KlassikWoche_RGB_2020-09

Wenn der Dirigent mit sich selber spielt und der Computer komponiert

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute dreht sich alles um Künstliche Intelligenz, schlechtes Benehmen und gefährlichen Nationalismus. Auch wenn der Newsletter digital verschickt wird: Geschrieben wurde er von mir natürlich wie immer mit der Hand und auf Büttenpapier.

Kein Benimm!

Es war – was sonst?– ein DEUTSCHER!, der die Wiener Staatsoper während einer La-traviata-Aufführung durch unflätige Zwischenrufe, provokantes Fotografieren und die Beleidigung der Sitznachbarn störte („Ich mache aus dir Hackfleisch!“). Nun kam es in Wien zur Verhandlung: Vier Monate auf Bewährung wegen Nötigung, außerdem lebenslanges Opernverbot für den pöbelnden Arzt.
Passend dazu ist ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, in dem britische TheaterbetreiberInnen sich darüber beschweren, dass das Benehmen des Publikums sich nach der Pandemie radikal verschlechtert habe. Eine „Netflix-Couch-Selbstverständlichkeit“ halte Einzug in die Theater: Alkohol, Zwischenrufe, Handy-Nutzung, selbst Hamburger würden während der Aufführungen gegessen. Na dann: Guten Appetit!

Künstliche Intelligenz in der Musik

Er ist das Superbrain für Künstliche Intelligenz (KI) und Musik, und Ali Nikrang vom Ars Electronica Futurlab in Linz und der Musikhochschule in München warnt: „Klassik-KünstlerInnen müssen sich mit der neuen Technologie auseinandersetzen, sich in die aktuelle Debatte einklinken. Wir Künstlerinnen und Künstler dürfen die Entwicklung der KI gerade in dieser Pionier-Phase nicht den kommerziellen Großunternehmen überlassen.“ Außerdem müsse man möglichst schnell Antworten auf Fragen des Urheberrechts finden, fordert Nikrang, der selber das KI-Kompositionsprogramm Ricercar schrieb.
Welchen Anteil haben ProgrammiererInnen, Schöpfer der Werke, mit denen die Datenbanken gefüttert werden und BenutzerInnen an der KI. Und vor allen Dingen: Warum ist die KI in der Musik komplizierter als bei Texten oder Bildern? Über all das spricht Ali Nikrang in der neuen Folge des Podcasts Alles klar, Klassik? (hier für Apple oder Spotify). Außerdem spricht Opernwelt-Redakteur Arno Lücker darüber, dass KI auch die Arbeit von Dramaturginnen und Dramaturgen, von musikalischer Lehre und Journalismus verändern wird. Die Bilder von Wagner, Mozart und Puccini an den Computern in diesem Newsletter wurden übrigens vom KI-Bildprogramm Wonder erstellt.

Italienische Kultur den Italienern?

Italiens Rechtsregierung unter Giorgia Meloni ist skeptisch über nicht-Italienische Kulturlenker im Lande. Kulturminister Gennaro Sangiuliano wurde kürzlich mit diesem merkwürdigen Statement zitiert: „Ich habe keine Vorurteile gegenüber ausländischen Managern an der Spitze unserer Kultureinrichtungen, einige habe ich kennengelernt, und sie haben ihre Sache sehr gut gemacht. Ich finde es aber eigenartig, dass Italiens zehn wichtigste Kultureinrichtungen, wie die Scala, das San-Carlo-Theater in Neapel, das Turiner Opernhaus, die Uffizien, das Römische Nationalmuseum, Pompeji und die Pinakothek von Siena unter ausländischer Leitung stehen.“
Derzeit kursiert das Gerücht, dass Scala-Intendant Dominique Meyer nicht über 2025 hinaus verlängert werden könnte - angeblich stünde der Chef der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt Rai, Carlo Fuortes, als Nachfolger bereit. Meyer bleibt indes sportlich: „Ich habe einen Ferrari neu hergerichtet und möchte noch gern damit fahren“, sagte der Intendant, der die Geschicke der Scala seit 2020 leitet. Ich bin ziemlich sicher, die neue italienische Kulturpolitik würde Globetrotter Verdi oder Puccini nicht wirklich gefallen!

Sitzengelassen

Diese Bilder der Richard Strauss-Tage in Dresden kursieren derzeit bei Twitter: ein gähnend leerer Zuschauersaal. Der Grund ist offensichtlich, dass Christian Thielemann seine Dirigate kurzfristig abgesagt hat. Das ist auch eine Art der Machtdemonstration gegenüber „seiner“ Staatskapelle, die nun merkt, wie sehr sie in der Vergangenheit auf ihn gebaut hat. Vor allen Dingen zeigen die Bilder aber, was für ein Publikum man sich in Dresden herangezogen hat: Wenn Thielemann nicht kommt, kommt es auch nicht. Das ist ein merkwürdiger Fame-Hunting-Snobismus.

Der Kurs der Berliner Philharmoniker

Frau ohne Schatten, Osterfestspiele Berliner Philharmoniker in Baden-Baden
Die Berliner Philharmoniker machen gerade sehr viel richtig. Nicht nur musikalisch, wie in ihren aktuellen, wirklich großartigen, weil schneidend, aber vollkommen unprätentiösen Schostakowitsch-Aufnahmen mit Kirill Petrenko, oder – glaubt man den Kritiken – mit einer musikalisch begeisternden Frau ohne Schatten in Baden-Baden.
Auch gesellschaftlich ist das Orchester ernsthaft, glaubwürdig und engagiert. Nun hat das Orchester die Patenschaft für das Kyiv Symphony Orchestra und das Youth Symphony Orchestra of Ukraine übernommen. Die Ensembles werden bei der Organisation von Auftrittsmöglichkeiten und der Beschaffung von Instrumenten unterstützt. Die Philharmoniker haben einen offensichtlich klaren Kompass: Ja, Schostakowitsch spielen ist gerade jetzt wichtig! Ebenso wie die klare Positionierung in den Wirren der Welt: für ukrainische MusikerInnen und – wie erst kürzlich aus Berlin erklärt – ohne Flirt mit Putins Klassik-Stars. Hier geht es zum 3Sat-Mitschnitt der Frau ohne Schatten.

Kurzer Blick nach Russland

Russland scheint für einige MusikerInnen wieder auf die Konzertliste zu rücken: In der Schweiz wird der Auftritt des Pianisten Konstantin Lifschitz, der auch Professor an der Hochschule Luzern ist, beim Putin nahen Transibirian Art Festival in Nowosibirsk zum Politikum. Alexander Rahbari spielt in Sankt Petersburg, Justus Frantz gibt seine Bande nach Russland nicht auf, Jordi Bernàcer dirigiert am Bolschoi, der Pianist Freddy Kempf spielt in Omsk, und auch der italienische Pianist Lorenzo Bagnati spielt in Russland. Mit dabei natürlich auch: Teodor Currentzis. Während Intendanten wie Louwrens Langevoort in Köln oder Matthias Naske ihm den Rücken kehren, weil sie gemerkt haben, dass Currentzis sich selbst gegenüber ihnen nicht erklärt, macht Salzburg-Intendant Markus Hinterhäuser weiter wie immer. Der Kleinen Zeitung erklärte er: „Anders als etwa bei Valery Gergiev sind mir bei Currentzis keinerlei Verbindungen zu Putin bekannt.“ Ach, Markus: Mal in den Aufsichtsrat des Orchesters schauen, und: Currentzis schweigt als Chef noch immer zu Wagner-Söldner-Likes, zur Beschimpfung westlicher Journalisten und zum Deutschland-Bashing seiner MusikerInnen. Aber, klar, man kann auch einfach den Kopf in den Sand stecken wie SWR-Orchester Chefin Sabrina Haane, die auf Nachfragen inzwischen einfach gar nicht mehr antwortet.
Martin Kienzl differenziert derweil bei Opern News die Verantwortung auch europäischer IntendantInnen, die vorbehaltlos KünstlerInnen wie Anna Netrebko einladen: Kienzl fragt Kai Uwe Laufenberg, Bogdan Roščić, Nikolaus Bachler, Dominique Meyer oder Matthias Schulz: „Gibt es noch einen moralischen Kompass, oder ist er uns bereits abhandengekommen? Angesichts dessen, dass es nach wie vor Intendanten gibt, deren Führungsstil vorgestrig autoritär ist, die bedenkenlose Künstler, die Gewalt befeuern oder #MeToo-Täter sind, engagieren, zweifelt man daran.“ Netrebkos Mann, Yusif Eyvazov, ist übrigens gerade zum neuen Intendanten der Oper in Aserbaidschan ernannt worden.

Personalien der Woche

Pussy Riot
Dem Wiesbadener Staatstheater gab die Punk-Band Pussy Riot wegen der Verpflichtung von Anna Netrebko einen Korb - mit einem Konzert im Wiesbadener Schlachthof wirbt sie nun für Unterstützung der Ukraine – eine klare Kampfansage auch gegen die Wiesbadener Intendanz. +++ Daniel Barenboim ist zurück: Die Barenboim-Said-Akademie in Berlin-Mitte hat jetzt ein Studierendenorchester. Barenboim höchstselbst dirigierte das Debütkonzert im Pierre Boulez Saal. Außerdem hat Berlin den Dirigenten zum Ehrenbürger gemacht.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier: In Berlin geht es wieder bergauf mit dem Ticketverkauf, meldet die Berliner Morgenpost: Das meistbesuchte Haus 2022 war der Friedrichstadt-Palast, es folgten die Berliner Philharmoniker und die Staatsoper Unter den Linden – die Deutsche Oper landete lediglich auf Platz vier. Ach ja, und wie perfekt Künstliche Intelligenz inzwischen ist, das hat der Dirigent Lorenzo Viotti neulich auf Instagram gezeigt. Wahrscheinlich hat er bei Wonder eingegeben: „Halbnackter Dirigent auf dem Bett, der mit sich selber spielt“ – das Ergebnis sehen Sie oben.

Und wenn Sie die aktuellen Klassik-Themen der Woche nachhören wollen: In der aktuellen Ausgabe von Alles klar, Klassik? debattiere ich einen True-Crime-Klassik-Fall, Darth-Vader-Unterhosen und allerhand andere, wichtige Dinge mit Dorothea Gregor vom Liz Mohn Center der Bertelsmann Stiftung (klicken Sie einfach auf das Bild des Podcasts unten).

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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