KlassikWoche_RGB_2020-09

Rattles Rückkehr, Grütters’ Schlaf und Leipzigs neuer Katholik

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

Menschenmassen beim Media Markt, improvisierte Glühweinstände und geschlossene Theater. Manchen Orchestern gelingt es trotzdem, besinnlich zu werden, und das ist auch gut so: Musik als Medizin in diesen Tagen. Außerdem: Sir Simon Rattle steht offenbar vor der Rückkehr nach Deutschland, Leipzig bekommt einen neuen Thomaskantor und Bayreuth über 80 Millionen Euro...
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SIMON RATTLE ZUM BR?

Sir Simon Rattle könnte neuer Chefdirigent des BR-Symphonieorchesters werden.
Wenn Markus Thiel vom Merkur etwas schreibt, ist das auf jeden Fall: seriös! Und Thiel schreibt, dass der Vertrag zwischen dem BR-Symphonieorchester und Simon Rattle angeblich so gut wie unter Dach und Fach sei (das Orchester wäre über Verhandlungen bereits informiert). Ziemlich schnell kristallisierte sich Rattle auch an dieser Stelle als Favorit des Orchesters heraus (neben Franz Welser-Möst).
Die Gefahr allerdings ist, dass das Orchester mit dem Ex-Chef der Berliner Philharmoniker irgendwie ein bisschen zurück geht statt in die Zukunft – besonders charismatisch, musikalisch spannend oder aufregend ist diese Personalie auf jeden Fall nicht. Vielleicht bringt Thiel auch deshalb schon Yannick Nézet-Séguin als Nach-Nachfolger ins Spiel.

CORONA-KLASSIK-TICKER I

Das Gewandhausorchester in Leipzig unterwegs zu Altenheimen und Sozialeinrichtungen
Sachsens Theater sollen bis Ende Februar geschlossen bleiben, in Leipzig fallen unter anderem die Neunte zum Jahreswechsel im Gewandhaus und das Weihnachtsoratorium in der Thomaskirche aus. Das Gewandhausorchester wird an den Vor-Advents-Samstagen ab jeweils zehn Uhr in Leipzig und dem Leipziger Umland mit dem Bus vor Altersheime und Sozialeinrichtungen fahren und zehnminütige Konzerte geben. „Bei Erfolg planen wir eine Weiterführung der Aktion im Januar“, verriet Gewandhausdirektor Andreas Schulz mir gestern Morgen bei Klassik Radio.
+++ Auf eine andere Idee sind die Münchner Kammerspiele gekommen – sie sind in Schaufenster der Stadt umgezogen. Man kann beim Flanieren Katharina Bach mit Fensterlyrik erleben, ein Gitarrensolo von Christian Löber oder Shakespeare-Monologe mit Svetlana Belesova.

ANDREAS REIZE NEUER THOMASKANTOR

Der Schweizer Katholik Andreas Reize wird neuer Thomaskantor.
Es ist ein bisschen, als wäre der neue Papst Frau und Protestant. Kollege Claus Fischer vom MDR, vielleicht einer der größten Orgel- und Kirchenmusik-Experten unter uns Journalisten, freute sich bei Facebook jedenfalls ausgelassen: „Er ist Schweizer und Katholik.“ Tatsächlich ging der Kirchenmusiker und Chorchef Andreas Reize eher als Außenseiter in das Rennen um die Position als neuer Thomaskantor. Aber am 16. Dezember wird der Stadtrat die Personalie nun wohl der Auswahlkommission vorschlagen – und so diese Überraschung besiegeln. Aufgrund von Reizes Referenzen und seines Werdegangs könne in Leipzig nun möglicherweise auch ein historisch informiertes Bachorchester entstehen, hofft Klassik-Kritiker Fischer.

CORONA-KLASSIK-TICKER II: LESENSWERT

Drei Artikel haben diese Woche für Aufregung gesorgt. Bernd Feuchtner fasst im Tagesspiegel die katastrophale Situation zusammen und erklärt – sehr lesenswert –, dass von Theatern nun besonderer Mut verlangt wird: „Wenn die Oper im alten Gleis bleibt, geht es ihr wie der Kirche: aus Kultur wird Kultus. Dass das Publikum überrascht werden will, sieht man am Ballett. Dort gibt es das jüngste Publikum und keine Besucherkrise. Nicht obwohl, sondern weil dort der Anteil der Uraufführungen am höchsten ist.
Lesenswert auch die Gedanken von Maria Ossowski beim BR über die Schließungen der Kultureinrichtungen in der Vorweihnachtszeit: „Sie mögen es kitschig nennen oder peinlich-pathetisch: aber die Seele vieler Menschen braucht in der Vorweihnachtszeit Trost. Trost mit Musik, mit Konzerten, mit Theatern, mit Musicals, mit Kunst. Kultur hilft, die seelisch herausforderndste Zeit des Jahres gut zu überstehen.“ Und dann ist da noch – allerdings hinter der Bezahlschranke - ein äußerst lesenswerter Text von Peter Laudenbach in der Süddeutschen, der sagt: „Der Theaterbetrieb kreist in der Krise nur larmoyant um sich selbst. Damit tut er sich keinen Gefallen.

BAYREUTH BEKOMMT 84,7 MILLIONEN

Das Bayreuther Festspielhaus bekommt für seine Sanierung 84,7 Millionen Euro.
Überall wird gespart – in Bayreuth wird: geklotzt. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seiner Bereinigungssitzung beschlossen, weitere 84,7 Millionen Euro für die Sanierung des Festspielhauses auf dem Grünen Hügel zur Verfügung zu stellen. Katharina Wagner hat sich erleichtert gezeigt. „Es ist eine schöne Nachricht in schweren Zeiten für die Festspiele", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. „Wir sind sehr dankbar und erleichtert, dass es nun in großen Schritten mit der Sanierung weitergehen kann." Immerhin, das millionenschwere Klo vor dem Festspielhaus ist ja bereits saniert!

CORONA KLASSIK-TICKER III

Studie über die Verbreitung von Aerosolen im Orchester der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Universitätsklinikum Erlangen
Die Verbreitung von Aerosolen ist bei Hörnern erstaunlich gering, bei Querflöten hingegen besonders hoch. Das hat mein Kumpel aus alten Freiburger Studienzeiten, Prof. Matthias Echternach von der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Universitätsklinikum Erlangen herausgefunden. Über seine Ergebnisse habe ich mich mit ihm unterhalten. +++ Das Konzerthaus in Berlin hat es vorgemacht: Es stellt den Saal in Corona-Zeiten kostenlos für Künstler zur Verfügung, nun zieht der MDR nach und verschenkt „freie Sendezeit für freie Künstler“ – bitte mehr davon! +++ Der Bundeswettbewerb Gesang findet in Berlin statt. Gut so, schreibt Fredrik Hanssen im Tagesspiegel, ein Hoffnungsschimmer für die „ausgebremste Generation“ wie den 27-jährigen Frederic Jost.

Grütters geh!

Staatsministerin Monika Grütters
So langsam wird es wirklich peinlich. Monika Grütters, monatelang abgetaucht, hat jegliche Hilfe für KünstlerInnen dem Wirtschaftsminister überlassen – aber jetzt ist sie wieder da. Mit einem Interview im Feuilleton-Fachblatt „BUNTE“. Im Ernst! Und was hat sie zu sagen? Dass SIE (in Buchstaben S-I-E) derzeit nicht gut schläft. "Mir blutet das Herz, viele Künstler sind verzweifelt", sagte Grütters, "da schlafe ich erstmals in meinem politischen Leben wirklich schlecht." Die Not könne mit staatlichen Geldern nur gelindert werden, sagte die CDU-Politikerin. Das Grundproblem werde jedoch nicht gelöst. Dass Kultur beim Schnüren der Hilfspakete als nicht systemrelevant eingestuft worden sei, habe sie als "maximal unsensibel" empfunden.
Viele KünstlerInnen, die seit März 2020 nicht schlafen können, haben dagegen wohl eher das Handeln der Kulturstaatsministerin Monika Grütters im letzten halben Jahr als „maximal unsensibel“ eingestuft. In Zeiten, da Kamingespräche am Telefon geführt werden, zitiere ich aus zweien dieser Gespräche mit hochrangigen Bundes-Kulturpolitikern. Beide sagten übereinstimmend, dass schon lange über Grütters Auswechslung debattiert werde, allein die anstehende Bundestagswahl – und die damit verbundenen Negativ-Schlagzeilen – würden diesen Schritt verhindern. Vielleicht schläft die Kulturstaatsministerin ja auch auf Grund ihrer Nach-Wahl-Perspektiven etwas schlechter (die Fledermaus, die sie auf dem Bild trägt, hat übrigens nichts mit Corona zu tun, sondern war Sinnbild für die Verzögerung des Einheitsdenkmals).

PERSONALIEN DER WOCHE

Wer Brigitte Fassbaender jemals besucht hat, weiß, dass diese Frau vollkommen in sich ruht, eine Karriere, in der sie einfach alles richtig gemacht hat. Und so kann sie nun auch glaubhaft und besonnen mahnen wie in der Süddeutschen, wo sie die Musik als Lebensmittel, ja als Medizin beschrieb: „Wir alle wissen, dass die Gesundheit das höchste Gut des Menschen ist. Aber gleich danach kommt die Kultur, kommen Musik, Literatur und Malerei, kommen Theater, Galerien und Museen, kommt das Lebensmittel, das für uns alle unverzichtbar sein sollte. Möge die Missachtung mit der Pandemie ein Ende haben.

+++ Neuer Präsident des Deutschen Bühnenvereins und damit Nachfolger von Ulrich Khuon wird Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda. Mit Blick auf die demnächst sicherlich anstehende Frage nach dem Kulturetat und der finanziellen Zukunft der Bühnen sagte er dem Deutschlandfunk: „Geschichten sind die Art und Weise, wie wir Sinn erleben.“ Wenn man das vermittle, falle alles andere leichter: „Insofern muss das immer der erste Schritt sein: vom Inhaltlichen her kommen und dann die konkreten strukturellen Themen angehen. +++ Die Dokumentarfilmerin Wiebke Pöpel feiert in ihrem Film „My Way“ Helmut Lachenmann zu dessen 85. Geburtstag – sehenswert! +++ Die Wiener Zeitung nennt es etwas reißerisch „Reality Doku“, gemeint ist ein TV-Fünfteiler mit Riccardo Muti: „‚Riccardo Muti Academy‘ heißt die von Timvision produzierte Reality-Doku, die ab 11. Dezember ausgestrahlt wird. Zwei Wochen lang haben Videokameras den Maestro bei den Proben mit seinem Jugendorchester Luigi Cherubini sowie bei der Wahl von vier jungen Dirigenten für die Italian Opera Academy gefilmt, die Muti 2015 in seinem Wohnort, der Adria-Stadt Ravenna, gegründet hat.“ +++ Die Wiener Philharmoniker werden das Neujahrskonzert im Zweifel auch ohne Publikum aufnehmen.

UND SONST, HERR BRÜGGEMANN?

War das eine äußerst spannende Woche, vor allem auf Grund des im letzten Newsletter nur kurz angerissenen Themas, wer inzwischen eigentlich die Macht im Klassik-Betrieb hat. Ich durfte auf unterschiedlichen Ebenen erleben, wie jene, die noch meinen, mächtig zu sein, ihre Macht nutzen, wenn sie und ihre Wege plötzlich in Frage gestellt werden. Keine Angst: Wir bleiben aufrichtig, auch gegen den Wind und freuen uns auf eine Fortsetzung dieses Themas – zunächst einmal in informellen Debatten, und bald sicherlich auch konstruktiv im öffentlichen Meinungsaustausch. Was wir alle, gerade in dieser Zeit, nicht vergessen sollten: Unser Klassik-Boot ist ziemlich klein. Aber das darf nicht bedeuten, dass wir in langweiligem Opportunismus an einem Strang ziehen müssen. Im Gegenteil, unsere spannenden und würdigen Debatten über Gegenwart und Zukunft der Musik können ebenfalls begeistern und für die Musik werben. Am Ende arbeiten wir alle für unsere Leidenschaft – für die Musik. Umso mehr freuen mich die vielen Zuschriften auf jeden Newsletter. Neben allerhand wunderbaren Worten (danke!) haben mich dieses Mal auch einige wache Augen korrigiert (ebenfalls: danke!): Versehentlich habe ich letzte Woche Alexander Shelley zum amtierenden Chefdirigenten der Nürnberger Symphoniker gemacht – wie konnte ich nur? Mea culpa, lieber Kahchun Wong!

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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