KlassikWoche_RGB_2020-09

Philharmonischer „Spritzer", Thielemann schüttet den Rubikon zu, und Gerhaher hadert mit dem Gericht

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit einem handzahmen Maestro, einer angriffslustigen Diva, einer genialen Oboe und einigen philharmonischen Piksern.

VERWALTUNGSGERICHT SCHMETTERT GERHAHER AB

Wie an dieser Stelle bereits vermutet, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Klage gegen die "Untersagungen von Veranstaltungen und die Schließung von Kultureinrichtungen" durch die Initiative „Aufstehen für die Kunstnun abgewiesen. Es gäbe keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken, heißt es. Bariton Christian Gerhaher, nannte die Begründung „hanebüchen“ und ließ wissen: „Hier geht es doch nicht um so etwas wie kulinarischen Genuss. Es kann nicht sein, dass Kunst und Kultur unabhängig vom Publikum gedacht werden. Die Rolle der Kunst wird von den bayerischen Gerichten völlig falsch beurteilt. Die Kunst wurde hier in ihrem Wesen nicht begriffen.
Nun geht das alte Spiel weiter: Die AntragstellerInnen werden ein Hauptsacheverfahren anstreben sowie den Weg nach Karlsruhe bzw. zum EuGH „erwägen“ – schon wieder sehr viel Konjunktiv. „Aufstehen für die Kunst“ will das Urteil nicht akzeptieren und erklärt, dass die Kunstfreiheit in Deutschland „schwer angegriffen“ sei: „Wir streben daher eine verfassungsrechtlich gründliche Befassung an.“ Na denn.

THEATERNETZWERK.DIGITAL

Statt zu klagen, könnte man die Krise auch konstruktiv nutzen. 15 Theater aus Deutschland und Österreich haben das theaternetzwerk.digital gegründet. Die beteiligten Häuser – zu denen u.a. auch das Schauspiel Köln oder das Nationaltheater Mannheim gehören – planen, „an einer gesamt-theatral verstandenen digitalen Strategie zu arbeiten und sehen den digitalen Kulturwandel und die damit verbundenen Transformationsprozesse als Bereicherung ihrer Arbeit". Sie wollen „die künstlerisch sinnvollen, technologischen Möglichkeiten im physischen Kopräsenzraum erforschen und die digitalen und virtuellen Räume mit den Mitteln der Kunst aktiv und selbstbestimmt gestalten“. Überfällig – und: notwendig!

HENZE-VILLA ZUM VERKAUF

Ich war einmal zu Gast in der Villa in Marino bei Rom, in der Komponist Hans Werner Henze gemeinsam mit seinem Lebenspartner Fausto gewohnt hat. Für mich eine legendäre Begegnung mit Badminton-Pause, Swimmingpool und einem absurd langen Gespräch über Gott, Fidel Castro, Adolf Hitler, die Oper, Adorno, Max Frisch, Ingeborg Bachmann und die Welt. Eigentlich wollte Henze, dass die Villa nach seinem Tode im Jahre 2012 in eine Stiftung für Nachwuchsmusiker verwandelt wird. Das Projekt ist aber nicht ausfinanziert. Inzwischen ist klar: Weder die Regierungen von Italien noch jene von Deutschland springen ein. Die Villa wird wohl auf dem privaten Markt verkauft werden. Schade.

PERSONALIEN DER WOCHE I

So zufrieden habe ich Christian Thielemann schon lange nicht mehr erlebt wie in seinem Interview-Marathon rund um sein Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. In einer (übrigens sehr gelungenen) Übertragung des BR plauderte er ausgelassen mit dem Kollegen Maximilian Maier, und Markus Thiel vom Münchner Merkur erklärte der Dirigent auf die Frage nach dem Zoff in Dresden: „Ach, wissen Sie, in der jetzigen Zeit können sogar Saulusse zu Paulussen werden. Adenauer sagte immer, ‚man muss jönne könne‘. Ich habe keine Lust mehr auf Auseinandersetzungen, das Leben ist gerade merkwürdig genug geworden, wie wir sehen. Ich bin jetzt auf dem Toleranz-Trip.

CRESCENDO-Podcast: Hidden Secrets of Classical Music
Detektivgeschichten aus der Welt der Klassik
Lieber Christian Thielemann – schön, wenn man einen Rubikon auch mal wieder zuschütten kann! Das neue Entspannt-Sein steht Ihnen jedenfalls sehr gut! +++ Ein 238 Jahre altes Manuskript von Wolfgang Amadeus Mozart ist in Berlin für 130.000 Euro versteigert worden. Das Schriftstück enthält eine Violinstimme für zwei Orchestertänze und Entwürfe eines seiner berühmtesten Konzerte: Es ging an einen Privatmann aus den USA, offenbar konnten oder wollten europäische Museen da nicht mehr mitbieten. +++ Die Donaueschinger Musiktage bekommen eine neue Künstlerische Leitung. Am 1. März 2022 übernimmt die Musikwissenschaftlerin und Kuratorin Lydia Rilling den Posten von Björn Gottstein.

PHILHARMONISCHE SPRITZER

Wir in Deutschland impfen die Alten, wir impfen Menschen aus der Medizin, und wir impfen Lehrkräfte – in Österreich werden derweil auch die Wiener Philharmoniker geimpft. Wie sich nun herausgestellt hat, wurden 95 von ihnen „vorgereiht“. Und weil das rauskam (einige Musiker haben ihre Impfung in sozialen Medien Geimpft!), tobt nun eine Debatte. Als „Schlag ins Gesicht“ aller anderen Künstler hat die IG Freie Theaterarbeit die Impf-Vorreihung der Philharmoniker gebrandmarkt. Die Stadt Wien zeige damit, „dass sie Menschen - und Kunst - in mehreren Klassen denkt und unterstützt“. Der Vorstoß der Philharmoniker könnte am Ende ein Eigentor für das Orchester werden, zumindest, wenn es weiterhin so angefressen argumentiert, wie Geschäftsführer Michael Bladerer. Der findet dass es sich um eine „Neiddebatte“ handle. Er verweist dabei auf die vergangen Filmproduktionen der Philharmoniker: „Wer sonst in diesem Land hat kulturell so etwas geleistet? Da gibt es einen großen Abstand zu allen Institutionen. Das können nur wir." Nun ja: Fakt ist, der Großteil der Philharmoniker-Filmproduktionen landete am Ende nicht mitten in der Gesellschaft, sondern hinter der Bezahlschranke von „Fidelio“. Erstaunlich auch, dass die Wiener Philharmoniker offensichtlich nicht wahrgenommen haben, dass andere Orchester von Berlin bis Bielefeld von Klagenfurt bis Linz – und selbst Ensembles in Wien – in den letzten Monaten vielleicht etwas näher am Publikum waren als sie selber. Bladerers Behauptung „Wir machen das für die Menschen in diesem Land. Damit sie, wenn sie den Fernseher aufdrehen, noch Kultur erleben können. Sonst hätten sie nämlich gar nichts", beschwört ein Selbstverständnis, das nur wenig mit der Realität zu tun hat, und das nach Corona vielleicht auf den Prüfstand gehört. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Klassik dürfte all das nicht unbedingt fördern. Die Wiener Symphoniker schreiben derweil auf ihrer Facebook-Seite: "Wir machen in unserer Kunst keinen Unterschied zwischen den Menschen, sie gilt allen Menschen gleichermaßen. Auch deshalb lehnen die Wiener Symphoniker eine Bevorzugung innerhalb des vorgegebenen Impfprozess ab und haben sich auch nie darum bemüht." Was bislang fehlt: ein Statement der Politik!

DUDAMEL IN PARIS

Gustavo Dudamel wird Nachfolger von Philippe Jordan (inzwischen Musikdirektor an der Wiener Staatsoper) an der Opéra national de Paris. In seiner ersten Ansprache berief er sich auf Venezuelas Musik-Denker José Antonio Abreu, der seine Liebe zur Oper entfacht habe. Das sorgte in Frankreich für gemischte Begeisterung. Abreu und Dudamel pflegten eine intensive Nähe zu Venezuelas Diktator Hugo Chávez. Eine Nähe, die immer wieder zu Streitereien mit politisch aktiven MusikerInnen wie etwa der Pianistin Gabriela Montero geführt hat. Dudamel gab bei seiner ersten Rede bekannt, dass er ein Ballett des britischen Komponisten Thomas Adès in Auftrag geben wird.

Wie schafft man es, sich von Corona nicht unterkriegen zu lassen?
Arnt Cobbers fragt nach. Bei Ning Feng und Maximilian Schnaus.

ROLLENBILDER UND VERTEIDIGUNGEN

Wie kann man die Macht der Allein­-Inten­danz brechen? Das fragt sich die taz und führt die erste weibliche Doppelspitze mit Eva Lange und Carola Unser am Hessischen Landestheater in Marburg als Beispiel einer neuen Theaterstruktur an. Gut so! Auch, wenn sich der Text ein wenig liest, als wären Männer immer und überall nur machtgeile „Choleriker“. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Intendantinnen wie die designierte Leiterin der Wiener Volksoper Lotte de Beer Verträge von allein erziehenden Sägerinnen-Müttern mindestens ebenso erbarmungslos kündigen wie ihre männlichen Pendants. Dazu passt vielleicht noch das Endlos-Editorial von Bremens Intendant Michael Börgerding. Der nimmt darin Regisseur Armin Petras in Schutz, der mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert ist. Der Schauspieler Ron Iyamu hatte in seiner Diplomarbeit über die Proben von „Dantons Tod“ in Düsseldorf berichtet. Petras habe ihn mehrfach als „Sklaven“ angesprochen, also eben nicht mit seinem Rollennamen „Toussaint Louverture, ein ehemaliger Sklave“. Börgerding ordnet die Vorwürfe nun ein und legt seine Hand für Petras ins Feuer. Auch wenn der Text etwas dramaturgenhaft und sperrig daherkommt – er ist lesenswert, weil er immerhin eines tut: abwägen, einordnen und erklären. Was im Feuilleton in Zeiten grundlegender Veränderungen nicht mehr immer selbstverständlich ist.

PERSONALIEN DER WOCHE II

Sängerin Elīna Garanča in Österreichs Quoten-Satire-Talk zu Gast, bei „Willkommen Österreich“. Danach schnatterte Wiens Boulevard: „‚Kann mir nicht helfen, aber irgendwie kommt die total unsympathisch rüber', lautet der Top-Kommentar auf Facebook.“ Echt? Ich fand Garanča in ihrer herrlichen Zickigkeit wunderbar: So jongliert man perfekt mit blöden Fragen. Hier das Video zum Nachschauen. +++ Der Niederländer Hein Mulders soll neuer Intendant der Kölner Oper werden. Eine Findungskommission habe sich für ihn ausgesprochen, teilte die Stadt Köln am Montag mit. Derzeit ist Mulders in Essen als Intendant für die Sparten Aalto-Musiktheater, Essener Philharmoniker und Philharmonie Essen verantwortlich. Zuvor war der 58-jährige Niederländer künstlerischer Leiter der Nederlandse Opera in Amsterdam. +++ Volksbarde Heino will seinen Exkurs in die Klassik, einen Abend mit Liedern von Brahms und Beethoven, einen „Deutschen Liederabend“ nennen. Es müsste „Deutsches Lied“ heißen, erwiderte Michael Becker, Intendant der Tonhalle in Düsseldorf, und weigerte sich, die Plakate aufzuhängen. Darauf ist Heino vor einer deutschen Mega-Flagge zu sehen: Schwarz wie seine Sonnenbrille, rot wie seine Lippen und golden wie sein Haar. Heino schmetterte zurück: Er lasse sich das Deutsche nicht verbieten und bekam Rückendeckung von Düsseldorfs Bürgermeister. Nun muss Michael Becker die Plakate aufhängen – das wird er sicher nicht mit deutschem Pattex tun. +++ Pianist Martin Stadtfeld schreibt im Cicero ausführlich über seine Corona-Position: “Mit Ansichten, die gestern noch bürgerliches Maß und Mitte symbolisierten, sieht man sich in der Corona-Krise plötzlich an den Rand gedrängt. Das führt zur Entfremdung zwischen dem Staat und Teilen derer, die bislang als dessen repräsentatives Bürgertum galten“, sagt er.

UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es? Vielleicht hier? Eigentlich habe ich meinem Freund Klemens versprochen, aufzuhören mit dem Igor-Levit-Ding. Aber dann hat mir mein Ex-Kritiker Arno Lücker doch noch einen Link geschickt – der exklusive Vor-vor-vor-Abdruck von Levits Autobiografie mit dem (wirklich wahren) Fakt, wie Levit als Student versuchte, der Jungen Union Hannover beizutreten, und mit einem ersten Kapitel, das so beginnt: „Ein Samstag im April 2021, sehr später Vormittag. Igor Levti ist müde. Sehr sehr müde. Sehr sehr sehr müde. Sein rechter Mäuserich-Arm schmerzt. Wieder zu viel getwittert. Der linke Arm auch. (Vom vielen Käsefressen). Es ist vielleicht der beste Tag, um mit Kaviarspielchen aufzuhören." Mehr gefällig – gibt es hier.

Und wirklich positiv? Der Oboist Albrecht Mayer hat in der letzten Woche immer wieder auf die Not von KünstlerInnen und Institutionen aufmerksam gemacht. „Wir haben nicht mal einen dritten Weltkrieg gebraucht, um unsere Kultur zu zerstören“, erklärte er der „Welt". Ich habe derweil seine neue Aufnahme mit Werken von Mozart gehört – und dachte: Es ist an der Zeit, über Musik zu reden. Denn die ist großartig! Hier unser Telefonat über Mozart, die Stimmung bei den Berliner Philharmonikern und über die Wahl von Kirill Petrenko: „Wenn in 30 Jahren herauskommt, wie das wirklich abgelaufen ist, werden die Leute sich die Haare raufen oder schallend lachen.
In diesem Sinne

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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