnis.
Oksana Lyniv wird ab 2022 die neue Generalmusikdirektorin des Teatro Comunale di Bologna. Der Vertrag gilt zunächst für drei Jahre. +++ Nathalie Stutzmann übernimmt als erste Frau in der Geschichte des Atlanta Symphony Orchestra den dortigen Chefposten. Sie ist die zweite Frau überhaupt, die eines der großen US-Orchester leitet. Die 56-jährige Französin wurde als klassische Sängerin auf Opern- und Konzertbühnen berühmt. +++ Wie das mit dem Ringen um Publikum eher nicht geht, musste die Wiener Staatsoper gerade erfahren: Ihr Facebook-Post, in dem sie dem Opernchor gratuliert, die Partie aus „Eugen Onegin“ innerhalb eines Tages einstudiert zu haben, da der Gastchor aufgrund von Corona ausfiel, sorgte für Hohn und Spott: Wisse denn niemand, dass die Oper durchaus zum Repertoire des Hauses gehöre? Und warum überhaupt sei man auf einen Gastchor angewiesen? +++ Die Next Generation der Freunde der Salzburger Festspiele bekommt eine neue Spitze: Christian Renner übernimmt den Vorsitz, Ulrike Köstinger wird stellvertretende Vorsitzende. +++ Tragödie und Komödie liegen so oft so nahe zusammen: Im Verfahren um einen der brutalsten Raubmorde Österreichs kam nun auch ein anderes Detail zum Vorschein: Ein Sänger der Staatsoper sollte zuvor überfallen werden. Aber er schlug die Täter (und späteren Mörder) durch seine ausgebildete Stimme in die Flucht. Wir lernen: Gesangsstunden können Leben retten!

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht kommt es in Indien: Hier nerven Minister Nitin Gadkari die Autohupen. Nun plant er ein Gesetz, wonach nur traditionelle indische Musik als Geräusch für Autohupen zugelassen werden soll. Außerdem überlege er, die Sirenentöne von Krankenwagen und Polizeiautos mit netteren Klängen zu ersetzen, damit sich die Leute besser fühlten. Gadkari will mehr „Flöten, Tabla-Trommeln, Violinen und Mundharmonikas“ im Stadtbild, äh: StadtKLANG! Wäre das nicht auch ein Thema für Rot-Grün-Gelbe Verhandlungen? Wagner im Stau, mit Mozart ins Krankenhaus und mit Bach in den Knast? Ich wäre dafür.
Und dann noch das: Die genauen Daten und Zeiten für die Kinotour mit meinem neuen Film „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ stehen inzwischen auch fest (siehe Link).

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

AXEL BRÜGGEMANN

brueggemann@crescendo.de

FOTOS: Wikisource, Museen der Stadt Nürnberg, dpa, Philadelphia Orchestra

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