KlassikWoche_RGB_2020-09

Kriegen wir wirklich nicht genug?

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit einem kritischen Blick auf Apples Streaming-Dienst, empfindlichen Strafen in Zürich - und einem Künstler, von dem wir alle nicht genug bekommen können, oder?

Berliner Staatsopern-Poker

Elisabeth Sobotka
Intendant Matthias Schulz hat die nächste Saison der Berliner Staatsopern vorgestellt. Erstaunlich: Daniel Barenboim wird kein Opern-Dirigat in Berlin übernehmen, aber im November einen Zyklus mit den Brahms-Sinfonien dirigieren – in den USA. Alle Augen wenden sich eh auf die designierte Intendantin, Elisabeth Sobotka. Wie viel Mitsprache hat sie bei der Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin von Barenboim? Die Ergebnisse der Berlin-Wahl spielen sicherlich Christian Thielemann in die Hand.
In der kommenden Saison werden aber auch Joana Mallwitz, Elim Chan, Marie Jacquot oder Simone Young zu Gast sein. Ach ja, Anna Netrebko kehrt auch zurück an die Staatsoper – in Verdis Macbeth. Auf Twitter argumentierte die Staatsoper gegenüber Kritikern: „Anna Netrebko hat, soweit es ihr möglich ist, Flagge gezeigt, und ihr Handeln war im letzten Jahr konsequent.“ Der Flaggen-Vergleich ist vielleicht ein wenig missglückt, da man Netrebko hauptsächlich mit der Separatisten-Fahne im Donbas vor Augen hat. Aber, hey: Es sei ihr gegönnt.

Die Welt nach Apples Klassik-Service

Apple hat mich nach London eingeladen, und ich war zunächst mal beeindruckt: Es gibt nicht ein Logo in der neuen Firmenzentrale im Londoner Battersea-Kraftwerk (bekannt durch Pink Floyds „Animals“-Cover). Hier sollen sich alle wie zu Hause fühlen: Gläserne Besprechungs-Balkone, Holzwände, eine perfekte Wohnzimmer-Illusion am Arbeitsplatz. Und so funktioniert auch der neue Klassik-Streaming-Dienst von Apple, Apple Music Classical. Alles fühlt sich nach Mensch an, selbst tote Komponisten werden (etwas altbacken) zu lebendigen Bildern erweckt. Und klar, der Sound ist perfekt – zum Teil in hoch aufgelöstem 3D-Klang! Aber in Wahrheit ist hier natürlich ebenfalls jeder Pixel perfekt kalkuliert. An der Oberfläche sieht alles aus wie eine Kopie von IDAGIO, und Apples neues Klassik-Wohnzimmer könnte schnell zum Sarg für diesen Klassik-Streaming-Pionier werden. Außerdem zeigt Apple Music Classical, dass es in Zukunft auch eng für die Labels werden könnte. Berliner Philharmoniker oder Cleveland Orchestra produzieren schon lange selbst. Die Wiener Philharmoniker sind (neben den Berlinern und dem Concertgebouworkest) mit ihren Abo-Konzerten nun ebenfalls exklusiv bei Apple, auf dem Apple-Label Platoon. Streaming-Diensten ist es (anders als Labels) egal, was gestreamt wird, sie wollen nur, dass bei ihnen gestreamt wird. Umso erstaunlicher, dass die Deutsche Grammophon den neuen Apple-Service aktiv promotet (obwohl man sich gerade selber an einer Streaming-Plattform versucht hat).
Ach ja, Fragen werden am Londoner Wohnzimmertisch von Apple übrigens freundlich weggewischt: Ob der neue Service – so wie Apple Music und Spotify – jeden Track einmalig nach 31 Sekunden Spielzeit abrechnet (egal, wie lang er ist), oder so wie IDAGIO fair für Klassik-KünstlerInnen mit jeder gestreamten Sekunde? Wir können es nur erahnen. Wie sich der Klassik-Markt durch die neuen Klassik-Streaming-Dienste verändern wird, besprechen wir am Anfang der aktuellen Podcast-Ausgabe von Alles klar, Klassik? ausführlich.

Personalien der Woche I

Andrés Orozco-Estrada wird neuer Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Der 45-Jährige übernimmt ab 2025 die musikalische Verantwortung für das Gürzenich-Orchester und die Oper Köln und folgt damit auf François-Xavier Roth, der als Nachfolger von Teodor Currentzis zum SWR Symphonieorchester wechselt. Orozco-Estrada hatte letztes Jahr überraschend die Wiener Symphoniker verlassen.
Der Spanier Roberto González-Monjas wird neuer Chefdirigent des Mozarteumorchesters Salzburg. Er hat in Salzburg Violine studiert und sich auf internationaler Bühne sowohl als Geiger als auch als Dirigent einen Namen gemacht. +++ Nachfolger von Stephen Maddock wird als Geschäftsführerin des City of Birmingham Symphony Orchestra Emma Stenning. +++ Er sei eben ein schwules, jüdisches Känguru, das Opern inszeniere, schreibt Barrie Kosky in seiner Autobiografie, die in Wirklichkeit eher eine Erklärung seiner Opernkonzepte ist, findet Markus Thiel.

Klassik-Strategie des BR

Igor Levit
Wir hatten an dieser Stelle exklusiv über das Ende der Klassik-Sendung KlickKlack von Sol Gabetta und Martin Grubinger beim BR berichtet – der letzten ARD-Fernsehsendung zum Thema klassische Musik. Nun begründet der Sender die Entscheidung mit einer Ausweitung des digitalen Angebots und verweist auf den Podcast mit Pianist Igor Levit und auf das Interview mit Igor Levit in nachtlinie. Ey, BR, Eure private Liebe zu Igor Levit wird langsam ein wenig peinlich, zumal da ja nichts Neues kommt außer: „Ich bin gegen Rassismus, Antisemitismus und für den Erhalt der Natur!“ Das! Sind! Wir! Alle! Neulich habt Ihr auf Euren Social-Media-Kanälen sogar gepostet „Wir können nicht genug von Igor Levit bekommen – Ihr auch nicht?“ Eine der vielen kritischen Antworten lautete sinngemäß: Finde eine Liebe, die so groß ist wie jene des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu Igor Levit - unmöglich!

Strafen für Banker von „Putins Cellisten“

In Zürich wurden drei russische und ein Schweizer Banker auf Grund mangelnder Sorgfalt verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, nicht ausreichend geprüft zu haben, woher das Geld kam, das Putins Freund, der Cellist Sergei Roldugin, 2014 beim Schweizer Ableger der Gazprom-Bank einzahlte. Roldugin ist einer der Strippenzieher in Putins-Kulturnetzwerk, ebenfalls befreundet mit Hans-Joachim Frey, der einst den SemperOpernball ausrichtete und heute Intendant im russischen Sotschi ist. Roldugin organisierte Konzertprogramme im Brucknerhaus Linz, als Frey dort Intendant war (und tat das, wie Frey-Nachfolger Dietmar Kerschbaum erklärte, auch noch nach der Ära Frey auf Bitten des österreichischen Bundeskanzleramts unter Sebastian Kurz). So richtig aufgearbeitet wurde der russische Einfluss auf das Linzer Kulturnetzwerk bis heute nicht. Roldugin und seine Frau Irina Nikitina waren 1985 auch Taufpaten von Putins Tochter Maria. Nikitina war nach der Scheidung aktiv im Schweizer Kulturleben, organisierte unter anderen Diskussions-Veranstaltungen, an denen unter anderen Sergej Lawrow und Olaf Scholz teilnahmen und lebt heute in dritter Ehe mit einem Fernseh-Manager in Russland. Außerdem organisiert sie Musikwettbewerbe, an denen namhafte europäische KünstlerInnen teilnehmen. Roldugin spielte außerdem eine erhebliche Rolle bei den Panama-Papieren, wo Geldströme auf seinen Namen nachgewiesen werden konnten.
Die Strafen für die Bank-Manager in der Schweiz betragen zwischen 120 Tagessätzen à 400 Franken für einen Kundenberater und 180 Tagessätzen à 3000 Franken für den CEO der Bank. Die Beschuldigten legten Einspruch gegen das Urteil ein. Ach so: Auf meine Anfrage, wie der SWR sich positioniert, dass Teodor Currentzis nun auch in Wien unerwünscht ist, gab es keine Antwort mehr von Intendantin Sabrina Haane – gegenüber Kritik taucht sie unter. Stattdessen rollt sie aber ihren Abonnenten nun „den roten Teppich“ aus und bietet Currentzis-Karten bei den Pfingstfestspielen in Baden-Baden mit 15 Prozent Rabatt an! Wie würden SWR-Journalisten auf derartige Öffentlichkeitsarbeit anderenorts reagieren?

Personalien der Woche II

Florenz’ Ex-Intendant hat es gerade ungemütlich in Italien, nun soll Alexander Pereira nach Österreich schielen – Endstation Erl? +++ Franz Xaver Kroetz ist aus der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgetreten. Der Dramatiker und Schauspieler ärgert sich über den Festredner zum 75-jährigen Bestehen der Akademie: Chris Dercon. +++ Nachdem sich die Sängerin Sonya Yoncheva auf Twitter über einen Kritiker der New York Times aufgeregt hatte, gab sie nun bekannt, dass all ihre Social-Media-Kanäle in Zukunft von ihrem Team gepflegt werden. Vielleicht eine gute Entscheidung, um sich auf die Musik zu konzentrieren. +++ So richtig spannend war Kent Naganos erster Versuch mit einem „historisch informierten“ Wagner-Klang für mich nicht. Nun soll das Projekt bei den Dresdner Musikfestspielen weitergehen. Im Juni steht ein Konzert mit Rheingold auf dem Programm, dann folgen Jahr für Jahr die anderen Teile des Ringes. Musiziert wird auf historischen Instrumenten und gesungen im Sprechstil der Wagner-Zeit. Das Projekt unter Leitung von Intendant Jan Vogler und Dirigent Nagano soll Wagner-Experten und Interpreten aus aller Welt in Dresden zusammenbringen. +++ Ach ja, der Tannhäuser bei den Salzburger Osterfestspielen hat mich überhaupt nicht interessiert: Mich nervt die Romeo-Castellucci-Ästhetik, es gab – Gähn! – Jonas Kaufmann als Tannhäuser und Andris Nelsons als Dirigenten. Das Aufkochen einer alten Inszenierung eines uralten Intendanten. Nikolaus Bachler hat für viel Geld Recycling aufgetischt. Zum Glück hat Markus Thiel vom Münchner Merkur eine YouTube-Kritik gepostet: Die Sänger seien bei Castellucci lediglich „klangliche Sättigungsbeilage“, sagt er, ein „blasser“ Kaufmann sang im „ECO-Gang“. Tja, ob das nächstes Jahr mit Anna Netrebko als La Gioconda besser wird? Ich glaube, ich setze noch mal aus…
Die Frau ohne Schatten der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko in Baden-Baden war offensichtlich die bessere Wahl.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier! Im MDR berichtet Stefan Petraschewsky, dass das Publikum in Sachsen in die Theater zurückkehrt! Petraschewsky hat eine stichprobenartige Telefonrecherche an zehn (Stadt-)Theatern in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen unternommen. Zwei Dinge fallen auf, berichtet er: erstens, dass das Publikum sich oft erst an der Abendkasse und für ein bestimmtes Stück entscheidet; zweitens, dass Kitas und Schulen die Theaterangebote stark nachfragen. Tatsächlich scheint es an vielen Häusern einen kurzzeitigen Auslastungs-Anstieg gegeben zu haben, mein – ebenfalls stichartiger Blick auf Saalpläne – zeigt aber auch, dass der Aufwärtstrend leider noch sehr instabil ist.

Was sonst noch so passiert ist in der Klassik-Woche, das bespreche ich dieses Mal wieder im Podcast Alles klar, Klassik? mit Dorothea Gregor.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Osterwoche, der Newsletter setzt am Ostermontag aus. In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

P.S.: Ach so, dass ich als Berater der Salzburger Festspiele beginne, wie auf Facebook am 1. April bekanntgegeben wurde, war natürlich erstunken und erlogen, auch weil Markus Hinterhäuser nicht zur versprochenen Pressekonferenz im Café Bazar kommt.

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