Jutta Adler leitet die Berliner Konzert-Direktion Hans Adler und spricht über Veränderungen im Klassikbetrieb.

Jutta Adler ist Chefin der traditionsreichen Berliner Konzert-Direktion Hans Adler. Seit der Gründung 1918 gehört die Privatagentur zum Berliner Musikleben, sie vertritt namhafte Künstler und veranstaltet Konzerte. In den kommenden Wochen sind große Konzerte mit Khatia Buniatishvili (1. und 20. März), Rudolf Buchbinder und dem Budapest Festival Orchestra, Daniel Barenboim (22. März) oder Hilary Hahn (26. April) angekündigt.

Frau Adler, hat sich nach dem Neustart im Konzertbereich etwas im Verhältnis von Künstlern und Veranstaltern verändert?

Jutta Adler Nein. Wir freuen uns, wenn die Künstler nach Berlin kommen. Wir haben uns teilweise ewig nicht gesehen. Es ist ein Konzertbetrieb wie immer. Aber das Publikum hat sich verändert. Es kauft - vermutlich bedingt durch die Inflation – gezielter und anders. Es fehlt die Mitte des Publikums, der Saal wird von vorn oder von hinten verkauft, das heißt zuerst werden die teuren oder die billigen Karten erworben. Das ist offenbar überall in Deutschland so – auch dass das Publikum erst langsam wieder zurück in den Konzertsaal kommt.

Wie laufen die Geschäfte?

Total unterschiedlich. Wir haben entweder fast ausverkaufte Konzerte oder fast leere. Es hat uns total überrascht, dass sich ein Konzert mit David Garrett, dass am 3. Mai stattfinden wird und welches wir bisher nur auf unserer Website veröffentlicht haben, sich praktisch allein über den Webshop verkauft hat. Das Publikum ist durch die Pandemie onlineorientierter geworden. Wenn wir unsere Broschüren verschicken, antworten uns mittlerweile Kunden, dass sie kein Papier mehr wollen. Sie würden sich online orientieren. Die Newsletter-Leser werden immer mehr.

Volle oder leere Säle. Haben Sie herausgefunden, warum das so ist?

Bei Igor Pogorelich hatten wir am Mittwoch knapp 1800 Besucher in der Philharmonie. Eine Besucherzahl, die bei dem Künstler relativ stabil ist. Das eher unbekannte Klavierduo Lucas und Arthur Jussen hatte sich Ende Januar in Berlin vorgestellt, das Konzert war unerwartet ausverkauft. Ich glaube, dass im Moment jüngere Künstler ein jüngeres Publikum anziehen. Das bedeutet für uns, dass wir mit unserer Werbung stärker online vertreten sein müssen. Bei Kammermusik Konzerten kämpfen wir ums Publikum. Bei Orchesterkonzerten kommt es stark auf den Solisten an.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey verleiht im September 2022 die Ernst-Reuter-Plakette an Jutta und Witiko Adler für ihre Verdienste um die Berliner Musikszene.
Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey verleiht im September 2022 die Ernst-Reuter-Plakette an Jutta und Witiko Adler für ihre Verdienste um die Berliner Musikszene. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Was lassen sich denn gerade im internationalen Musikbetrieb für Beobachtungen machen?

Es gibt nirgendwo mehr Begrenzungen. Deutschland hat als letztes Land die Corona-Beschränkungen vollständig aufgehoben. In Spanien sind die Konzerte bereits voller, Frankreich läuft gut, Großbritannien soll ganz schlecht laufen. Wir sind alle im Moment in einer Art Findungsphase und stellen uns die Frage: Wie wir unser Publikum, speziell das ältere, wieder zurückholen? Teilweise traut man sich immer noch nicht in die U-Bahn oder S-Bahn und hat vielleicht auch durch die Pandemie festgestellt, dass sich Musik mit einer CD und einem Glas Wein Zuhause auf der Couch auch genießen lässt. Obwohl wir wissen, dass selbst eine Live-Übertragung keine richtige Aufführung im Saal ersetzen kann.

In der Pandemie war der Konzertbetrieb auch eine heikle Sache, was den Datenschutz betrifft.

Das stimmt. Wir mussten personifizierte Konzertkarten ausstellen und von allen Besuchern die Adressen einsammeln, was wir unter normalen Umständen gar nicht gemacht hätten. Es ging um die Rückverfolgung im Falle von Infektionen. Wir mussten unser Publikum fragen, mit wem sie ins Konzert gehen? Das geht normalerweise niemanden etwas an.

Das Marketing kann heutzutage digital ziemlich übergriffig sein. Gilt denn jetzt wieder der Datenschutz?

Bei uns auf jeden Fall. Wir haben auch wirklich die Daten damals wieder vernichtet. Man kann allerdings gar nicht glauben, wie viele Besucher in der Philharmonie laut eigener Auskunft Karajan, Bernstein oder Max und Moritz hießen.

Alle sprechen darüber, dass wir uns in einer Übergangsphase vom traditionellen Abo-Konzert in irgendetwas Neues befinden. Was wird das sein?

Vor 20 Jahren bin ich fast einmal gesteinigt worden, da ich in unserem Verband die These vertreten habe, dass das Abo-Konzert irgendwann ein Auslaufmodell wird. Unsere Zeit ist schnelllebig, und viele Besucher wollen und können sich nicht auf lange Zeit festlegen. Früher gab es feste Termine über die Saison, ein Tausch war nicht möglich. Heute ist Termintausch üblich. Man muss als Veranstalter flexibler sein. Selbst die Philharmoniker bieten inzwischen Abos zum selbst zusammenstellen an.

In der Pandemie wurde überall darüber geredet, dass man über neue Konzertformate nachdenken werde?

Das hat bei uns angefangen mit dem britische A-cappella-Oktett „Voces8“, die Werke von Palestrina bis zu den Beatles darbieten. Außerdem haben wir unsere Abonnementreihen erweitert unter anderem mit Gesprächskonzerten in dem zum Beispiel Briefe der Komponisten verlesen werden. Das klassische Modell mit Ouvertüre, Solokonzert, Sinfonie wird immer mehr aufgeweicht.

In der Pandemie sind die Künstler weiter gegangen. Cameron Carpenter hat seine Orgel vor Altenheimen gespielt. Orchester haben ihre Konzerte aufwendig visualisiert. Igor Levit hat Twitter-Konzerte gegeben und sich in politische Dinge eingemischt. Was ist davon geblieben?

Igor Levit ist ähnlich wie Daniel Hope mit seinen Ideen in Erinnerung geblieben. Aber vieles andere ist auch vergessen worden. Genau genommen haben viele das Jahr 2021 verdrängt, weil einfach nichts los war. Wir haben mit unseren Konzerten im März 2020 aufhören müssen und erst Ende 2021 wieder angefangen.

Sie sagten einmal, dass Sie ein Berufsverbot hatten?

Das hatten wir auch. Berlin war eine der ersten Städte, die ihre Kultureinrichtungen geschlossen hatte. Es kam überhastet. Die Künstler standen auf der Straße. Was folgte, glich einem Berufsverbot für die gesamte Kultur- und Kreativbranche mit ihren rund 1,25 Millionen Beschäftigten, wobei hier weitere Dienstleister wie Hotels oder Techniker noch nicht einmal erfasst sind. Diese Branche erwirtschaftet, nebenbei bemerkt, jährlich einen Umsatz von über 160 Milliarden und gehört damit zu den umsatzstärksten des Landes. Wir mussten zum 1. April 2020 für alle Mitarbeiter Kurzarbeitergeld anmelden. Nur einer war immer im Büro.

Laut einer internen Umfrage Ihres Bundesverbandes für Musikveranstalter im Juli 2022 gibt es rund 8,18 Millionen Klassikliebhaber in der deutschsprachigen Bevölkerung. Das sind mehr als man denkt?

Wir waren alle erstaunt. Aber ich sage immer, schon vor 50 Jahren hieß es, die Klassik sei überaltert und werde irgendwann aussterben. Unser Klassikpublikum beginnt als Schüler und Student bis etwa Ende 20. Dann beginnt das Berufsleben, es wird geheiratet und die Kinder geboren. Viele bauen ihr eigenen Haus. Es wird zu teuer, ins Konzert zu gehen. Man braucht neben den Konzertkarten auch einen Babysitter. In der Regel kommt das Publikum jenseits der 50 dann wieder zurück – und gilt als „alt“. Die mittlere Generation fehlt in der Klassik eigentlich immer.