KlassikWoche_RGB_2020-09

Wer steckt hinter Utopia?

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute lade ich Sie ein, etwas länger zu lesen, besonders was die neuen Recherchen zum Currentzis-Orchester Utopia betrifft – geniales Marketing oder Mogelpackung? Außerdem nehmen wir Anna Netrebko vor unserem Freund Kai-Uwe in Schutz und thematisieren eines der wichtigsten Themen überhaupt: die katastrophale musikalische Bildung in Deutschland.

Wie Kai-Uwe Anna zum Skandal macht

Anna Netrebko als Tosca
Wer diesen Newsletter aufmerksam liest, wird festgestellt haben, dass wir Anna Netrebkos Positionierung gegenüber Russland und Putin intensiv begleitet und durch unsere Recherchen auch zur Debatte gestellt haben. Als sie sich halbherzig (zuletzt in der Zeit) vom Krieg distanzierte, haben wir das zwar als Eiertanz eingeordnet, aber die Causa weitgehend ruhen lassen. Denn Anna Netrebkos Naivität ist kaum geeignet, um an ihr eine politische Debatte aufzuziehen. Umso absurder ist es, dass ausgerechnet unser Freund und Wiesbaden-Intendant Kai-Uwe Laufenberg es nun geschafft hat, Netrebko doch wieder als Skandalon zu installieren. Dass sie an seinem Haus auftreten soll: geschenkt! (Das ist sie auch in Wien, Mailand und Posemuckel.) Aber Laufenberg verkaufte ihren Auftritt bei den Maifestspielen als politischen Akt, da die Festspiele „allen politischen Gefangenen in dieser Welt gewidmet“ sind.
Netrebko als Kämpferin für Freiheit war nun auch den politisch Verantwortlichen in Hessen zu viel: Der Chef der hessischen Staatskanzlei, Axel Wintermeyer (CDU), kündigte an, dass Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) seine Schirmherrschaft bei den Maifestspielen ruhen lassen werde. Außerdem werde man den Vorempfang absagen. Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende und Kulturdezernent Axel Imholz (beide SPD) bedauerten, dass man „in dieser sensiblen Frage kein Einvernehmen mit dem Intendanten“ habe erzielen können. Auch die ukrainischen KünstlerInnen weigern sich inzwischen, mit Netrebko aufzutreten. Tja: Kai-Uwe schafft es selbst als Intendant auf Abruf noch, ein Opernhaus in Schutt und Asche zu legen (ganz zu schweigen von der Antisemitismus-Debatte am Haus, in der der bulgarisch-jüdische Musiker Ilia Jossifov nun gekündigt hat – er wirft Geschäftsführer Holger von Berg Mobbing vor). Und, ja, es ist inzwischen ein wenig anstrengend, wie Kai-Uwe all das nutzt, um seinen einstigen Corona-Wahn nun auch noch als Freiheitskampf zu stilisieren. Da steigen nun selbst seine einstigen Sympathisanten aus. Auch in Russland debattiert man die Causa Netrebko inzwischen neu und verteufelt die Sängerin. Ich persönlich bin da ganz bei Dominic Konrad vom SWR – Netrebko hat sich all das auch ein bisschen durch ihre Haltungslosigkeit selber zu verdanken. Gerade in diesen Zeiten kann Haltung nicht schaden, aber: Es gibt auch wichtigere Themen!

Wer steckt hinter Utopia?

Teodor Currentzis
Die Aufregung über Anna Netrebko ist, wie einem Verkehrsunfall zuzuschauen. Doch wo bleibt die Aufregung über jene, die bewusst und vollkommen ohne Widerrede im Dienste von Wladimir Putin stehen? Teodor Currentzis nimmt bis heute kommentarlos Geld von der VTB Bank, arbeitet im Dienste von Gazprom und hat sich als Chef des Orchesters musicAeterna bislang nicht von den Ausfällen seiner Musikerinnen und Musiker distanziert (und natürlich auch nicht vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine). Currentzis scheint weder ein Problem mit den Kampfliedern seiner Ensemble-Mitglieder für die russische Front zu haben, noch mit deren Verbal-Angriffen auf europäische Journalisten, die sie als „Faschisten“ bezeichnen. MusikerInnen, die in Baden-Baden und Dortmund kurzfristig und medienwirksam (und wohl auf Druck der Intendanten) „suspendiert“ wurden, stehen noch immer auf der Website des Orchesters und spielen in Russland weiter. Currentzis ist als Chef für all das verantwortlich. Doch er schweigt und tanzt weiter auf den Hochzeiten in Russland und Europa.
Immerhin verzichten westliche Veranstalter (von Baden-Baden bis Salzburg) inzwischen auf das Engagement von musicAeterna, doch stattdessen programmieren sie Currentzis’ neues Orchester: Utopia! Nach eigenen Angaben zu 50 Prozent von der Dietrich Mateschitz Privatstiftung finanziert (also indirekt von Red Bull, bei dessen Sender Servus-TV nicht nur sehr rechte Talkshows laufen, sondern Ioan Holender immer wieder seine Russland-Liebe bekunden durfte), zur andere Hälfte von nicht benannten „Mäzenen“. Es ist schwer, die genauen Strukturen des Orchesters zu recherchieren. Derzeit sieht alles so aus, als würde aus dem „Raider“-Orchester musicAeterna das „Twix“-Orchester Utopia werden. Viele der handelnden Personen sind die gleichen geblieben. Ein Großteil der Utopia-Geschäfte wird offensichtlich von der „Euphonia gGmbH“ abgewickelt. Sie wird geleitet von Ilja Chakhov, der auch „Chief Executive Officer and Artistic Planning Director“ von musicAeterna ist und zu den engsten Currentzis-Vertrauten gehört. Auf mehrfache Anfrage nach seiner Rolle und der konkreten Unternehmensstruktur von Utopia hat er mir bislang nicht geantwortet.

Die Geschäftsadresse der „Euphonia gGmbH“ ist die gleiche Adresse wie jene von „Andreas Richter Cultural Consulting“ in Berlin. Richter hat die großen Europa-Tourneen für musicAeterna ausgerichtet, angeblich bis Februar 2022, alle weiteren Auftritte seien nur noch „abgewickelt“ worden, sagt er. Auf seiner Webseite ist von all dem nichts zu lesen (weil dort angeblich nur Ensembles annonciert werden, „die wir aktiv anbieten“). Inzwischen wurde „Andreas Richter Cultural Consulting“ von der „Euphonia gGmbH“ (die, wie gesagt, im gleichen Haus wie er residiert) mit der Vertretung von Utopia beauftragt und organisierte die Konzerte im Oktober 2022. Auf weitere Nachfragen antwortete Richter im Currentzis-Style: „Ich schätze die Pressefreiheit sehr und bin froh, in einem Land zu leben, in dem sie geachtet und respektiert wird. Diese Freiheit impliziert aber auch, nicht a priori auf jede Frage zu antworten. In Ihrem Fall nehme ich gerne davon Gebrauch.“

Ob das langfristig reichen wird? Es werden wohl noch viele Frage gestellt werden über die magische Verwandlung von musicAeterna zu Utopia – besonders, was die andere Hälfte der Geldgeber betrifft! Aber auch, was das Personal betrifft. An einigen Pulten saßen bislang durchaus problematische, russische musicAeterna-Mitglieder, die 2014 die Annexion der Krim oder den Abschuss des Fluges MH17 im Donbas verharmlost haben. Problematisch wird es wohl auch beim neu zu gründenden Utopia-Chor, der laut Salzburger Festspiele vorgesehen ist. Sind auch Namen wie musicAeterna-Chorleiter Vitaly Polonsky und Evgeny Vorobyov im Gespräch? Doch es gibt auch Abkehrbewegungen. Nicht nur der Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort, will Currentzis nicht mehr engagieren. Die Berliner Philharmoniker ließen wissen (nachdem Hornistin Sarah Willis mit Utopia aufgetreten war), dass man den MusikerInnen in der derzeitigen Lage nicht unbedingt raten würde, bei diesem Orchester mitzuspielen. Und auch die Agentur forartists von Maren Borchers (sie vertritt auch Igor Levit und hatte den Jubel-Pressetext für Utopia zu verantworten) erklärt nun: „Ich bin für die Pressearbeit des Orchesters seit Dezember nicht mehr verantwortlich.“ Es scheint langsam vielen klar zu werden, dass Utopia zum großen Teil musicAeterna in anderer Verpackung ist. Nur Sabrina Haane vom SWR Symphonieorchester scheint all das nicht zu stören – sie macht derzeit eine so selbstbewusst strotzende Figur wie der Intendant der Münchner Philharmoniker, Paul Müller, als er noch mit allen Mitteln an Valery Gergiev als Chefdirigenten festgehalten hatte. All das habe ich als ausführlichen Thread auf meinem Twitter-Account noch einmal zusammengefasst. Wir bleiben dran – versprochen.

Dringende Warnung vor dem Theater!

Das Theater Dortmund nimmt es ganz genau und warnt sein Publikum ab sofort, bevor die Aufführung beginnt im Internet mit eigenen Warnhinweisen.
Warnhinweise liegen derzeit vor für: 1. Die Zauberflöte (Sexismus und Stroboskoplicht), 2. Cabaret („in der Szene vor der Pause werden Hakenkreuze und NS-Uniformen gezeigt sowie offenes Feuer von getragenen Fackeln“) und 3. La Juive („Zu Beginn des Stückes steigt im hinteren Bühnenabschnitt kurz Nebel auf.“) Ja, die Oper ist gefährlich: Mord und Totschlag jeden Abend, Inzest, Geschichts-Bewältigung und - ACHTUNG, liebe Leute - es wird an allen Abenden gesungen statt gesprochen!

Auf unseren Bühnen

Manuela Leonhartsberger
Vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle über das Regietheater debattiert. Schon damals haben mir einige geschrieben, dass Altmeister Peter Konwitschny in Linz mit Verdis Macht des Schicksals zeigen wird, wie frisch das gute alte Regietheater sein kann. Leider habe ich die Aufführung (noch) nicht gesehen – aber Reinhard Kager hat in der FAZ ebenfalls geschwärmt: „Die Wurzel des Übels ist das autoritäre, patriarchalische Gefüge: Peter Konwitschny streicht Verdis Macht des Schicksals auf das Nötigste zusammen. Das Ergebnis ist ein beklemmender Theaterabend in Linz.“ Auch Der Standard ist begeistert.
Ich selber war gestern in Bremen in Ariadne auf Naxos (mit Dirigent Stefan Klingele und Regisseur Frank Hilbrich), ausnahmsweise vollkommen privat, deshalb nur diese kleine Bremen-Experience: Nach zehn Minuten kommt eine Frau zu spät an ihren Platz (zwei Reihen vor mir), in Parka, mit Kapuze auf dem Kopf. Sie schmeißt sich auf ihren Sitz, wankt wie in Trance von rechts nach links und von links nach rechts, dann beginnt es in unseren Reihen langsam nach Hanf-Plantage zu riechen. Aber, hey: Wahrscheinlich hatte sie mehr Spaß als wir bei dieser Aufführung, die mich ganz nebenbei das Wort „Belanglosigkeitstheater“ erfinden ließ.

Personalien der Woche

Thomas Guggeis
Milo Rau wird Leiter der Wiener Festwochen. Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler sagt: „Als politisch denkender Künstler arbeitet Milo Rau in verschiedenen Bereichen von Theater über Oper bis Film und ist international bestens vernetzt. Somit steht nun wieder eine strahlende Künstlerpersönlichkeit an der Spitze der Wiener Festwochen.“ +++ Nach dem Verzicht von Daniel Barenboim auf den Posten des Generalmusikdirektors der Berliner Staatsoper sind dort Dirigate für die ursprünglich mit dem 80-Jährigen geplanten Opern neu besetzt worden. Der noch immer gesundheitlich angeschlagene Barenboim ist nach Angaben der Oper nur für zwei Konzerte am 26. und 27. Februar mit Werken von Hector Berlioz vorgesehen. Bei Georges Bizets Carmen übernimmt Bertrand de Billy die Leitung. Samson et Dalila wird Thomas Guggeis dirigieren. +++ Die Generalsanierung Münchner Gasteig verzögert sich weiter, die Stadt findet offenbar keinen Investor. Das geht aus einer nicht-öffentlichen Vorlage hervor, die am 1. Februar in der Vollversammlung besprochen wird, wie der Münchner Merkur berichtet. +++ Meinen lustigsten Tweet habe ich diese Woche einem Foto von Eric Dietenmeier zu verdanken. Es zeigt die Bayerische Staatsoper auf der Suche nach jungem Publikum unter 0,8 Dioptrien.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Sicherlich nicht beim Musikunterricht in Deutschland – denn der fällt an unseren Grundschulen zur Hälfte aus. Aber immerhin: Wir reden drüber und schaffen ein Bewusstsein. Ich bewerbe meinen Podcast „Alles klar, Klassik?“ oft an dieser Stelle – aber selten war mir ein Thema so wichtig wie dieses. Zumal meine Gäste wichtige Thesen aufstellen: Andreas Lehmann-Wermser, der an der ersten großen Bertelsmann-Studie von 2020 mitgearbeitet hat, sieht schwarz: „Damals haben wir gedacht, dass sich die Situation an den Schulen ab 2028 wieder verbessern könnte. Diese Entwicklung sehe ich derzeit nicht – es sieht dunkel aus!“ (direkt zum Gespräch) Auch der Geiger Daniel Hope warnt: „Ich begeistere mich für Jugendprojekte, und mein Zürcher Kammerorchester ist ein Vorreiter – aber wir dürfen von der Politik nicht alleingelassen werden. Die PolitikerInnen dürfen sich nicht aus der schulischen Verantwortung schleichen und alles den Orchestern überlassen.“ (Direkt zum Gespräch) Die Landtagspräsidentin in Brandenburg und SPD-Bildungspolitikerin Ulrike Liedtke stellt fest, dass das größte Problem der Mangel an LehrerInnen ist. Man habe die Ausbildungszahlen verdoppelt, aber die hohen Anforderungen schrecken viele ab, auf Lehramt zu studieren. „Ich könnte mir vorstellen, dass wir die Eingangsvoraussetzungen verschieben – mehr von der Theorie zur Praxis.“ (Direkt zum Gespräch) Außerdem erklärt Mustafa Akça von der Komischen Oper in Berlin über seine Begegnungen mit Menschen in den Randbezirken von Berlin. Ich würde mich freuen, wenn Sie mal reinhören (bei apple oder Spotify) – und darüber sprechen.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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