KlassikWoche_RGB_2020-09

Der Klassik-Jahresrückblick und eine Kritik der Kritik

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

bevor ich Ihnen schöne Weihnachten und einen guten „Rutsch“ wünsche, hier noch der letzte Newsletter des Jahres: Mit einer Kritik der Kritik, leider auch immer noch mit infizierten Corona-Debatten, aber auch einem seltenen Bild, das Kohl, Schröder und Merkel gemeinsam zeigt!

MUSIKALISCHE ZERRISSENHEIT

Semperoper Dresden
Okay, bringen wir erst einmal dieses Corona-Thema hinter uns: Im Netz regt sich unter vielen Musikern Widerstand gegen MusikerInnen, die das Manifest des „Netzwerk Musik in Freiheit“ unterschrieben haben – darunter viele soloselbstständige Musik-PädagogInnen, aber auch Musikerinnen und Musiker von Orchestern wie dem Beethoven Orchester Bonn, dem Oldenburgischen Staatstheater, dem Orchester des Nationaltheaters Mannheim, den Bremer Philharmonikern, den Dresdner Philharmonikern oder den Münchner Philharmonikern. Stein des Anstoßes ist die Formulierung des Manifests und seine (bewussten?) Fehler. Unter anderem wird fälschlicherweise behauptet, „das gemeinsame Musizieren und das gemeinsame Erleben von Musik“ seien „in weiten Teilen verfassungswidrig verboten worden“ (bislang sind alle Verfassungsklagen in Sachen Kultur gescheitert!).
Das Manifest, das unter anderem vom Saxofonisten Roger Hanschel initiiert und von AFD-Politikern beworben wird, richtet sich sowohl gegen die 2G- als auch die 3G-Regel. Tatsächlich scheint es sich um Künstlerinnen und Künstler zu handeln, die sich besonders von den Hilfsmaßnahmen ausgeschlossen fühlen, wenn sie schreiben: „Für viele Musiker bedeutet dies bereits jetzt den Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage.“ Während die Unterschriftenliste des Manifestes wächst (in erster Linie sind es weitgehend unbekannte MusikerInnen aus dem Mittelbau), wird der Aufschrei gegen diese Aktion in sozialen Medien immer größer, unter anderem auf der FB-Seite von BR-Mann Bernhard Neuhoff, der selber schreibt: „Dass so viele nette Menschen, die ich kenne, offenbar keinerlei Mitgefühl mit hunderten von Mitmenschen haben, die auf Intensivstationen qualvoll ersticken, finde ich erschreckend. Dieses ‚Manifest' ist nicht nur in allen wesentlichen Aussagen sachlich falsch, sondern auch Zeugnis einer hemmungslosen Ichbezogenheit, in der Herzlosigkeit und Wirklichkeitsverlust zusammenfinden.“

MACHTMISSBRAUCH IN BERLIN?

Thomas Oberender
Ein sehenswerter Bericht lief diese Woche im RBB-Magazin „Kontraste“: im Zentrum der ehemalige Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender. Im Beitrag von Tina Friedrich und Nathalie Daiber packen ehemalige MitarbeiterInnen aus und berichten von strukturellem Machtmissbrauch – Oberender weist alle Vorwürfe zurück.
Das wirklich Spannende an dem Bericht ist, dass die Autorinnen auch Ex-Staatsministerin Monika Grütters eine Mitschuld an derartigen Strukturen geben. Nicht unwahrscheinlich, dass sie die Berichte und Beschwerden kannte – und Oberender trotzdem zweimal verlängerte. Es ist an der Zeit, dass Kulturpolitik wieder Verantwortung übernimmt, statt sich im Scheinwerferlicht eines kranken Systems zu sonnen!

ANTISEMIT WAGNER – UND NUN?

Straßenschild: Richard-Wagner-Straße
Der Berliner Antisemitismusbeauftragte legt ein Dossier mit 290 Straßen vor, die nach Persönlichkeiten mit judenfeindlichen Bezügen benannt sind – unter ihnen Martin Luther, die Brüder Grimm und auch Richard Wagner. Muss die Straße nun umbenannt werden? Nein, findet Sven Friedrich, Leiter von „Haus Wahnfried“ in Bayreuth: „Es ist selbstverständlich legitim und richtig, den Antisemitismus in Deutschland nicht nur als irgendwie abstraktes Phänomen zu begreifen“, schreibt er auf seiner FB-Seite, „sondern auch ganz konkret an Persönlichkeiten der deutschen Geschichte und Kultur festzumachen. Dazu gehört natürlich auch Richard Wagner. Die Umbenennung von Straßen und Plätzen ist aber in meinen Augen nur dann legitim, wenn sie nicht einer teilweise ideologischen, teilweise absurden political correctness dient, sondern sich auf Täter und unmittelbare Vordenker beschränkt. Andernfalls wird Geschichte entsorgt und bereinigt, damit aber verfälscht - und der geäußerten Absicht einer ja weiß Gott notwendigen gesellschaftlichen Diskussion gerade der Boden entzogen und so ein Bärendienst erwiesen.

KRITIK DER REINEN KRITIK

Blick ins Parkett der Staatsoper Wien
Vor zwei Wochen hatte ich an dieser Stelle über den Wiener „Don Giovanni“ geschrieben – ein erschreckend langweiliger Opernabend, wie ich feststellte. Aber es regte sich Kritik an meiner Kritik im Netz: Junge Sänger, die mit Sängern der Oper befreundet sind, erklärten mir, dass die Stimmen durchaus sehr gut gewesen seien und fragten, was sie von einer Kritik wie meiner halten sollten. Gute Frage: Welchen Sinn haben Kritiken? Soll man öffentlich über sie streiten? Soll man ihnen widersprechen? Natürlich soll man! Wenn das Medium der Kritik überhaupt einen Sinn macht, dann lehrt es uns, dass es objektive und subjektive Maßstäbe gibt, unabdingbare Fakten und ästhetische Haltungen. Und es gibt auch unterschiedliche Kritiken.
Diese Woche hat die FAZ (um das gleich klar zu stellen: mein Lieblings-Klassik-Feuilleton!) versucht, den Wiener „Don Giovanni“ gut zu finden. Es hieß, dass allen voran die Mezzosopranistin Kate Lindsey die Aufführung zu einem Ereignis gemacht habe (wobei die FAZ beharrlich von Frau „Lindsay“ statt von „Lindsey“ schrieb – kann passieren, ich weiß, wovon ich rede!). Doch hier wurde ausgerechnet jene Sängerin gefeiert, die am Tag meiner Aufführung (objektiv) im zweiten Teil kaum noch durchdrang, auch weil ihr Mezzo für die oft als Sopran besetzte Rolle der Elvira einfach zu schwer erschien. Aber, hey, das mag Tagesform gewesen sein. Was das Subjektiv-Ästhetische betrifft, versuchte der FAZ-Kollege mit aller Kraft, irgendetwas Spannendes an Barrie Koskys Inszenierung zu finden, tat sich dabei aber offensichtlich schwer, relativierte jeden Kritikpunkt und konnte einfach nicht glauben, dass sich auch ein Star-Regisseur mal verrennen kann. Absurd wurde es, als die FAZ behauptete, der Grund für die vielen Wackler im Staatsopern-Orchester (eine objektive Tatsache, die ich teile) läge darin, dass Philippe Jordan ohne Taktstock dirigierte. Im Ernst?!? Nikolaus Harnoncourt wackelte auch ohne Stab nicht. Lag es nicht eher daran, dass Jordan einfach jegliche Mozart-Tradition ignorierte, einfach keinen intellektuellen Griff auf die Partitur bekam und sich zu sehr in seinen Turnereien vor dem Orchester gefiel? Was ich sagen will: Kritik ist ein wunderbares Genre, das zum ästhetisch-subjektiven Streit einlädt, am liebsten auf Basis objektiver Beobachtungen. Und klar, auch Kritiken dürfen kritisiert werden. Welcher Kritik man am Ende glaubt? – Tja: Das bleibt jedem selber überlassen. Wenn das Fest der Liebe vorbei ist, können wir uns ja mal eine Kritik von Helmut Mauró von der „Süddeutschen“ vornehmen:-) Ach so, das Foto oben war übrigens das Parkett der Wiener Staatsoper zur jüngsten „Parsifal“-Premiere (auf der Seite von Kritiker Norman Lebrecht). Auch das Publikum übt Kritik – mit dem Fuß. 

PERSONALIEN DER WOCHE

Goldener Saal im Wiener Musikverein
Heute etwas österreichlastig: Eine traurige Nachricht zu Weihnachten: Der legendäre Wiener Plattenladen „EMI-Austria“ in der Kärntnerstraße schließt zum 24. Dezember – das Label wurde schon lange aufgelöst. Ein weiterer Beleg für die Ernsthaftigkeit der Zeitenwende in der Klassik. +++ Der frühere SPÖ-Kulturminister Josef Ostermayer ist zum neuen Präsidenten der Wiener Konzerthausgesellschaft gewählt worden. Er folgt damit auf Christian Konrad.
Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker mit Daniel Barenboim wird vor Publikum stattfinden. Einzig die Stehplätze müssen coronabedingt leer bleiben. Für Konzertbesucher gilt die 2G-Regel sowie eine FFP2-Maskenpflicht. Der Ball der Wiener Philharmoniker fällt dagegen (ebenso wie der Wiener Opernball) komplett aus. 

UND (LEIDER) NOCH MEHR CORONA-NEWS

Der MDR beschäftigt sich in einem Beitrag mit den Impfquoten in Sachsens Orchestern, besonders gering (60 Prozent) soll sie in Dresden sein. +++ Vom 17. Januar an verlangt die MET in New York von seinen KünstlerInnen nicht nur eine Impfung, sondern auch den Booster-Shot.

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Aber war überhaupt alles so schlecht? Wenn man zurück schaut – eigentlich nicht. Oben meine Top10-Aufnahmen des Jahres 2021. Es war – mal wieder – geprägt von Absagen, Impf-Zoff und Corona. Musikerinnen und Musiker haben sich in Impfzentren engagiert, andere gegen Impfungen und die Corona-Politik demonstriert. Musik als Spiegel unserer Gesellschaft! Ärgerlich: Manche Intendanten haben festgestellt, dass geschlossene Häuser lukrativere Häuser sind. Ernüchternd: Noch immer gibt es keine besseren Verträge für Soloselbstständige. Der Sommer stimmte optimistisch: Salzburg war mit einem splitternackten Don Giovanni am Start (öffentliche Nacktheit war eine Modeerscheinung des Jahres: Six-Pack-Pubertät auf Instagram!). Die Bayreuther Festspiele haben schon im Sommer „2G-Plus-Plus“ erfunden (PCR-Test plus tagesaktueller Corona-Test), hinter den Kulissen schienen nicht einmal Kopfläuse eine Chance zu haben. Im Graben stand mit Oksana Lyniv zum ersten Mal eine Frau, dafür stattete ein alter weißer Mann (Blut-Künstler Hermann Nitsch) die „Walküre“ mit allerhand Farbe und Plitsch und Platsch aus. Verlierer des Jahres war: Günther Groisböck: Wagners Weltengott Wotan war etwas zu groß für ihn, nun singt er wieder als ganz normaler Mensch – auch gut. Dirigent Christian Thielemann schien ebenfalls ein Verlierer: Salzburg weg, Bayreuth weg und Dresden weg. Als er neben mir in meinem Wagner-Film saß, mampfte er aber zufrieden zwei Packungen Popcorn und schien vollkommen im Reinen mit sich zu sein: Man muss eben nicht unbedingt Chef sein, um gute Musik zu machen! 
Am Ende des Jahres wurde alles anders: Wahl, neue Regierung – das ging zack zack. Kulturstaatsministerin Monika Grütters wurde von der Horn-Gruppe der Berliner Philharmoniker aus dem Amt gejagt, und nun regiert Ton-Steine-Scherben-Managerin Claudia Roth. Wird die Klassik nun so politisch korrekt wie der neue James Bond? Roberto Blanco hat 2021 jedenfalls schon versucht, Beethoven als People of Color zu installieren, Oksana Lyniv war – wie gesagt – die erste Frau in Bayreuth, aber so richtig in Fahrt kommt es mit den Künstlerinnen noch nicht: Joana Mallwitz wurde erst einmal beim Konzerthausorchester in Berlin „abgestellt“, den Traumjob (Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) bekam dagegen ein ganz alter, sehr weißer Mann – einer mit Locken. 2021 – das Jahr, in dem die Klassik sich viele neue Fragen gefallen lassen musste. Kann es weiter gehen wie immer? Oder müssen sich Strukturen, Rollenbilder und Programme grundlegend ändern. Ich freue mich jedenfalls auf 2022 – da gibt es vielleicht endlich einige Antworten.
Angela Merkel inmitten von Simone Schröder und Christiane Kohl
Ach ja, nach Angela Merkels Abdankung fand ich es schön, dass dieses Bild auf Facebook kursierte. Das Einzige, das Merkel, Schröder und Kohl gemeinsam zeigt. Gemeint sind natürlich die Sängerinnen Simone Schröder und Christiane Kohl, die Merkel 2010 beim Künstlerempfang trafen. Christiane Kohl schrieb mir zu diesem Bild: „Frau Merkel saß zwischen Katharina Wagner, Christian Thielemann und Albert Dohmen völlig entspannt auf einer Bierbank. Simone und ich hatten uns erst nicht getraut, aber Katharina Wagner nahm es dann in die Hand. Ein unvergessener Abend.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif – auch an Weihnachten und natürlich im neuen Jahr! Danke für Ihre Treue und ein besinnliches Fest, wir lesen uns im neuen Jahr!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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