KlassikWoche_RGB_2020-09

Klassik zwischen Spannung und Entspannung

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit einer verkorksten Konzerthaus-Debatte, zwei unterschiedlichen Versuchen, sich „ein bisschen“ von Putin zu distanzieren und einer sportlich-klassischen Entspannung am Ende.

MÜNCHNER KONZERTHAUS-DEBATTE

Das geplante Konzerthaus München
Nachdem Markus Söder erklärt hat, „Wir können nicht alles unendlich finanzieren" und damit die Finanzierung des lange geplanten Münchner Konzerthauses in Frage stellte, tobt eine Debatte um das Projekt. Eher enttäuschend war für viele das schwammige Statement von Simon Rattle. „Ich möchte die Gedanken von Ministerpräsident Söder nicht gern aus der Ferne interpretieren“, ließ er wissen. Eine Kampfansage klingt anders. Und genau das scheint das Problem des neuen Hauses zu sein, das – selbst, wenn es nicht gebaut wird – wohl weit über 20Mio Euro kosten wird: Es wurde mit allem Pipapo geplant, mit mehreren Sälen und vollkommen digitalisiert gedacht, doch es hatte nie eine wirkliche Lobby. Das liegt auch daran, dass die Münchner – anders als bei der Elbphilharmonie – im Vorfeld nicht emotional mitgenommen wurden. Heute zeigt ein Blick nach München, dass Kultur in den anstehenden Wahlkämpfen wohl kaum eine Rolle spielen wird. Außer man kündigt – so wie Söder – vollmundig ihre Streichung an. Der Kulturhaushalt der Stadt wurde gerade gekürzt, angeblich wegen Corona-Ausgaben, das Konzerthaus soll auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben werden, auch mit Verweis auf die finanziellen Unsicherheiten durch den Krieg. Wir werden diese Argumente in Zukunft wohl nicht allein in München hören, sondern eventuell auch in Duisburg, Halle oder Posemuckel.
Die Münchner Konzerthaus-Debatte ist auch eine Debatte darüber, ob wir uns in Krisen überhaupt Kultur leisten wollen. „Wir brauchen dieses Wohnzimmer der kreativen Höhenflüge wie die Luft zum Leben“, sagt die Geigerin Anne-Sophie Mutter dem BR. Es sei eine „Katastrophe“ und „ein schlechtes Signal für München als Kulturstadt“, findet der Konzertveranstalter und MünchenMusik-Chef Andreas Schessl. Sänger Christian Gerhaher wünscht sich ebenfalls weiterhin einen neuen Saal. Auch, wenn es jetzt die Isarphilharmonie als provisorischen Konzertsaal gibt, so der Sänger am Dienstag im Gespräch mit BR-KLASSIK: „Aber es kann ja sein, dass sich dieser Saal ganz gut erhalten lässt. Insofern ist die Situation eine andere als vor fünf oder zehn Jahren, als wir darauf gedrängt haben, einen neuen Saal zu bekommen.

ANNAS CHOICE

Mir wurde in den letzten Wochen immer wieder nahegelegt, die Dinge einmal so zu sehen: Anna Netrebko sei in Russland verwurzelt, in ihrem Kopf die Verbindung zwischen Putin und ihrem Heimatgefühl aufzulösen, sei kein intellektueller Prozess, sondern müsse zunächst im Bauch ankommen. Und dafür brauche sie eben Zeit. Und die schien sie sich zu nehmen, postete Barfuß-Bilder vom Dubai-Strand, während Bomben in Kiew fielen. Ich war drauf und dran, zu glauben: „Okay, vielleicht ist es so – und vielleicht braucht sie Zeit, um irgendwann diesen einen, einfachen Satz zu posten: ‚Mr. Putin, stop this war!‘“ Doch dann schien dieses Besinnungs-Ding einigen Leuten doch zu lange zu dauern, und Netrebkos Anwalt, Christian Schertz, verkündete nun, was die Diva sagen sollte, äh, wollte! Ihr Statement, zugespitzt zusammengefasst: Sie verdamme den Krieg, hätte mit Putin nur wenig zu tun gehabt und wolle nun endlich wieder auftreten. Außerdem hätten wir sie einfach missverstanden (ob das auch für die eigentlich unmissverständlichen Worte galt, in denen sie ihre Kritiker „human shit“ nannte und Europäern die Kritik an ihrer Kritikunfähigkeit in ausfallendem Ton vorwarf?).
So richtig ging die Rechnung auf jeden Fall nicht auf: Zwar wurde Netrebko nun auch im russischen Nowosibirsk ausgeladen und von der „Prawda“ kritisiert, aber von einer breitflächigen Zustimmung im Westen kann eben auch nicht die Rede sein. Kollege Norman Lebrecht kramte Netrebkos alte Wahlunterstützung für Putin hervor, um ihre Behauptung, unpolitisch zu sein, zu entkräften, und wieder tauchten überall die Bilder auf, die sie mit der Separatisten-Flagge zeigen. Die New York Times zitierte MET-Intendant Peter Gelb, der erklärte, dass man die Zusammenarbeit mit ihr auch weiterhin auf Eis legen wolle, Hamburgs Kultursenator, Carsten Brosda erklärte im WDR, dass er gegen ein Konzert von Netrebko in der Elbphilharmonie sei, und auch an der Staatsoper in Berlin wolle man sich erst einmal persönlich mit Netrebko unterhalten. Es ist eben nicht so leicht mit Erkenntnis und Reue – vielleicht hätte eine weitere Woche Urlaub der Netrebko gut getan. Aber der Druck jener, die davon leben, dass sie auf der Bühne steht, hat am Ende wohl zu diesem eher merkwürdigen und irgendwie befremdlich unpersönlichen Schnellschuss geführt.  

WHITEWASHING IM WIENER KONZERTHAUS

Todor Currentzis im Aufnahmestudio mit musicAeterna
Weitaus kaltschnäuziger und verwegener findet derweil die öffentliche Ablenkung von Teodor Currentzis Russland-Verstrickungen in Österreich statt. Man muss schon allerhand Chuzpe haben, wenn man ausgerechnet das „Rote Kreuz“ und den „Roten Halbmond“ ins Boot holt, um ein Benefiz-Konzert für die Ukraine mit dem Dirigenten und seinem Ensemble musicAeterna auszurichten. Zur Erinnerung: Selbst der SWR (der derzeit lustig mit Currentzis durch Europa tourt) hatte Bedenken angemeldet, was die Finanzierung von musicAeterna durch die russische VTB Bank betrifft (ihr Vorsitzender wird von Wladimir Putin per Dekret ernannt), und auch Salzburg-Chef Markus Hinterhäuser hatte seine Skepsis ausgedrückt und um Aufklärung gebeten. Schon im SWR-Statement zog Currentzis es vor zu schweigen, den offenen Brief, den der russische Dirigent Wladimir Jurowski initiiert hatte, um den Angriff Russlands auf die Ukraine zu verurteilen, hat Currentzis – im Gegensatz zu Simon Rattle und Franz Welser-Möst – auch nicht unterschrieben, wie der Standard feststellt.
Was also reitet Konzerthaus-Intendant Matthias Naske zu diesem wirklich absurden Benefiz-Reinwaschungs-Konzert (das er klugerweise am Freitagmittag lancierte, um die Wochenend-Müdigkeit der Öffentlichkeit zu nutzen, so wie es zuvor auch der SWR tat)? Naske selber hatte im „Standard“ noch erklärt, von Seiten des Klangkörpers würde ein Zeichen der Positionierung helfen, eine Geste: „Ich hoffe, dass sie kommt.“ Ist diese Geste nun etwa das Schweigen und das gleichzeitige Spielen in zwei Systemen? Ist es in diesen Tagen möglich, sowohl von russischem Geld als auch von deutschen Fernsehgebühren und österreichischen Subventionen zu profitieren, ohne eine Haltung zu bekunden? Bei Twitter kommentierte jemand zu Recht, Currentzis bei einem Benefiz-Konzert für die Ukraine sei, „wie Lawrow als Hauptredner zu einer Ukraine Friedenskundgebung zu schicken“. Meine Anfrage beim Konzerthaus, in der ich den Intendanten um Stellungnahme bat, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet, und auch Antworten vom Roten Kreuz, das hier offensichtlich als Whitewashing-Organisation dienen soll, stehen noch aus. Ich nehme das so ernst, weil Dresden, Linz, Salzburg und Panama zeigen, dass Putin Klassik, Wirtschaft und Politik als Einheit denkt – seien wir nicht naiv!

DEBATTE: ZUKUNFT DER KLASSIK

Kann man mit Klassik eigentlich noch Geld verdienen? Ja, sagt Peter Schwenkow, Chef des Veranstalters DEAG (u.a. Waldbühne-Konzerte) und verweist, wie auch Eventim, auf erneut wachsende Geschäftszahlen. Peter Schwenkow und ich pflegen seit Jahren unsere unterschiedlichen Perspektiven auf den Klassik-Betrieb – und kämpfen sie auch gern aus. Umso spannender fand ich es, ihn (der auch die anstehenden Anna-Netrebko-Konzerte veranstalten will) für meinen Podcast zu befragen (hier auf allen gängigen Portalen nachzuhören): Wie kann man in Zeiten von Corona und Krieg mit der Klassik Kohle machen? In einer Zeit, da München seinen Kulturhaushalt zusammenschrumpft und aus Berlin die Meldungen kommen, dass auch im zweiten Jahr der Corona-Pandemie ein deutlicher Rückgang bei den Eintrittskarten verzeichnet wird. Die Berliner Theater, Orchester und Tanzgruppen zählten 2021 nur rund eine Million zahlende BesucherInnen, 2019 waren es noch 3,3 Millionen. Aber Peter Schwenkow bleibt optimistisch.

PERSONALIEN DER WOCHE

Mikhail Agrest bleibt nach einer Gerichtsentscheidung vorerst Musikdirektor des Stuttgarter Balletts. Das Bezirks-Bühnenschiedsgericht in Frankfurt erklärte am Mittwoch auf Anfrage zu einer Entscheidung vom Montag, dass das Arbeitsverhältnis des Musikdirektors nicht durch die ausgesprochene außerordentliche Kündigung aufgelöst worden sei. Die Kündigung im Oktober 2021 wurde damit begründet, dass Agrest nicht die Interessen der Tänzerinnen und Tänzer im Auge habe. +++ 55 Jahre wurde an der Kritischen Ausgabe der Werke von Hugo von Hofmannsthal gearbeitet – nun liegen 40 Bände in 42 (!) Teilbänden vor. Die Frankfurter Rundschau spricht in einem interessanten Interview mit zwei der AutorInnen. Konrad Heumann und Katja Kaluga über traumartiges Schreiben, fließende Identitäten und die fortwährende Veränderlichkeit eines Textes. +++ Nach Medienberichten hat die Agentur von Jonas Kaufmann einen Großteil ihrer Mitarbeiter entlassen.

UKRAINE-KRIEG UND KLASSIK

Der Regisseur Kirill Serebrennikow
Ich habe gestern kurz mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv telefoniert, sie will in Bologna Tschaikowskis Oper „Iolanta“ aufführen und wird dafür von einigen ihrer Landsleute scharf attackiert (der Disput ist u.a. auf ihrer Facebook-Seite nachzulesen). Lyniv widerstrebt es, KünstlerInnen oder KomponistInnen vom Spielplan zu nehmen, wenn diese nicht in Zusammenhang mit dem System Putin gebracht werden können. Ihr geht es darum, auch die vielen ukrainischen Bezüge Tschaikowskis zu zeigen (u.a. lebte seine Mäzenin Natascha von Meck auch im ukrainischen Brajiliw) und die Deutungshoheit über Leben und Musik des Komponisten nicht den Kulturtreibenden Russlands zu überlassen. Ich persönlich denke: Auch wenn es nicht schwer zu verstehen ist, dass Menschen in der Ukraine in Zeiten des russischen Mordens keine Lust auf Tschaikowski haben, geht es in diesem verdammten Krieg aber auch um die grundlegende Freiheit der Kunst, des Repertoires und seiner Deutung. Es ist ein wichtiger, mutiger und guter Kampf, auch – und gerade – in diesen kriegerischen Zeiten, genau hinzuschauen und zu prüfen, um die Freiheit, die eine Grundlage der Kunst ist, zu bewahren. +++ Vor allen Dingen müssen wir verstehen, dass der Krieg derzeit keine virtuelle Debatte ist, dass er auch mitten in der Welt der Klassik ankommt. Nicht nur, wenn Opernhäuser und andere Kultureinrichtungen bombardiert werden. Tragisch sind die Erfahrungen des Chefdirigenten der Ukrainischen Nationaloper in Lwiw, Ivan Cherednichenko, dessen Eltern diese Woche bei einem Bombenangriff in Irpin starben. +++ Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow ist von Russland über Frankreich nach Berlin ausgereist. Das teilen mehrere Medien mit. Ein Bild von Serebrennikow auf dem Pariser Platz der Bastille mit einem „Ich schalte den Fernseher aus“-T-Shirt wurde am Dienstag in den sozialen Medien gepostet.

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Das ist heute mal wieder besonders schwer zu sagen. Das österreichische Kulturmagazin „Bohema“ hat eine Unterschriftenaktion gestartet, in der prominente UnterzeichnerInnen wie Aleksey Igudesman, Anneleen Lenaerts, Cornelius Obonya, Emmanuel Tjeknavorian, Nikolaus Habjan oder Regula Mühlemann fordern, dass der Musikverein nicht verkaufte Tickets im Last-Minute-Verfahren vergünstigt an Jugendliche abgibt – Musikvereins-Chef Stephan Pauly hat die Forderung immerhin persönlich entgegengenommen. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Und, einfach um am Ende noch einen draufzusetzen, ich zeige Ihnen nun eines der erfolgreichsten Klassik-Videos, das inzwischen fast eine Million Aufrufe hat – „Flowing Stretch“ soll Sie entspannen – also: Mich regt es herrlich auf! Wenn das die Zukunft der Klassik ist, dann bin auch ich am Ende!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@portmedia.de

Fotos: Cukrowicz Nachbaur Architekten, Anton Zavyalov / Sony

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