KlassikWoche_RGB_2020-09

Letzte Gefechte in Bayreuth, Wien und Hamburg

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit grundsätzlichen Richtungs-Entscheidungen in Bayreuth, in Hamburg und in Wien.

Letzte Gefechte in Bayreuth

Kulturstaatsministerin Claudia Roth
Was für ein giftig geiferndes Greisentheater! Ja, nein – vielleicht. Nicht einmal Klarheit schafft der Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde der Bayreuther Festspiele, Georg von Waldenfels (78!), ob sein Verein die Zuwendungen an die Festspiele nun in Frage stellt oder nicht (er sagt: „nein!“, Protokolle sagen: „ja!“). Angeblich geht es um eine Million Euro, die weniger fließen soll. Ein Grund könnte sein: Der Gesellschaft und ihrem Führer gefällt nicht, dass die Festspiele Anschluss an die Realitäten unserer Zeit suchen. Ein Festspiel-Jahr ohne Christian Thielemann, ein Parsifal mit Augmented Reality, und dazu noch mit zwei Frauen im Graben (Oksana Lyniv und der überall gefeierten Nathalie Stutzmann, die nicht nur für Alex Ross heiße Kandidatin als Gustavo-Dudamel-Nachfolgerin in LA ist) – das ist dem einen oder anderen Wagner-Gläubigen offensichtlich zu viel Normalität. Und dann steht ja auch noch Katharina Wagners Vertragsverlängerung an – ein gutes Druckmittel, denken die Waldenfels-Boys, um Druck aufzubauen und endlich ein „Opera-country for old men“ zu errichten. Wie klug all das wirklich ist, wird sich zeigen.
Ich könnte mir vorstellen, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth nie so klar geworden ist, mit wem sie in eine Festspiel-Zukunft gehen will, die offen ist, divers, die sich einem breiten Publikum öffnet und gleichzeitig neue Perspektiven für musikalische Qualitäten eröffnet. Wenn dann noch der Chef des Deutschen Musikrates, Christian Höppner (67!), sich via Twitter einmischt und poltert: „Wagner Festival am Scheideweg: Christian Thielemann muss wieder eine gestaltende Rolle spielen“, weiß man nicht so genau, ob er damit nicht allen Beteiligten einen Bärendienst erweist. Zur Erinnerung: Der Musikrat ist der Club, der in seinen Magazinen zwar für Vielfalt wirbt, aber eine Doppelseite mit weitgehend alten, weißen Männern abbildet. Die Zukunft der Musik wird – das ist sicher – anders aussehen. Aber was sage ich, ich bin ja nur ein alter „Hofberichterstatter“ :-). Probleme gibt es übrigens auch an anderer Stelle: Nachdem Forschungsgelder für die Veröffentlichung der 10.000 Wagner-Briefe gestoppt werden sollen, gibt es inzwischen eine Petition, die unter anderem von Haus-Wahnfried-Direktor Sven Friedrich unterstützt wird.  

Neuanfang in Hamburg

Tobias Kratzer, Bettina Giese, Omer Meir Wellber, Carsten Brosda
Wir hatten es bereits berichtet, nun ist es auch offiziell: Der Dirigent Omer Meir Wellber wird neuer GMD in Hamburg und damit Nachfolger von Kent Nagano. Eine Personalie, die sowohl in Hamburg als auch in Wien, wo Meir Wellber gerade als Chefdirigent an der Volksoper begonnen hat, heftige Debatten ausgelöst hat (hier ein anderthalbstündiges Gespräch mit dem Dirigenten als Menschen). Ich persönlich finde die Ernennung mehr als konsequent. Auch über den designierten Hamburger Intendanten, Regisseur Tobias Kratzer, wird hausintern offensichtlich schon viel gemunkelt. Ein Zeichen, dass eine neue Generation von Opernleitern vielleicht auch neu denkt und Altes in Frage stellt.
Ähnliches ist derzeit schon am Theater an der Wien zu beobachten. Neulich habe ich den Intendanten Stefan Herheim (für einen zukünftigen Podcast) getroffen, in dem er mir unter anderem erklärte, es sei an der Zeit, Oper nicht mehr aus den Zwängen der Institution heraus zu denken, sondern die Organisation eines Hauses nach den künstlerischen Impulsen zu strukturieren, die man setzen wolle. Neue Opern-Strukturen zu schaffen, Strukturen, die der Kunst dienen, das ist bekanntlich ein dickes Brett – gut so, dass daran gleichzeitig in Wien und Hamburg gebohrt wird!           

Österreich kämpft für Radio-Orchester

ORF-Radio-Symphonieorchester
300 Millionen Euro soll der ORF einsparen – und denkt als erstes: an sein Orchester, das RSO Radio-Symphonieorchester Wien von Marin Alsop. Das einzige Rundfunkorchester der Alpenrepublik. In Deutschland wird man da ganz genau hinschauen, hatte ARD-Intendant Tom Buhrow doch ebenfalls kürzlich über Einsparpotenzial bei unseren Radio-Orchestern nachgedacht (hier mein Kommentar dazu). In Österreich haben die bekannten Reflexe sofort eingesetzt: PolitikerInnen wollen für das Orchester kämpfen (es aber im Falle von Wiens Kulturpolitikerin Veronica Kaup-Hasler nicht übernehmen), KünstlerInnen unterschreiben Petitionen. Was fehlt: eine Antwort auf die Frage, ob man das Orchester in den letzten Jahren nicht einfach auch aus Bequemlichkeit nicht richtig positioniert hat. 60.000 Unterschriften für das RSO stehen gegen Millionen Menschen, die das Ensemble mit ihren Fernsehgebühren (von Vorarlberg bis ins Burgenland) zahlen und oft nicht wissen, warum eigentlich. Warum ein Radio-Orchester in Wien, neben Symphonikern und Philharmonikern? Warum ist es im Heimat-Sender, gerade im TV, so selten vertreten? Und, ja: Die Neue Musik, die es aufführt, brauchen wir die wirklich? Es sind diese Grundsatzfragen, die schon vor Jahren – Tag für Tag – hätten beantwortet werden müssen. 
Wann lernen wir im Kampf für unsere Kulturinstitutionen endlich, dass sie auch dort verankert sein müssen, wo Menschen sie nicht nutzen – und dennoch für sie bezahlen? Dass die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit von Kultur längst vorbei ist.  Noch immer scheint es ein Automatismus zu sein, dass ein Orchester wie das RSO natürlich von Fernsehgeldern finanziert wird. Wenn dieser Rückhalt nicht mehr eingelöst wird, dann ist es wirklich zu spät. Am 23. März will der ORF über weitere Schritte beratschlagen. Bis dahin ist Lamentieren eine Möglichkeit – rauszugehen und den Menschen den Grund für die eigene Existenz um die Ohren zu hauen, wäre die bessere Lösung! Leseempfehlung zu diesem Thema aus der Frankfurter Rundschau: die Kultur-Spar-Debatte im Wahlkampf um das Frankfurter Oberbürgermeisteramt.  

Russlands Krieg

Yuri Bashmet und Wladimir Putin
Ich frage mich, ob die Verantwortlichen beim SWR oder jene europäischen Konzerthaus-Chefs, die weiterhin auf die Zusammenarbeit mit Teodor Currentzis setzen, in den Tagen des Jahrestages der Invasion Russlands in die Ukraine auch nach Sotschi geblickt haben: Dort spielte Currentzis mit seinem Orchester musicAeterna beim Festival von Putin-Geiger Yuri Bashmet (er findet: „Russland tut das Richtige und wird gewinnen“). Bis heute gehören auch Putins Kriegslied-Liedermacher Alexander Gainutdinov und Artem Volkov zum Chor-Ensemble, bis heute keine Entschuldigung für die Ausrutscher auf der Deutschland-Tournee, bis heute keine Distanzierung durch den Chefdirigenten. Wie man derartige Propaganda-Engagements noch als neutral einstufen kann, kann ich nicht verstehen. 
Wie Klarheit gehen kann, zeigte nicht nur Geigerin Lisa Batiashvili, die ihre Ukraine-Solidarität mit einer Aktion auf dem Münchner Odeonsplatz zeigte, sondern seit einem Jahr auch die MET in New York von Peter Gelb, am 24. Februar mit einem großen Erinnerungskonzert zum Jahrestag der Invasion Russlands unter anderem mit Dmytro Popov, Vladyslav Buialskyi und Golda Schultz. Auf die Kritik von Bass Ildar Abdrazakov, Kunst sollte neutral bleiben, antwortete Gelb: „Diese Künstler haben sich sehr wohl positioniert – leider auf der falschen Seite. Es tut mir leid, dass er wie viele andere Russen so desinformiert ist und nicht wirklich versteht, was gerade in der Welt passiert.“ Ein ausführlicher Text über den Sänger von Stephan Burianek: hier. Auch Welt-Journalist Manuel Brug findet – mit Blick auf Netrebko und Currentzis, dass Indifferenz keine Option mehr sei: „In den kommenden Monaten wird sich zeigen, (..) wie sehr die Musik weiterhin sich für unpolitisch dünken und damit glauben mag, durchzukommen. Es ist ein Tanz auf des Kriegsmessers Schneide.“ Übrigens: Was wir seit einem Jahr über die ukrainische Musik gelernt haben, das habe ich versucht, im WDR zu erzählen.

Neue Oper für New York

Das ist ein Rekord: Ein Drittel aller Aufführungen der nächsten Saison an der Met wurde von noch lebenden KomponistInnen geschrieben. Die Spielzeit wird im September mit Jake Heggies Dead Man Walking eröffnet – es folgen Anthony Davis’ X, The Life and Times of Malcolm X, Daniel Catáns Florencia en el Amazonas und John Adams El Niño.

Personalien der Woche

Wir haben es mit allerhand Stellenwechseln bei DirigentInnen zu tun diese Woche: Markus Poschner wird ab 2025 neuer Chefdirigent des Sinfonieorchesters Basel. Der 52-Jährige erhält als Nachfolger von Ivor Bolton einen Fünfjahresvertrag, wie das Sinfonieorchester Basel am Freitag mitteilte. Der in München geborene Musiker leitet derzeit das Orchestra della Svizzera italiana in Lugano und das Bruckner Orchester im österreichischen Linz.
Daniel Harding wird Musikdirektor des Youth Music Culture The Greater Bay Area im südchinesischen Guangzhou. Ein Engagement, das einer erwarteten Verpflichtung für das Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia nach Rom nicht im Wege stehen wird. +++ „Ich habe keinen Tropfen russischen Blutes in mir“, sagt Pianist Evgeny Kissin in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er habe Russland mit 20 Jahren auch deshalb verlassen, weil es „eines der antisemitischsten Länder der Welt“ sei. 

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: In der neuen Folge meines Podcasts Alles klar, Klassik? dreht sich dieses Mal alles um die Zukunft der Kirchenmusik. Welche Rolle spielt sie in der musikalischen Bildung? Und warum steckt sie in der Krise? Kirchenmusik verbindet die Menschen. Aber die Grundversorgung ist in der Krise. Katholische und protestantische Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker hadern mit dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Institution Kirche.
Der Diözesan-Musikdirektor in Passau, Marius Schwemmer debattiert, welche Kirche die Musik braucht – und warum die Gemeinschaft der Singenden oft stärker ist als die Gemeinschaft der Gläubigen. Um musikalisches Repertoire für den Gottesdienst, um die Grundversorgung in den Gemeinden und den musikalischen Auftrag der Kirche geht es im Gespräch mit Eckhard Manz, Kantor in Kassel und Organist mit ECHO-Klassik-Auszeichnung. Am Anfang blickt mdr-Kirchenmusik-Experte Claus Fischer auf die allgemeine Kirchenmusiklandschaft und erklärt die unterschiedlichen Erwartungen der katholischen und der protestantischen Kirche. Viel Spaß beim Reinhören: Hier als Podcast für alle Formate, für Spotify oder apple.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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