KlassikWoche_RGB_2020-09

Lasst das Publikum entscheiden?

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute geht es um das selbstbestimmte Publikum, um die Absagen zu Daniel Barenboims 80. Geburtstag, um das schlechte Gewissen von Orchestern und vor allen Dingen um den Studienbeginn: Wie begegnen unsere Musikhochschulen dem dringenden Wandel? Ein erstes langes Gespräch mit der neuen Direktorin der Musikhochschule in München, Lydia Grün.

Entscheide doch selber, Publikum!

Die Lage der Theater ist schwer: Publikumsschwund und Akzeptanzprobleme. Einige Häuser setzen inzwischen darauf, das Publikum selber in die Verantwortung zu nehmen. Ein Beispiel ist die Oper am Rhein in Düsseldorf: Sie will das Publikum über den Neubau entscheiden lassen, sowohl über Standort als auch über die Ausgestaltung. Zunächst wurden 30 VertreterInnen aus der Stadtgesellschaft zur Debatte geladen. Neben einer programmatischen Öffnung der Oper soll insbesondere auch der mögliche kulturelle Nutzen des Gebäudes über den Opernbetrieb hinaus untersucht werden. Oberbürgermeister Stephan Keller sagt: „Mit der Workshop-Reihe setzen wir die breite und integrative Öffentlichkeitsbeteiligung fort und stellen sicher, dass die neue Oper im wahrsten Sinne des Wortes eine Oper für alle wird."
Und dann ist da noch die Aktion „Zahl, so viel Du willst!“, die sich am Theater-9-Euro-Ticket in Hagen orientiert. Für ausgewählte Vorstellungen soll in Düsseldorf bis Ende des Jahres die Regel gelten, dass das Publikum selber entscheiden kann, wie viel es für ein Ticket bezahlt – mindestens soll es aber zehn Euro hinlegen. „Als offene Kulturinstitution, die ein breitgefächertes Publikum aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Einkommensgruppen anspricht, sehen wir uns verpflichtet, auf die besonderen Herausforderungen der momentanen Lage zu reagieren", erklärte Generalintendant Christoph Meyer. Doch auch in Düsseldorf bleibt die Frage, wann das Theater-Dumping beginnt und ob die Häuser nicht eigene Visionen entwickeln müssen, statt die Verantwortung in der Not an ihr Publikum zu übergeben.

Untersuchungen am Basler Theater

Regelmäßige Demütigungen, Beschimpfungen und übermorgen Leistungsdruck: Die Vorwürfe von Schülerinnen der Ballettschule am Theater Basel erzählen von Quälereien und Beschimpfungen im Unterricht. Die Aufsichtsbehörden haben bereits mehrere Gespräche mit der Schulleitung geführt – sie bestreitet die Vorwürfe.
Der Sprecher des Basler Erziehungsdepartements bestätigte allerdings, dass die kantonalen Aufsichtsbehörden von mehreren Schülerinnen mit Missbrauchs-Vorwürfen konfrontiert worden seien. In einzelnen Fällen soll es zu anzüglichem Verhalten von Lehrpersonen gekommen sein. Viele der Frauen hätten während der Ausbildung an der Ballettschule keine Menstruation gehabt. Eine Schülerin habe gar völlig abgemagert ins Spital eingeliefert werden müssen.

Gut versteckt!

Wer Geld dem Idealismus vorzieht, bekommt schnell ein Problem. Das hat letzten Sommer besonders Markus Hinterhäuser bei den Salzburger Festspielen gemerkt: Sein wütendes Festhalten an Teodor Currentzis führte zur absurden Situation, dass ein Großteil der Festspiele zwar auf dem Dirigenten aufgebaut war, die Festspiele gleichzeitig aber weitgehend darauf verzichteten, die Auftritte von Currentzis zu bewerben oder öffentlich abzubilden. Dass Hinterhäuser seinen Superstar gut versteckt hat, war eine Entscheidung, die seiner Intendanten-Position im Nachhinein wohl wenig geholfen hat. Es mag verwundern, dass nun ausgerechnet das VAN Magazin, das sich in Sachen Currentzis seit Kriegsausbruch sehr bedeckt hielt und schließlich großes Verständnis für dessen Russland-Geschäfte aufbrachte, nun ausgerechnet die Wiener Philharmoniker angeht, da sie ebenfalls versuchen, ihre politisch durchaus zwiespältige China-Reise mit Franz Welser-Möst unter dem westlichen Radar zu halten.
Klar, man muss abwägen: Europa positioniert sich derzeit nicht in kriegerischen Konflikten, die China führt, und auch stehen Institutionen, mit denen hier gearbeitet wird, nicht unter europäischem Boykott (anders als im Falle der Ukraine und Russland), aber natürlich wird jede Reise vor Ort in China propagandistisch ausgenutzt. Von Kritik an Chinas politischem und demokratiefeindlichem Kurs ist bei Musik-Gastspielen nur wenig zu hören. Und so ist die Frage natürlich grundsätzlich richtig: Wie gehen Orchester und MusikerInnen mit derartigen Einladungen um? Die Antwort ist eigentlich simpel und gilt sowohl für Russland als auch für China: transparent, offen und argumentativ. Dazu ist es aber auch wichtig, dass die journalistische Begleitung nicht aus persönlichen Beweggründen in einem Fall „hü“ und im anderen „hott“ schreit. Gerade in diesen verrückten Zeiten muss es um eine breite, vielfältige, ehrliche und respektvolle öffentliche Debatte mit allen Beteiligten gehen. Verstecken gilt nicht!      

Personalien der Woche I

Die Dirigentin Keri-Lynn Wilson
Es gab Irritationen rund um die Dirigentin Keri-Lynn Wilson. Die Dirigentin, die oft Opernabende mit Anna Netrebko dirigiert hatte und nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine das Ukrainian Freedom Orchestra gründete, kündigte in einem Interview mit Associated Press an, dass sie es ablehne, eine geplante Aufführung am Teatro Colón in Buenos Aires mit Anna Netrebko zu dirigieren, da diese sich nicht klar genug von Wladimir Putin und dessen Krieg distanziert habe. Netrebkos Management erklärte daraufhin, dass Netrebko bereits am 6. April darum gebeten habe, einen alternativen Dirigenten zu engagieren – auf ihren Vorschlag hin wurde Michelangelo Mazza engagiert. +++ Nachdem die Mezzosopranistin Jamie Barton kritisiert wurde, weil sie ein Foto von sich als Verdis Amneris mit geflochtenen schwarzen Zöpfen am Teatro Real gepostet hatte, erklärte sie nun, dass sie zukünftig auch diese Form der Cultural Appropriation ablehnen werde: „Ich höre zu, ich lerne, ich trete in Aktion. Ich werde nicht mehr mit Make-up auftreten, das meine Race verändern soll“, schrieb sie.
Eigentlich schweigt er lieber, nun aber hat Kirill Petrenko einem Zoom-Interview mit US-Journalisten zugestimmt. Unter anderem ging es um die Erfahrungen der Corona-Zeit: „Es geht nicht nur ums Musikmachen, es geht um das Musizieren vor anderen, darum, mit unserem Wissen Menschen zu verändern, die mit uns in einem Raum sind.“ +++ Und dann noch eine Personalie, die mir besonders nahe steht:-) … Die persönlichen Anfeindungen gegen Musikjournalist Axel Brüggemann gingen auch diese Woche weiter: Nachdem Ex-Staatsopern-Chef, „Die Krim ist russisch“-Bekenner und Servus-TV-Mann Ioan Holender Brüggemanns Berichterstattung gegen Teodor Currentzis als persönlich motiviert entlarven wollte und der News-Opi mit salbadernder Untergriffigkeit versucht hatte, Brüggemann zu diskreditieren, hat nun auch das rechte Online-Magazin Achse des Guten mit viel „Gemunkel“ und allerhand persönlichem Frust in die Tasten gegriffen (auf einen Link verzichten wir) und dem unwichtigen Blogger viel zu viel Klassik-Macht zugesprochen. Brüggemann wird das verkraften. Viel bezeichnender als der Inhalt des Textes ist, welchen publizistischen Rückhalt Markus Hinterhäuser und jene Konzertveranstalter, die eine offene Debatte über Currentzis noch immer verhindern wollen, inzwischen noch haben: Mateschitz-TV, NEWS-Boulevard und die rechte Achse. Wollt ihr das wirklich? Oder können wir endlich einfach mal die Fakten diskutieren? Mir ist es inzwischen gelungen, intensiv mit Axel Brüggemann ins Gespräch zu kommen. Sein Kommentar zur aktuellen Causa: „Nie war es beruhigender, ein Mensch der Mainstream-Medien zu sein als in diesem Fall.“

Zwei Maestri und zwei Tenöre

Der 80. Geburtstag von Daniel Barenboim im November war groß geplant, doch nun müssen die Feierlichkeiten auf Grund des Gesundheitszustandes von Barenboim verschoben werden: Die Staatskapelle Berlin hat Konzerte in Berlin und München absagen müssen, die Barenboim gemeinsam mit seinem Freund Zubin Mehta geben wollte. Guter Dinge sind dagegen Plácido Domingo und José Carreras, die angekündigt haben, 2023 noch einmal gemeinsam aufzutreten. Ihr Konzert in Tokyo soll das 20. Jubiläum des letzten Drei-Tenöre-Konzertes markieren und Luciano Pavarotti gewidmet sein.

Personalien der Woche II

Angelina Jolie wird Maria Callas spielen. Regisseur Pablo Larraín hat bereits Jackie mit Natalie Portman gedreht und Spencer mit Kristen Stewart. Derzeit setzt er Angelina Jolie als Maria Callas in Szene: Der Film dreht sich um die letzten Jahre der Opern-Diva im Jahre 1977 in Paris. +++ Opern-Star Grace Bumbry erlitt einen Schlaganfall, der Arzt in Queens, New York, erklärte in einem Statement, das die Familie der Sängerin veröffentlichte: „Betroffen sind Gehirnareale, die Verständnis und Sprache beeinflussen. Es gibt Hoffnung auf Erholung, aber auf Grund des Alters der Patientin können keine Angaben über den Fortschritt gemacht werden.“

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja an unseren Hochschulen. Der Klassik-Markt befindet sich im Umbruch: Weniger freie Stellen, das Publikum orientiert sich neu. Aber wie reagieren Musikhochschulen und -universitäten auf den Wandel? Pünktlich zum Semesterbeginn dreht sich in meinem Podcast „Alles klar, Klassik?“ (oben als YouTube-Link, hier zum kostenlosen Nachhören für alle anderen Podcast-Anbieter) alles um die Situation an unseren Bildungseinrichtungen. Was tun gegen Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe – und vor allen Dingen: Wie sieht ein modernes Studium aus? Bilden unsere Hochschulen noch Menschen aus, die an unseren Theatern und in unseren Orchestern gebraucht werden? In ihrem ersten großen Interview als neue Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater in München erklärt Lydia Grün, welche Schwerpunkte sie setzt und warum ihre Hochschule den Wandel vordenken will. Stefanie-Beatrice Beer, Vorsitzende der Studierenden-Vertretung der MUK in Wien plädiert für mehr Praxisbezogenheit im Studium, und der Dirigent Tim Fluch stellt die Hauptforderungen eines Brandbriefes der Studierenden vor. Außerdem erklärt Thomas Quastoff, warum es wichtig ist, als Dozent schonungslos ehrlich mit den Studierenden zu sein.

Ach so: Happy Halloween allerseits! Auf der Facebook-Seite der US-Journalistin Catherine Kustanczy (sie hat mich neulich über meine Arbeit interviewt) habe ich ein passendes Kostüm für alle Klassik-Fans gefunden: Warum nicht mal als Stimmbänder gehen? Hier das Original-Kostüm:
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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